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„Schönberger Blätter
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Ernst Haeckel: Die
Lebenswunder, Volksausgabe,
Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1904-1906)
HIER der
gesamte Text des Buches „Die Weltwunder“ als PDF gescannt: http://caliban.mpipz.mpg.de/haeckel/lebenswunder/index.html
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(Vorwort 1904, S.III f.) jene tiefen
und unversöhnlichen Gegensätze zwischen Wissen und Glauben, zwischen wahrer
Naturerkenntnis und angeblicher „Offenbarung“;
…. ist eine Vermittlung nicht möglich: Entweder Naturerkenntnis und Erfahrung –
oder Glaubensdichtung und Offenbarung!;
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(Seite 1) … meine monistische
Erkenntnistheorie ... als die beiden einzigen sicheren Wege hatte ich
„Erfahrung und Denken – oder Empirie und Spekulation“ bezeichnet und dabei
betont, dass diese beiden gleichberechtigten Erkenntnismethoden sich
gegenseitig ergänzen, dass sie allein durch die Vernunft uns zur Wahrheit
führen. Dagegen hatte ich zwei andere, vielbetretene Wege, die angeblich direkt
zur tieferen Erkenntnis leiten, nämlich „Gemüt und Offenbarung“, als
irreführend zurückgewiesen; beide widerstreiten der „reinen Vernunft“, indem
sie den Glauben an Wunder verlangen.;
(2ff) (Gustav Kirchhoff, Entdecker der Spektralanalyse): „Die Aufgabe der
Wissenschaft ist, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben,
und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.“. Diese
Weisung hat nur dann einen Sinn, wenn man dem Begriffe „Beschreibung“ eine ganz
andere Bedeutung unterlegt, als üblich ist, d.h. wenn die „vollständige
Beschreibung“ zugleich eine Erklärung enthält. Denn alle wahre Wissenschaft
geht seit Jahrtausenden nicht auf einfache Kenntnis durch Beschreibung der
einzelnen Tatsachen, sondern auf deren Erklärung durch die bewirkenden
Ursachen. Freilich bleibt deren Erkenntnis immer mehr oder weniger unvollkommen
oder selbst hypothetisch ...
Das Streben nach möglichster Genauigkeit und Objektivität der Beobachtung lässt
vielfach den wichtigen Anteil übersehen, den die subjektive Geistestätigkeit
des Beobachters an ihrem Ergebnis hat; das Urteilen und Denken seines Gehirns
wird gering geschätzt gegenüber der Schärfe und Klarheit seines Auges. Vielfach
ist das Mittel der Erkenntnis zum Zweck geworden. Bei der Widergabe des
Beobachteten wird häufig die objektive Photographie, die alle Teile des Bildes
gleichmäßig wiedergibt, höher geschätzt als die subjektive Zeichnung, die nur
das Wesentliche hervorhebt und das Unwesentliche fortlässt; und doch ist in
vielen Fällen ... die letztere viel wichtiger und richtiger als die erstere.
...
In dem modernen Kampfe um die Deszendenztheorie ist nicht selten der Versuch
unternommen worden, die Entstehung neuer Arten experimentell zu beweisen oder
zu widerlegen. Dabei wurde ganz vergessen, dass der Begriff der Art oder
Spezies nur relativ ist und dass kein Naturforscher eine befriedigende absolute
Definition dieses Begriffes geben kann. Nicht minder verkehrt ist es, das
Experiment auf historische Probleme anwenden zu wollen, wo alle Vorbedingungen
für sein Gelingen fehlen.
Geschichte und Tradition.
Die Sicherheit der Erkenntnis, die wir empirisch durch Beobachtung und
Experiment gewinnen, ist direkt nur möglich in der Gegenwart. Dagegen sind wir
bei der Erforschung der Vergangenheit auf andere Methoden der Erkenntnis
angewiesen, die minder zuverlässig und zugänglich sind, auf Geschichte und
Tradition. ...
Trotzdem bleiben hier stets unzählige Pforten des Irrtums offen, da diese
Urkunden meist unvollständig sind, und da ihre subjektive Deutung oft ebenso
zweifelhaft ist wie ihr objektiver Wahrheitsgehalt.
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(156) … die Unmöglichkeit, historische
Ereignisse überhaupt „exakt“ zu ergründen …
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(4) nachdem Darwin (1859) der von
Lamarck 50 Jahre früher aufgestellten Deszendenztheorie durch seine
Selektionstheorie das sichere Fundament gegeben hatte …
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(5ff) Kant behauptete bekanntlich,
dass bloß ein Teil unserer Erkenntnisse empirisch sei und a posteriori, d.h.
durch Erfahrung, gewonnen werde, dass dagegen ein anderer Teil der Erkenntnis
(z.B. die mathematischen Lehrsätze) a priori, d.h. durch das Schlussvermögen der
„Reinen Vernunft“, unabhängig von aller Erfahrung entstehe. Dieser Irrtum
führte dann weiter zu der Behauptung, dass die Anfangsgründe der
Naturwissenschaft metaphysisch seien und dass der Mensch mittelst der
angeborenen „Anschauungsformen: Raum und Zeit“ zwar einen Teil der
Erscheinungen zu erkennen, das dahinter steckenden
„Ding an sich“ aber nicht zu begreifen vermöge. ... Kants kritischer
„Erkenntnistheorie“ fehlten die physiologischen und phylogenetischen
Grundlagen, die erst 60 Jahre nach seinem Tode durch Darwins Reform der
Entwicklungslehre und durch die Entdeckungen der Gehirnphysiologie gewonnen
wurden. Er betrachtete die Seele des Menschen mit ihren angeborenen
Eigenschaften der Vernunft als ein fertig gegebenes Wesen und fragte gar nicht
nach ihrer historischen Herkunft ... er dachte nicht daran, dass diese Seele
sich phylogenetisch aus der Seele der nächstverwandten Säugetiere entwickelt
haben könne. Die wunderbare Fähigkeit zu Erkenntnissen a priori ist aber
ursprünglich entstanden durch Vererbung von Gehirnstrukturen, die bei den
Vertebraten- Ahnen des Menschen langsam und stufenweise (durch Anpassung an
synthetische Verknüpfung von Erfahrungen, von Erkenntnissen a posteriori)
erworben wurden. Auch die absolut sicheren Erkenntnisse der Mathematik und
Physik, die Kant für synthetische Urteile a priori erklärt, sind ursprünglich
durch die phyletische Entwicklung der Urteilskraft entstanden und auf stetig
wiederholte Erfahrungen und darauf gegründete Schlüsse a posteriori
zurückzuführen.;
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(18) Die „moderne Maschinentheorie des
Lebens“ … verlangt für die Entstehung des Organismus ebenso einen zweckmäßig
bauenden „Maschineningenieur“, wie er tatsächlich für die Entstehung und
Wirkung der Maschine im „vernünftigen Menschen“ gegeben ist. Mit besonderer
Vorliebe wird dabei der Organismus mit einer Taschenuhr oder mit einer
Lokomotive verglichen. Für den geregelten Gang eines solchen komplizierten
Kunstwerks ist die genaueste Berechnung des Zusammenwirkens aller Teile
erforderlich, und die geringste Verletzung eines kleinen Rädchens genügt, um
den Gang der Uhr zu zerstören. Dieser Vergleich ist namentlich von Louis
Agassiz (1858) ausgebeutet worden, der in jeder Tier- und Pflanzenart einen
„verkörperten Schöpfungsgedanken Gottes“ findet. In neuester Zeit hat ihn
besonders Reinke oft angewendet, um seinen theosophischen Dualismus zu stützen;
er bezeichnet „Gott“ oder die „Weltseele“ mit Vorliebe als die „kosmische
Intelligenz“, schreibt aber diesem mystischen immateriellen Wesen ganz
dieselben Eigenschaften zu, welche man im Schulunterricht und in schönen
Predigten dem „lieben Gott“ als „Schöpfer Himmels und der Erde“ andichtet. Die
menschliche Intelligenz, die der Uhrmacher auf das verwickelte Räderwerk der
Uhr verwendet hat, vergleicht Reinke mit der „kosmischen Intelligenz“, die Gott
der Schöpfer in den Organismus gelegt hat, und betont dabei besonders die
Unmöglichkeit, ihre zweckmäßige Organisation aus ihrer materiellen
Beschaffenheit ableiten zu können.
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(21) Als um die Mitte des 18. Jahrhunderts
die Physiologie sich selbständig zu gestalten begann, erklärte sie die
Eigentümlichkeiten des organischen Lebens durch die Annahme einer besonderen
Lebenskraft (vis vitalis);
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(22) Die Deszendenztheorie von Lamarck
(1809) wurde ebenso totgeschwiegen wie sein fundamentaler Grundsatz: „Das Leben
ist nur ein verwickeltes physikalisches Problem.“
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(23) Drittes Kapitel. Wunder.
Unter „Wunder“ versteht man im gewöhnlichen Sprachgebrauch sehr verschiedene
Vorstellungen. Wir nennen eine Erscheinung wunderbar, wenn wir sie nicht
erklären und ihre Ursachen nicht begreifen können. Wir nennen aber ein
Naturobjekt oder ein Kunstwerk wunderschön oder wundervoll, wenn es
außerordentlich schön oder großartig ist, wenn es die gewohnten Grenzen unseres
Vorstellungskreises überschreitet. Nicht in diesem übertragenen relativen
Begriff sprechen wir hier vom Wunder, sondern in dem absoluten Sinne, in
welchem eine Erscheinung die Grenzen der Naturgesetze überschreitet und für die
menschliche Vernunft überhaupt unerklärbar ist. Der Begriff des Wunders fällt
hier mit dem des Übernatürlichen oder Transzendenten zusammen. Die
Naturerscheinungen können wir durch die Vernunft erkennen und unserem Wissen
unterwerfen; das übernatürliche Wunder können wir nur glauben.
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(25) Die Verstandestätigkeit der
Wilden bewegt sich in den engsten Grenzen, so dass man von der Vernunft bei
ihnen ebensowenig (- oder ebensoviel-)
sprechen kann als bei den intelligentesten Tieren. …
dass auch unsere eigenen Vorfahren, vor zehntausend Jahren und darüber hinaus
... niedere Wilde waren …
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(27f) Wunderglaube von Plato.
… gelang es Plato und seinem großen Schüler Aristoteles (im 4. Jahrhundert v.
Chr.), diesen Dualismus, den Gegensatz von Physik und Metaphysik, zur weitesten
Anerkennung zu bringen. Die Physik beschäftigt sich auf Grund der Erfahrung mit
des Erscheinungen der Dinge (Phaenomena), die
Metaphysik hingegen mit dem wahren Wesen der Dinge, das hinter den
Erscheinungen verborgen ist (Noumena). Diese inneren
Wesenheiten sind transzendent, unzugänglich für die empirische Forschung; sie
bilden die metaphysische Welt der ewigen Ideen, die von der realen Welt
unabhängig ist und in Gott, als dem Absoluten, ihre höchste Einheit findet. Die
Seele, die als ewige Idee zeitweilig in dem vergänglichen menschlichen Körper
lebt, ist unsterblich. Dieser konsequente Dualismus im Sinne von Plato hat die
scharfe Sonderung des Diesseits vom
Jenseits, des Leibes von der Seele, der Welt von Gott, als wichtigstes Merkmal.
Sie wurde bald deshalb überaus einflussreich, weil sein Schüler Aristoteles sie
mit seiner empirischen, auf reiche naturwissenschaftliche Erfahrung gegründeten
Metaphysik verband … besonders aber deshalb, weil bald das Christentum (400
Jahre später), in diesem Dualismus eine willkommene philosophische Ergänzung
seiner eigenen transzendenten Richtung fand. …
In der Philosophie (des Mittelalters) blieb ganz überwiegend die Autorität des
Aristoteles; sie wurde von der herrschenden christlichen Kirche ihren Zwecken
dienstbar gemacht. …
Allen Glaubenssätzen voran standen die drei großen Zentraldogmen der
Metaphysik, die zuerst Plato in ihrer ganzen Bedeutung geltend gemacht hatte:
der persönliche Gott als Weltschöpfer, die Unsterblichkeit der Seele und der
freie Wille des Menschen.
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(33) Die Verdienste von Lamarck, dem
eigentlichen Begründer der Deszendenztheorie …
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(35) Diese Ansicht wird auch
gegenwärtig von den meisten Physikern und Chemikern festgehalten; sie
betrachten die Massenanziehung (Gravitation) und die Wahlverwandtschaft
(Chemismus) als reien Mechanik der Atome und diese
als allgemeinen Urgrund aller Erscheinungen; sie wollen aber nicht zugeben,
dass jene Bewegungen notwendig eine Art (unbewusster) Empfindungen
voraussetzen. … dass sie von einer solchen „Beseelung“ der Atome nichts wissen
wollen. Nach meiner Überzeugung ist dieselbe eine notwendige Annahme für die
Erklärung der einfachsten physikalischen und chemischen Prozesse
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(36) Naturalismus.
Unser Monismus …
In dem streng monistischen Sinne von Spinoza fallen für uns die Begriffe von
Gott und Natur zusammen (Deus sive Natura). Ob es
jenseits der Natur ein Gebiet des „Übernatürlichen“ oder eine „Geisterreich“
gibt, wissen wir nicht.
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(37) Unsere Einbildungskraft strebt
beim höheren Kulturmenschen in Kunst und Wissenschaft nach der Produktion
einheitlicher Gebilde, und wenn sie bei deren Herstellung durch Assozion von Vorstellungen auf Lücken stößt, so sucht sie
diese durch Neubildungen zu auszufüllen. Solche selbständige, die Lücken der
Vorstellungskreise ergänzende Produkte des Phronema
nennen wir Hypothesen, wenn sie mit den erfahrungsmäßig festgestellten
Tatsachen logisch vereinbar sind, dagegen Mythen, wenn sie diesen Tatsachen
widersprechen
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(37) Der rohe Naturmensch, wie er uns
heute noch im Wedda und Australneger
entgegentritt, steht in psychologischer Beziehung dem Affen näher als dem
hochentwickelten Kulturmenschen.
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(38) Metaphysik.
… Wenn man den Begriff der Physik auf die empirische Erforschung der
Erscheinungen (durch Beobachtung und Versuch) beschränkt, so kann schon jede
Hypothese, die deren Lücken ausfüllt, und jede Theorie derselben als Metaphysik
betrachtet werden. In diesem Sinne sind bereits die unentbehrlichen Theorien
der Physik (z.B. die Annahme, dass die Substanzen aus Molekülen und diese aus
Atomen bestehen) metaphysisch; ebenso d unsere Annahme, dass alle Substanz
nicht nur Ausdehnung (Materie), sondern auch Empfindung besitzt. Diese
monistische Metaphysik …
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(39) Realismus.
Wie alle Naturwissenschaft, so ist auch deren biologischer Teil, unsere
Lebenskunde, realistisch; d.h sie betrachtet ihre
Objekte, die Organismen, als wirklich existierende Dinge, deren Eigenschaften
uns durch unsere Sinne (Sensorium) und unsere Denkorgane (Phronema)
bis zu einem gewissen Grade erkennbar sind. Dabei sind wir uns kritisch
bewusst, dass beiderlei Erkenntnisorgane – also auch die durch sie gewonnene
Erkenntnis selbst – unvollkommen sind und dass vielleicht noch ganz andere
Eigenschaften der Organismen existieren, die uns unzugänglich sind.
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(49) Selbstmord.
… Für den gläubigen Theisten freilich, der das individuelle Leben als ein
„gnädiges Geschenk des lieben Gottes“ betrachtet, kann es zweifelhaft sein, ob
er dasselbe verschmähen oder gar zurückgeben darf; - obwohl der freiwillige
Opfertod für einen anderen Menschen als hohe Tugend gepriesen wird! …
Die bedeutungsvollen Fortschritte der Befruchtungslehre in den letzten dreißig
Jahren haben die sichere Erkenntnis festgestellt, dass das individuelle Leben
des Menschen, wie aller anderen Wirbeltiere, mit dem Momente beginnt, in
welchem die Eizelle der Mutter mit der Spermazelle des Vaters zusammentrifft; -
der blinde Zufall spielt dabei dieselbe gewaltige Rolle wie bei den wichtigsten
anderen Lebensverhältnissen …
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(50ff) Der moderne „Kulturstaat“ hat
die allgemeine Wehrpflicht eingeführt; er verlangt jetzt von jedem
Staatsbürger, dass er auf Kommando sein Leben für das Vaterland lässt, und
dabei im Kriege aus irgendwelchen politischen Gründen möglichst viel
Menschenleben des „Feindes“ vernichtet (- eine treffende Illustration zu den
Worten des Evangeliums: „Lieber eure Feinde!“ -). Aber derselbe Kulturstaat
gewährt nicht einmal allen seinen Staatsbürgern die Mittel zur menschenwürdigen
Existenz und zur freien geistigen Entwicklung der Individualität, - ja nicht
einmal das „Recht zur Arbeit“, durch die er seine und seiner Familie Existenz
fristen kann. …
Die Irrenhäuser nehmen alljährlich an Zahl und Umfang zu; allenthalben
entstehen Sanatorien, in denen der gehetzte Kulturmensch Zuflucht und Heilung
von seinen Übeln sucht. Viele von diesen Übeln sind völlig unheilbar, und viele
Kranke gehen dem sicheren Tode unter namenlosen Qualen entgegen. Sehr viele von
diesen armen Elenden warten mit Sehnsucht auf ihre „Erlösung vom Übel“ und
sehnen das Ende ihres qualvollen Lebens herbei; da erhebt sich die wichtige Frage,
ob wir als mitfühlende Menschen berechtigt sind, ihren Wunsch zu erfüllen und
ihre Leiden durch einen schmerzlosen Tod abzukürzen ...
Ich gehe von meiner persönlichen Ansicht aus, dass das Mitleid (Sympathie)
nicht nur eine der edelsten und schönsten Gehirnfunktionen des Menschen,
sondern auch eine der ersten und wichtigsten sozialen Bedingungen für das
gesellige Leben der höheren Tiere ist. ...
… sollte man das hehre Gebot der Nächstenliebe nicht auf den Menschen allein
beschränken, sondern auch auf seine „nächsten Verwandten“, die höheren
Wirbeltiere, ausdehnen, und überhaupt auf alle Tiere, bei denen wir auf Grund
ihrer Gehirnorganisation bewusste Empfindung, das Bewusstsein von Lust uns
Schmerz annehmen dürfen. ...
Treue Hunde und edle Pferde, mit denen wir jahrelang zusammen gelebt haben, und
die wir lieben, töten wir mit Recht, wenn sie in hohem Alter hoffnungslos
erkrankt sind und von schmerzlichen Leiden gepeinigt werden. Ebenso haben wir
das Recht oder, wenn man will: die Pflicht, den schweren Leiden unserer
Mitmenschen ein Ende zu bereiten, wenn schwere Krankheit ohne Hoffung auf Besserung ihnen die Existenz unerträglich
macht, und wenn sie uns selbst um „Erlösung vom Übel“ bitten. ... Viele
erfahrene Ärzte, die ihren schweren Beruf mit reiner Menschenliebe und frei von
dogmatischen Vorurteilen ausüben, tragen kein Bedenken, die schweren Leiden von
hoffnungslosen Kranken auf deren Wunsch durch eine Gabe Morphium oder
Zyankalium abzukürzen; tatsächlich wird ja vielfach durch einen solchen
plötzlichen schmerzlosen Tod nicht nur dem Notleidenden selbst, sondern auch
seiner mitleidenden Familie der größte Dienst erwiesen. Andere Ärzte hingegen,
und wohl die meisten Juristen, sind der Ansicht, dass diese Handlung des
Mitleids nicht erlaubt oder sogar ein Verbrechen sei: der Arzt habe die
Pflicht, unter allen Umständen das Menschenleben so lange als möglich zu
erhalten. Warum? …
Lebenserhaltung.
Als ein traditionelles Dogma müssen wir auch die weitverbreitete Meinung
beurteilen, dass der Mensch unter allen Umständen verpflichtet sei, das Leben
zu erhalten und zu verlängern, auch wenn dasselbe gänzlich wertlos, ja für den
schwer Leidenden und hoffnungslos Kranken nur eine Quelle der Pein und der
Schmerzen, für seine Angehörigen ein Anlass ständiger Sorgen und Mitleiden ist.
Hunderttausende von unheilbar Kranken, namentlich Geisteskranke, Aussätzige,
Krebskranke usw., werden in unseren modernen Kulturstaaten künstlich am Leben
erhalten und ihre beständigen Qualen sorgfältig verlängert, ohne irgendeinen
Nutzen für die selbst oder für die Gesamtheit. Unter der Gesamtzahl der
Bevölkerung von Europa befinden sich mindestens zwei Millionen Geisteskranke,
unter diesen mehr als 200000 Unheilbare. Welche ungeheure Summe von Schmerz und
Leid bedeuten diese entsetzlichen Zahlen für die unglücklichen Kranken selbst,
welche namenlose Fülle von Trauer und Sorge für ihre Familien, welche Verluste
an Privatvermögen und Staatskosten für die Gesamtheit! Wie viel von diesen
Schmerzen und Verlusten könnte gespart werden, wenn man sich endlich
entschließen wollte, die ganz Unheilbaren durch eine Morphiumgabe
von ihren namenlosen Qualen zu befreien! Natürlich dürfte dieser Akt des
Mitleids und der Vernunft nicht dem Belieben eines einzelnen Arztes
anheimgestellt werden, sondern müsste auf Beschluss einer Kommission von
zuverlässigen und gewissenhaften Ärzten erfolgen. Ebenso müsste auch bei
anderen unheilbaren und schwer leidenden Kranken (z.B. Krebskranken) die
„Erlösung vom Übel“ nur dann durch eine Dosis schmerzlos und rasch wirkenden
Giftes erfolgen, wenn sie ausdrücklich auf deren eigenen, eventuell gerichtlich
protokollierten Wunsch geschähe und durch eine offizielle Kommission ausgeführt
würde.
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(131) Geist des Embryo.
… Beseelt ist schon die Eizelle der Mutter und die Spermazelle des Vaters; eine
individuelle Seele besitz schon die Stammzelle (Cytula),
die nach erfolgter Befruchtung durch die Verschmelzung beider Elternzellen
entstanden ist.
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(137ff) Fünfzehntes Kapitel.
Lebensursprung.
… a) Das Wunder des Lebensursprungs (Creatismus);
gründet auf der Schöpfungsgeschichte von Moses, wie sie im ersten Kapitel der
Genesis geschrieben steht
b) Agnostizismus – Resignation auf das Problem des Lebensursprungs.
… diejenigen Naturforscher, welche die Frage vom Lebensursprung für unlösbar
oder transzendent halten. als Vertreter dieser agnostischen Ansicht können
Darwin und Virchow genannt werden; sie halten die Entstehung der ersten
Organismen für eine Frage, von der wir nichts wissen und wissen können. So
erklärt Darwin in seinem Hauptwerke 1859, das er „nichts mit dem Ursprunge der
geistigen Grundkräfte noch mit dem Ursprung des Lebens selbst zu schaffen
habe“. ...
sehr zahlreiche und angesehene Naturforscher sind zwar mehr oder weniger der
Überzeugung, dass auch der Ursprung des Lebens ein „Naturprozess“ ist, glauben
aber, dass wir keine Mittel zu dessen Erkenntnis besitzen
c) Dualistische Äternal-Hypothesen (Annahme der
Ewigkeit der Zelle).
Richter … 1865 … Hypothese … dass der unendliche Weltraum überall von Keimen
organischer Wesen, ebenso wie von anorganischen Weltkörpern erfüllt sei;
Helmholtz … 1884 … meint, dass die im Weltraum umhertreibenden Meteore Keime
von Organismen eingeschlossen enthalten könnten;
d) Autogonie-Hypothese (Haeckel);
chemischer Prozess der Plasmodomie ... im Beginne des
Lebens von selbst eingetreten ist, d.h. als ein katalytischer (oder der
Katalyse analoger) Prozess (Einzelheiten Seite 145 JK)
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(147) Sechzehntes Kapitel.
Lebensentwicklung.
… Evolutismus (oder Genetik) …
dass der biogenetische Prozess (- d.h. die Entwicklung des organischen Lebens
auf der Erde vom Beginn bis zur Gegenwart -) mehr als hundert Millionen Jahre
umfasst …
Wenn wir nun auch annehmen, dass auf vielen anderen Weltkörpern unter denselben
Bedingungen wie auf unserer Erde sich in ähnlicher Weise organisches Leben
entwickelt …
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(148) Der Kampf ums Dasein selbst ist
ein mechanischer Prozess, in welchem die Naturzüchtung das Missverhältnis
zwischen der Überzahl der Keime und der beschränkten Existenzmöglichkeit der
aktuellen Individuen, im Verein mit der Variabilität der Spezies, benutzt, um
ohne vorbedachten Zweck mechanisch neue zweckmäßige Einrichtungen
hervorzubringen.
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(149) Lamarck erklärt die langsame und
allmählich Umbildung der organischen Arten durch die Wechselwirkung von zwei
physiologischen Funktionen, Anpassung und Vererbung. Die Anpassung (Veränderung
der Organe durch Übung) beruht auf ihrer Fortbildung durch Gebrauch,
Rückbildung durch Nichtgebrauch; die Vererbung bewirkt die Fortpflanzung der
neuen, so erworbenen Eigenschaften auf die Nachkommen.
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(149) trat diesem metaphysischen Kreatismus der physikalische Evolutismus
gegenüber …
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(151) dass das Karyoplasma des
Zellkerns die Funktion der Fortpflanzung und Vererbung besorgt. Diese Ansicht
hatte ich zuerst 1866 ... ausgesprochen ...später genauere empirische
Bestätigung durch ... Strasburger , Hertwig u.a. ... Die
verwickelten feineren Verhältnisse, welche diese Forscher bei der Zellteilung
aufdeckten, führten zu der Annahme, dass der färbbare Bestandteil des
Zellkerns, das „Chromatin“, die eigentliche Erbmasse sei, das materielle
Substrat der „Vererbungsenergie“. Weismann fügte nun zu dieser Erkenntnis die
Annahme, dass dieses Keimplasma vollkommen von den übrigen Substanzen der Zelle
gesondert lebe, und dass letztere (- das Somaplasma
-) die durch Anpassung erworbenen neuen Eigenschaften nicht auf das Keimplasma
übertragen können; gerade auf dieser Annahme beruht seine Opposition gegen die
progressive Vererbung oder die „Vererbung erworbener Eigenschaften“. Die
Verteidiger der letzteren, zu denen ich gehöre, nehmen an, .... dass eine
teilweise Mischung beider Plasmaarten eintritt.
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(151) Mutation.
(bedeutet bei Haeckel noch Makro-Mutation, d.h. Mechanismus für plötzliches
Auftreten neuer Arten JK)
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(153) Darwin war von der hohen Bedeutung
der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ und insbesondere von der Erblichkeit
funktioneller Anpassungen ebenso fest überzeugt wie Lamarck und wie ich selbst;
er schrieb ihnen nur einen beschränkteren Wirkungskreis zu als Lamarck.
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(155) Die Ontogenesis
ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis,
bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung und Anpassung. …
Kern meines biogenetischen Grundsatzes …
Biogenetisches Grundgesetz.
Das umfassende “Grundgesetz der organischen Entwicklung, das ich 1866 …
aufgestellt habe “ ...
ist der Anspruch eingeschlossen, dass dasselbe ganz allgemeine Gültigkeit
besitzt ... dass diese immer eine teilweise und abgekürzte Widerholung
des ursprünglichen phyletischen Entwicklungsganges ist...
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(157ff) Siebzehntes Kapitel.
Lebenswert.
Unser Monismus überzeugt uns, dass das Universum seinen Namen wirklich verdient
und ein allumfassendes, einheitliches Ganzes darstellt -, gleichviel, ob man
dasselbe „Gott“ oder „Natur“ nennt.
Lebenszweck.
Jedes lebende Wesen ist sich selbst Zweck … Die alte anthropistische
Auffassung, dass die Tiere und Pflanzen „zum Nutzen des Menschen erschaffen“,
dass überhaupt die Beziehungen der Organismen zu einander durch „planvolle
Schöpfung“ geregelt seien, findet heute in wissenschaftlichen Kreisen keinen
Glauben mehr. …
Jede besondere Lebensform, ebenso jedes Individuum wie jede Spezies, ist also
nur eine biologische Episode, eine vorübergehende Erscheinungsform im Wechsel
des Lebens. …
… sind vielfach falsche teleologische Schlüsse gezogen
worden. Indem man die jüngste und höchst entwickelte Form jeder Stammreihe als
deren vorbedachtes Ziel hinstellte, erblickte man in ihren unvollkommenen
Vorläufern und Ahnen „Vorbereitungsstufen“ zur Erreichung dieses Zieles ...
Obgleich die Stammesgeschichte der Pflanzen und Tiere, ebenso wie die
Kulturgeschichte des Menschen, im großen und ganzen
eine aufsteigende Stufenleiter darstellt und sich von niederen zu höheren
Stufen erhebt, so finden doch im einzelnen vielfach Schwankungen derselben
statt.
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(159ff) Lebenswert der Menschenrassen.
Obgleich die bedeutenden Unterschiede in dem Geistesleben und Kulturzustande
der höheren und niederen Menschenrasen allgemein bekannt sind, werden sie doch
meistens sehr unterschätzt und demgemäß ihr sehr verschiedner
Lebenswert falsch bemessen. Das, was den Menschen so hoch über die Tiere, auch die nächst
verwandten Säugetiere, erhebt, und was seinen Lebenswert unendlich erhöht, ist
die Kultur, und die höhere Entwicklung der Vernunft, die ihn zur Kultur befähigt.
Diese ist aber größtenteils nur Eigentum der höheren Menschenrassen und bei den
niederen nur unvollkommen oder gar nicht entwickelt. Diese Naturmenschen (z.B. Weddas, Australneger) stehen in
psychologischer Hinsicht näher den Säugetieren (Affen, Hunden) als dem
hochzivilisierten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswert ganz
verschieden zu beurteilen. Die Anschauungen darüber sind bei europäischen
Kulturnationen, die große Kolonien in den Tropen besitzen und seit
Jahrhunderten in engster Berührung mit Naturvölkern leben, sehr realistisch und
sehr verschieden von den bei uns in Deutschland noch herrschenden
Vorstellungen. Unsere idealistischen Anschauungen, durch unsere Schulweisheit
in feste Regeln gebracht und von unseren Metaphysikern in das Schema ihres
abstrakten Idealmenschen gezwängt, entsprechen sehr wenig den realen Tatsachen.
…
Der Abstand zwischen dieser denkenden Seele des Kulturmenschen und der
gedankenlosen tierischen Seele des wilden Naturmenschen ist aber ganz gewaltig,
größer als der Abstand zwischen der letzteren und der Hundeseele …
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(160) Die fortgeschrittene
Arbeitsteilung der sozialen Individuen einerseits, die Zentralisation der
Gesellschaft anderseits, befähigt den sozialen Körper zu viel höheren
Leistungen als den solitären und steigert seinen Lebenswert in hohem Maße.
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(163) Denn je weiter die
Differenzierung der Stände und Klassen infolge der notwendigen Arbeitsteilung
im Kulturstaate geht, desto größer werden die Unterschiede zwischen den hochgebildeten
und ungebildeten Klassen der Bevölkerung, desto verschiedener ihre Interessen
und Bedürfnisse, also auch ihr Lebenswert. Am größten erscheint dieser
Unterschied natürlich dann, wenn man den Blick zu den „führenden Geistern“ des
Jahrhunderts oben auf den höchsten Höhen der Kulturmenschheit erhebt und wenn
man sie mit der Masse der niederen Durchschnittsmenschen vergleicht, die tief
unten im Tal ihren einförmigen und mühseligen Lebenspfad mehr oder weniger
stumpfsinnig wandeln.
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(164) Für unsere Justiz ist der Wert
jedes einzelnen Menschenlebens derselbe, gleichviel, ob es ein Embryo von
sieben Monaten ist oder ein neugeborenes Kind (das noch kein Bewusstsein hat!),
ein taubstummer Kretin oder ein hochbegabter Genius.
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(164) Subjektiver und objektiver
Lebenswert. (Individuelle und generelle Schätzung des Lebens).
Zunächst ist für jeden einzelnen Organismus sein individuelles Leben nächster
Zweck und höchster Wert. Daher rührt das allgemeine Streben nach
Selbsterhaltung … Diesem subjektiven Lebenswerte steht der objektive gegenüber,
der auf der Bedeutung des Einzelwesens für die Außenwelt beruht …
Daraus entsteht ein beständiger Kampf zwischen den Interessen der Einzelwesen,
die ihren besonderen Lebenszweck verfolgen, und denjenigen des Staates, für dessen
Zwecke dieselben nur Wert haben als Teile einer Maschine.
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(176) Alexander Sutherland hat recht,
wenn er „die leitenden Nationen Europas und ihre Abkömmlinge“ (in der
Vereinigten Staaten von Amerika) als niedere Kulturvölker charakterisiert. Zum
Teil sind wir noch Barbaren!
·
(31) moderne Naturwissenschaft und
Technik ... deren natürlicher Todfeind die orthodoxe (preußische) Kirche ist
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(183) der „große Heide“ Goethe; sein
Glaubensbekenntnis ist der reine Monismus, und zwar die pantheistische Richtung
desselben, die wir als die einzig naturgemäße anerkennen
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(198) 20. Monistische Theologie.
… (in vielen Bereichen der Gesellschaft JK) … die Vorstellung eines Gottes, als
des „höchsten Wesens“ in irgendeiner Gestalt; da, wie Goethe sagt, „ein jeder
das Beste, was er kennt, als Gott, ja seinen Gott benennt“: …
... gelangt die monistische Theologie zum Pantheismus im Sinne von Spinoza und
Goethe
Ernst Haeckel: Die Welträthsel, Volksausgabe,
Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1899-1903
HIER der
gesamte Text des Buches „Die Welträthsel“ im Internet:
http://www.zeno.org/Philosophie/M/Haeckel,+Ernst/Die+Weltr%C3%A4tsel
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(Seite 6) (Inhaltsverzeichnis)
Nachwort: Das Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft
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(8) Zwar haben einzelne denkende
Forscher schon seit Jahrtausenden von »Entwicklung« der Dinge gesprochen, daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist als eine ewige
»Entwicklung der Substanz«, dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind des
neunzehnten Jahrhunderts. Erst in der zweiten Hälfte desselben gelangte er zu
voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst,
diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender
Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles
Darwin; er lieferte uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche
der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren
Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und
Denker, Wolfgang Goethe, schon 1799 prophetisch erfaßt
hatte.
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(11) Eine der mächtigsten Stützen
gewährt jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus
oder die »Vermenschlichung«. Unter diesem Begriffe verstehe ich »jenen
mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welcher
den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt,
ihn als vorbedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein prinzipiell
von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt.
Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen
Vorstellungskreises ergibt sich, daß derselbe
eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den
anthropozentrischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen
Irrtum unterscheiden.« I. Das anthropozentrische Dogma
gipfelt in der Vorstellung, daß der Mensch der
vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens – oder in weiterer
Fassung der ganzen Welt – sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigennutz
äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungsmythen der drei großen
Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und
mohammedanischen Lehre innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den
größten Teil der Kulturwelt. – II. Das anthropomorphische Dogma knüpft
ebenfalls an die Schöpfungsmythen der drei genannten und anderer Religionen an.
Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den
Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers und mit der Staatsregierung eines
weisen Herrschers. »Gott der Herr« als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem [18] Denken und
Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder
umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. »Gott
schuf den Menschen nach seinem Bilde.« Die ältere
naive Mythologie ist reiner Homotheismus und verleiht ihren Göttern
Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger vorstellbar ist die neuerer
mystische Theosophie, welche den persönlichen Gott als »unsichtbares Wesen«
verehrt und ihn doch nach Menschenart denken, sprechen und handeln läßt; sie gelangt dadurch zu dem paradoxen Begriff eines
»gasförmigen Wirbeltieres«. …
Da überzeugen wir uns[19] von folgenden wichtigen, nach unserer Ansicht jetzt
größtenteils bewiesenen »kosmologischen Lehrsätzen«.
1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. …
·
(12) In der berühmten Rede, welche
Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz-Sitzung der Berliner Akademie der
Wissenschaften hielt, unterscheidet er »Sieben Welträtsel« und führt dieselben
in nachstehender Reihenfolge auf: I. das Wesen von Materie und Kraft, II. der
Ursprung der Bewegung, III. die erste Entstehung des Lebens, IV. die
(anscheinend absichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V. das Entstehen
der einfachen Sinnesempfindungen und des Bewußtseins,
VI. das vernünftige Denken und der Ursprung der damit eng verbundenen Sprache,
VII. die Frage nach der Willensfreiheit. Von diesen sieben Welträtseln erklärt
der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transzendent und unlösbar (das
erste, das zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für schwierig, aber für
lösbar (das dritte, vierte und sechste); bezüglich des siebenten und letzten
»Welträtsels«, welches praktisch das wichtigste ist, nämlich der
Willensfreiheit, verhält er sich unentschieden.
·
(14) Sehr häufig werden auch heute
noch die verschiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenso die
wesentlich verschiedenen Richtungen des theoretischen und des praktischen
Materialismus verwechselt. Da diese und andere ähnliche Begriffsverwirrungen
höchst nachteilig wirken und zahlreiche Irrtümer veranlassen, wollen wir zur
Vermeidung aller Mißverständnisse nur kurz noch
folgendes bemerken: I. Unser reiner Monismus ist weder mit dem theoretischen
Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe
von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings
vielfach als Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt
nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immateriellen
Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr sind wir mit Goethe der festen
Überzeugung, daß »die Materie nie ohne Geist, der
Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann«. Wir halten fest an dem
reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich
ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende
oder denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen Attribute oder
Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen
Substanz
·
(33) Die mannigfaltigsten
Schöpfungsmythen entwickeln sich bei allen älteren Kulturvölkern im
Zusammenhang mit der Religion, und während des Mittelalters war es naturgemäß
das zur Herrschaft gelangte Christentum, welches die Beantwortung der
Schöpfungsfrage für sich in Anspruch nahm. Da die Bibel als die
unerschütterliche Basis des christlichen Religionsgebäudes galt, wurde die
ganze Schöpfungsgeschichte dem ersten Buche Moses entnommen. Auf dieses stützte
sich auch noch der große schwedische Naturforscher Carl Linné,
als er 1735 in seinem grundlegenden »Systema Naturae« den ersten Versuch zu einer systematischen
Ordnung, Benennung und Klassifikation der unzähligen verschiedenen Naturkörper
unternahm. …
Höchst verhängnisvoll aber wurde für die Wissenschaft das theoretische Dogma,
welches schon von Linné selbst mit seinem praktischen
Speziesbegriffe verknüpft wurde. Die erste Frage, welche sich dem denkenden
Systematiker aufdrängen mußte, war natürlich die
Frage nach dem eigentlichen Wesen des Speziesbegriffes, nach Inhalt und Umfang
desselben. Und gerade diese Fundamentalfrage beantwortete sein Schöpfer in
naivster Weise in Anlehnung an den allgemein gültigen mosaischen
Schöpfungsmythus: »Species tot sunt
diversae, quot diversas formas ab initio creavit infinitum ens.« (- Es gibt so
viel verschiedene Arten, als im Anfange vom unendlichen. Wesen verschiedene
Formen erschaffen worden sind. -) Mit diesem
theosophischen Dogma, war jede natürliche Erklärung der Artentstehung
abgeschnitten. Linné kannte nur die gegenwärtig
existierende Tier-und Pflanzenwelt; er hatte keine Ahnung von den viel
zahlreicheren ausgestorbenen Arten, welche in den früheren Perioden der langen
Erdgeschichte unseren Erdball in wechselnder Gestaltung bevölkert hatten.
·
(34) Daß die
herrschenden Vorstellungen von der absoluten Beständigkeit und übernatürlichen
Schöpfung der organischen Arten tiefer denkende Forscher nicht befriedigen
konnten, ist leicht einzus1ehen. Daher finden wir denn schon in der zweiten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts einzelne hervorragende Geister mit
Versuchen beschäftigt, zu einer naturgemäßen Lösung des großen
»Schöpfungsproblems« zu gelangen. Allen voran war unser größter Dichter und
Denker Wolfgang Goethe durch seine vieljährigen und eifrigen morphologischen
Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der klaren Einsicht in den
inneren Zusammenhang aller organischen: Formen und zu der festen Überzeugung
eines gemeinsamen natürlichen Ursprungs gelangt. In seiner berühmten
»Metamorphose der Pflanzen« (1790) leitete er alle verschiedenen Formen der
Gewächse von einer Urpflanze ab und alle verschiedenen Organe derselben von
einem Urorgane, dem Blatt. In seiner Wirbeltheorie
des Schädels versuchte er zu zeigen, daß die Schädel
aller verschiedenen Wirbeltiere – mit Inbegriff des Menschen! – in gleicher
Weise aus bestimmt geordneten Knochengruppen zusammengesetzt seien, und daß diese letzteren nichts anderes seien als umgebildete
Wirbel. Gerade seine eingehenden Studien über vergleichende Osteologie hatten
Goethe zu der festen Überzeugung von der Einheit der Organisation geführt; er
hatte erkannt, daß das Knochengerüst des Menschen
nach demselben Typus zusammengesetzt sei wie das aller übrigen Wirbeltiere –
»geformt nach einem Urbilde, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr
oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus-
und umbildet« –. Diese Umbildung oder Transformation läßt
Goethe durch die beständige Wechselwirkung von zwei gestaltenden
Bildungskräften geschehen, einer inneren Zentripetalkraft des Organismus, dem
»Spezifikationstrieb«, und einer äußeren Zentrifugalkraft, dem Variationstrieb
oder der »Idee der Metamorphose«; erstere entspricht dem, was wir heute
Vererbung, letztere dem, was wir Anpassung nennen. Wie tief Goethe durch diese
naturphilosophischen Studien über »Bildung und Umbildung organischer Naturen«
in deren Wesen eingedrungen war, und inwiefern er demnach als der bedeutendste
Vorläufer von Darwin und Lamarck betrachtet werden kann, ist aus den
interessanten Stellen seiner Werke zu ersehen, welche ich im vierten Vortrage
der Natürlichen Schöpfungsgeschichte zusammengestellt habe. In meinem Vortrage
über »Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck« (Eisenach 1882) habe
ich dies näher begründet. Indessen kamen doch diese naturgemäßen
Entwicklungsideen von Goethe ebenso wie ähnlich (ebenda zitierte) Vorstellungen
von Kant, Oken, Treviranus und anderen
Naturphilosophen im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts nicht über gewisse
allgemeine Überzeugungen hinaus. Es fehlte ihnen noch der große Hebel, dessen
die »natürliche Schöpfungsgeschichte« zu ihrer Begründung durch die Kritik des
Speziesdogmas bedurfte, und diese verdanken wir erst Lamarck.
Den ersten eingehenden Versuch zu einer wissenschaftlichen Begründung des Transformismus unternahm im Beginne des neunzehnten
Jahrhunderts der große französische Naturphilosoph Jean Lamarck, der bedeutendste
Gegner seines Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derselbe in seinen
»Betrachtungen über die lebenden Naturkörper« die bahnbrechenden Ideen über die
Unbeständigkeit und Umbildung der Arten ausgesprochen, welche er dann 1809 in
den zwei Bänden seines tiefsinnigsten Werkes, der Philosophie zoologique, eingehend begründete. Hier führte Lamarck zum erstenmal – gegenüber dem herrschenden Speziesdogma – den
richtigen Gedanken aus, daß die organische »Art oder
Spezies« eine künstliche Abstraktion sei, ein Begriff von relativem Werte,
ebenso wie die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung und
Klasse. Er behauptete ferner, daß alle Arten
veränderlich und im Laufe sehr langer Zeiträume aus älteren Arten durch
Umbildung entstanden seien. Die gemeinsamen Stammformen, von denen dieselben
abstammen, waren ursprünglich ganz einfache und niedere Organismen; die ersten
und ältesten entstanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung innerhalb der
Generationsreihen der Typus sich beständig erhält, werden anderseits durch.
Anpassung, durch Gewohnheit und Übung der Organe, die Arten allmählich
umgebildet. Auch unser menschlicher Organismus ist auf dieselbe natürliche
Weise durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugetieren entstanden.
Für alle diese Vorgänge, wie überhaupt für alle Erscheinungen in der Natur und
im Geistesleben, nimmt Lamarck ausschließlich mechanische, physikalische und
chemische Vorgänge als wahre, bewirkende Ursachen an.
·
(36) (Biogenetisches Grundgesetz) »Die
Ontogenesis ist eine kurze und schnelle
Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die
physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung
(Ernährung)«. Schon Darwin hatte (1859) die große Bedeutung seiner Theorie für
die Erklärung der Embryologie betont
·
(37) Der weitschauende Begründer der
Abstammungslehre, Lamarck, hatte schon 1809 richtig erkannt, daß dieselbe allgemeine Geltung besitze, und daß also auch der Mensch, als das höchstentwickelte
Säugetier, von demselben Stamme abzuleiten sei wie alle anderen Mammalien, und diese weiter hinauf von demselben älteren
Zweige des Stammbaumes wie die übrigen Wirbeltiere. Er hatte auch schon auf die
Vorgänge hingewiesen, durch welche die Abstammung des Menschen vom Affen, als
dem nächstverwandten Säugetiere, wissenschaftlich erklärt werden könne. Darwin,
der naturgemäß zu derselben Überzeugung gelangt war, ging in seinem Hauptwerk
(1859) über diese anstößigste Folgerung seiner Lehre absichtlich hinweg und hat
dieselbe erst später (1871) in seinem Werke über »Die Abstammung des Menschen
und die geschlechtliche Zuchtwahl« geistreich ausgeführt. Inzwischen hatte aber
schon sein Freund Huxley (1863) jenen wichtigen Folgeschluß
der Abstammungslehre sehr scharfsinnig erörtert in seiner berühmten kleinen
Schrift über die »Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur«. An der
Hand der vergleichenden Anatomie und Ontogenie und gestützt auf die Tatsachen
der Paläontologie zeigte Huxley, daß die »Abstammung
des Menschen vom Affen« eine notwendige Konsequenz des Darwinismus sei, und daß eine andere wissenschaftliche Erklärung von der
Entstehung des Menschengeschlechtes überhaupt nicht gegeben werden könne
·
(55) Willensfreiheit. …
Der gewaltige Kampf zwischen Deterministen und Indeterministen,
zwischen den Gegnern und den Anhängern der Willensfreiheit, ist heute, nach
mehr als zwei Jahrtausenden, endgültig zugunsten der ersteren entschieden. Der
menschliche Wille ist ebensowenig frei als derjenige
der höheren Tiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach
unterscheidet. Während noch im achtzehnten Jahrhundert das alte Dogma von der
Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und kosmologischen
Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das neunzehnte Jahrhundert ganz
andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung geschenkt, die gewaltigen
Waffen, welche wir dem Arsenal der vergleichenden Physiologie und
Entwicklungsgeschichte verdanken. Wir wissen jetzt, daß
jeder Willensakt ebenso durch die Organisation des wollenden Individuums bestimmt
und ebenso von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist
wie jede andere Seelentätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein
durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entschluß
zum jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände
gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag gibt, entsprechend den
Gesetzen, welche die Statistik der Gemütsbewegungen bestimmen.
·
(86f.) Zwölftes Kapitel. Das
Substanz-Gesetz.
Als das oberste und allumfassende Naturgesetz betrachte ich das Substanzgesetz,
das wahre und das einzige kosmologische Grundgesetz; seine Entdeckung und
Feststellung ist die größte Geistestat des neunzehnten Jahrhunderts, insofern
alle anderen erkannten Naturgesetze sich ihm unterordnen. Unter dem Begriffe
»Substanzgesetz« fasse ich zwei höchste allgemeine Gesetze verschiedenen
Ursprungs und Alters zusammen, das ältere chemische Gesetz von der »Erhaltung
des Stoffes« und das jüngere physikalische Gesetz von der »Erhaltung der Kraft«
(Monismus, 1892, S. 14, 39). …
Gesetz von der Erhaltung des Stoffes (oder der »Konstanz der Materie«,
Lavoisier, 1789): Die Summe des Stoffes, welche den unendlichen Weltraum
erfüllt, ist unveränderlich. Wenn ein Körper zu verschwinden scheint, wechselt
er nur seine Form …
Gesetz von der Erhaltung der Kraft (oder der »Konstanz der Energie«, Robert
Mayer, 1842): Die Summe der Kraft, welche in dem unendlichen Weltraum tätig ist
und alle Erscheinungen bewirkt, ist unveränderlich. …
·
(93) Man könnte die allgemeinsten
Naturerscheinungen, welche die Physik als Naturkräfte oder als »Funktionen der
Materie« unterscheidet, in zwei Gruppen teilen, von denen die eine vorzugsweise
(aber nicht ausschließlich) Funktion des Äthers, die andere ebenso Funktion der
Masse ist, etwa nach folgendem Schema, das ich (1892) im »Monismus« aufgestellt
habe:
Welt (= Natur = Substanz = Kosmos = Universum = Gott)
·
(95) Schöpfung der Substanz
(kosmologischer Kreatismus).
Nach dieser Schöpfungslehre hat »Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen«. Man
stellt sich vor, daß der »ewige Gott« (als
vernünftiges, aber immaterielles Wesen!) für sich allein von Ewigkeit her ohne
Welt existierte, bis er dann einmal auf den Gedanken kam, »die Weit zu schaffen«. Die einen Anhänger dieses Glaubens
beschränken die Schöpfungstätigkeit Gottes aufs Äußerste, auf einen einzigen
Akt; sie nehmen an, daß der extramundane
Gott (dessen übrige Tätigkeit rätselhaft bleibt!) in einem Augenblick die Substanz
erschaffen, ihr die Fähigkeit zur weitestgehenden
Entwicklung beigelegt und sich dann nie weiter um sie gekümmert habe. Diese
weit verbreitete Ansicht ist namentlich im englischen Deismus vielfach
ausgebildet worden; sie nähert sich unserer monistischen Entwicklungslehre bis
zur Berührung und gibt sie nur in dem einen Momente (der Ewigkeit!) preis, in
welchem Gott auf den Schöpfungsgedanken kam. Andere Anhänger des kosmologischen
Kreatismus nehmen dagegen an, daß
»Gott der Herr« die Substanz nicht bloß einmal erschaffen habe, sondern als bewußter »Erhalter und Regierer
der Welt« in deren Geschichte fortwirke. Viele Variationen dieses Glaubens
nähern sich bald dem Pantheismus, bald dem konsequenten Theismus. Alle diese
und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens sind unvereinbar mit dem Gesetz von
der Erhaltung der Kraft und des Stoffes; dieses kennt keinen »Anfang der Welt«
Besonders interessant ist, daß E. Du Bois-Reymond in
seiner letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) sich zu diesem kosmologischen Kreatismus (als Lösung des größten Welträtsels!) bekannt
hat; er sagt: »Der göttlichen Allmacht würdig allein ist, sich zu denken, daß sie vor undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die
ganze Materie so geschaffen habe,[243] daß nach der
Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für
Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren, beispielsweise hier
auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus denen ohne weitere Nachhilfe
die heutige Natur von einer Urbazille bis zum Palmenwalde, von einem
Urmikrokokkus bis zu Suleimas holden Gebärden, bis zu
Newtons Gehirn ward. So kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und ließen
ohne alten und neuen Vitalismus die organische Natur rein mechanisch entstehen.«
·
(96) Schöpfung der Einzeldinge
(ontologischer Kreatismus).
Nach dieser individuellen, noch jetzt herrschenden Schöpfungslehre hat Gott der
Herr nicht nur die Welt im ganzen (»aus Nichts!«)
geschaffen, sondern auch alle einzelnen Dinge in derselben. In der christlichen
Kulturwelt besitzt noch heute die uralte semitische, aus dem ersten Buch Moses
herübergenommene Schöpfungssage die weiteste Geltung; …
III. Heptamerale Kreation: die Schöpfung in sieben
Tagen (nach Moses). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an diesen
mosaischen Mythus glauben, wird er dennoch unseren Kindern schon in der
frühesten Jugend mit dem Bibelunterricht fest eingeprägt. Die vielfachen,
namentlich in England gemachten Versuche, denselben mit der modernen
Entwicklungslehre in Einklang zu bringen, sind völlig fehlgeschlagen. Für die
Naturwissenschaft gewann derselbe dadurch große Bedeutung, daß
Linné bei Begründung seines Natursystems (1735) ihn
annahm und zur Begriffsbestimmung der organischen (von ihm für beständig
gehaltenen) Spezies benutzte: »Es gibt so viele verschiedene Arten von Tieren
und Pflanzen, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen
erschaffen worden sind.« Dieses Dogma wurde ziemlich
allgemein bis auf Darwin (1859) festgehalten, obgleich Lamarck schon 1809 seine
Unhaltbarkeit dargelegt hatte.
·
(156) Erdalter
nach einer genauen geologischen Berechnung der neuesten Zeit mindestens 1400
Jahrmillionen (1,4 Milliarden JK); häufigste Schätzungen 100 bis 200 Millionen
Jahre
·
(111ff) Fünfzehntes Kapitel. Gott und
Welt.
Theismus: Gott und Welt sind zwei verschiedene Wesen … Vorstellung Gottes als
des Außerweltlichen oder Übernatürlichen;
Pantheismus (All-Eins-Lehre): Gott und Welt sind ein einziges Wesen. Der
Begriff Gottes fällt mit demjenigen der Natur oder der Substanz zusammen …
Daher ist notwendiger Weise der Pantheismus die Weltanschauung unserer modernen
Naturwissenschaft. … Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde
durch den großen Baruch Spinoza das System des Pantheismus in reinster Form
ausgebildet. …
Atheismus („die entgötterte Weltanschauung“): Es gibt keinen Gott und keine
Götter, falls man unter diesem Begriff persönliche, außerhalb der Natur
stehende Wesen versteht. Diese „gottlose Weltanschauung“ fällt im wesentlichen mit dem Monismus oder
Pantheismus unserer modernen Naturwissenschaft zusammen; sie gibt nur einen
anderen Ausdruck dafür, indem sie die negative Seite derselben hervorhebt, die
Nicht-Existenz der extramundanen oder übernatürlichen
Gottheit. In diesem Sinne sagt Schopenhauer ganz richtig: „Pantheismus ist nur
ein höflicher Atheismus. Die Wahrheit des Pantheismus besteht in der Aufhebung
des dualistischen Gegensatzes zwischen Gott und Welt, in der Erkenntnis, dass
die Welt aus ihrer inneren Kraft und durch sich selbst da ist. Der Satz des
Pantheismus „Gott und die Welt ist eins“ ist bloß eine höfliche Wendung, dem
Herrgott den Abschied zu geben.“
·
(118ff.) Sechzehntes Kapitel. Wissen
und Glauben.
·
(120) Hypothese und Glauben.
Der Erkenntnistrieb des hochentwickelten Kulturmenschen begnügt sich nicht mit
jener lückenhaften Kenntnis der Außenwelt, welche er durch seine unvollkommenen
Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht sich vielmehr, die sinnlichen Eindrücke, welche
er durch dieselben gewonnen hat, in Erkenntniswerte umzusetzen; er verwandelt sie
in den Sinnesherden der Großhirnrinde in spezifische Sinnesempfindungen und
verbindet diese durch Assozion in deren Denkherden zu
Vorstellungen; durch weitere Verkettung der Vorstellungsgruppen gelangt er
endlich zu zusammenhängendem Wissen. Aber dieses Wissen bleibt immer lückenhaft
und unbefriedigend, wenn nicht die Phantasie die ungenügende Kombinationskraft
des erkennenden Verstandes ergänzt und durch Assozion
von Gedächtnisbildern entfernt liegende Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden
Ganzen verknüpft. Dabei entstehen neue allgemeine Vorstellungsgebilde, welche
erst die wahrgenommene Tatsachen erklären und das
Kausalitätsbedürfnis der Vernunft befriedigen.
Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen oder an dessen
Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als »Glauben« bezeichnen. So
geschieht es fortwährend im alltäglichen Leben. Wenn wir irgendeine Tatsache
nicht sicher wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir
auch in der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuten oder nehmen
an, daß ein bestimmtes Verhältnis zwischen zwei
Erscheinungen besteht, obwohl wir dasselbe nicht sicher kennen. Handelt es sich
dabei um die Erkenntnis von Ursachen, so bilden wir uns eine Hypothese.
Indessen dürfen in der Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden,
die innerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen und die bekannten
Tatsachen nicht widersprechen. Solche Hypothesen sind z.B. in der Physik die
Lehre von Vibrationen des Äthers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren
Wahlverwandtschaft, in der Biologie die Lehre von der Molekularstruktur des
lebendigen Plasma usw.
Theorie und Glaube.
Die Erklärung einer größeren Reihe von zusammenhängenden Erscheinungen durch
Annahme einer gemeinsamen Ursache nennen wir Theorie. Auch bei der Theorie, wie
bei der Hypothese, ist der Glaube (in wissenschaftlichem Sinne!) unentbehrlich;
denn auch hier ergänzt die dichtende Phantasie die Lücke, welche der Verstand
in der Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge offen läßt.
Die Theorie kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit betrachtet
werden; es muß zugestanden werden, daß sie später durch eine andere, besser begründete Theorie
verdrängt werden kann. Trotz dieser eingestandenen Unsicherheit bleibt die
Theorie für jede wahre Wissenschaft unentbehrlich; denn sie erklärt erst die
Tatsachen durch Annahme von Ursachen. Wer auf die Theorie ganz verzichten und
reine Wissenschaft bloß aus »sicheren Tatsachen« aufbauen will (wie es oft von
beschränkten Köpfen in der modernen sogenannten »exakten Naturwissenschaft«
geschieht), der verzichtet damit auf die Erkenntnis der Ursachen überhaupt und
somit auf die Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses der Vernunft.
Die Gravitationstheorie in der Astronomie (Newton), die kosmologische
Gastheorie in der Kosmogenie (Kant und Laplace), das
Energieprinzip in der Physik (Mayer und Helmholtz), die Atomtheorie in der
Chemie (Dalton), die Vibrationstheorie in der Optik (Huygens), die
Zellentheorie in der Gewebelehre [310] (Schleiden und
Schwann), die Deszendenztheorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) sind
gewaltige Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze Welt von großen
Naturerscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache für alle einzelnen
Tatsachen ihres Gebietes und durch den Nachweis, daß
alle Erscheinungen in demselben zusammenhängen und durch feste, von dieser
einen Ursache ausgehende Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese Ursache
selbst ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine »provisorische Hypothese« sein.
Die »Schwerkraft« in der Gravitationstheorie und in der Kosmogenie,
die »Energie« selbst in ihrem Verhältnis zur Materie, der »Äther« in der Optik
und Elektrik, das »Atom« in der Chemie, das lebendige »Plasma« in der
Zellenlehre, die »Vererbung« in der Abstammungslehre – diese und ähnliche
Grundbegriffe in anderen großen Theorien können von der skeptischen Philosophie
als »bloße Hypythesen«, als Erzeugnisse des
wissenschaftlichen Glaubens betrachtet werden; sie bleiben uns aber als solche
unentbehrlich, so lange, bis sie durch eine bessere Hypothese ersetzt werden.
·
(133) Achtzehntes Kapitel: Unsere
monistische Religion