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Wann beginnt Leben?
Vortrag in der Evangelisch-Lutherischen
Diakonissenanstalt Dresden am 18.1.2001
Die Frage, wann menschliches Leben beginnt,
ist keine Frage aus reinem Erkenntnisinteresse. Sie hat ihren Hintergrund
vielmehr in der Frage, wann wir wie mit menschlichem Leben umgehen können oder
müssen. Am häufigsten diskutiert werden dabei gegenwärtig die Probleme um den
Schwangerschaftsabbruch und die Embryonenforschung.
Da ich davon ausgehe, dass Sie die
medizinischen Fakten sehr viel besser kennen als ich, werde ich dazu heute
Abend nichts sagen. Uns wird vielmehr erstens interessieren, welche Zeitpunkte
in der ethischen Diskussion als Lebensbeginn genannt werden und als wie
sinnvoll sich diese Zeitpunkte jeweils erweisen.
Zweitens werde ich einen kurzen Blick in die
Geschichte werfen: Ab wann wurde eigentlich in früheren Zeiten ein Mensch als
Mensch behandelt?
Drittens schließlich werde ich aus den
biologischen und philosophisch-theologischen Erkenntnissen einige
Schlussfolgerungen für die Ethik ziehen.
1. Der Anfang des Lebens
Welche Grenzen wurden und werden angenommen,
ab wann ein Mensch lebt? Die Antwort auf diese Frage hängt von manchen
Voraussetzungen ab. Die wichtigste ist die Antwort auf die Frage: Was ist ein
Mensch?
Die abendländische Tradition hat darauf zwei
Antworten gegeben:
1. Ein Mensch hat Bewusstsein, bzw.
Selbstbewusstsein.
2. Einem Menschen kommt die Menschenwürde zu:
Diese Menschenwürde kann man zum einen
theologisch begründen. Dann gründet die Menschenwürde in der
Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gn 1, 27). Eine andere Begründung lieferte
die Philosophie. Hier wird die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zu
selbstbestimmten Handeln gesehen.
Bereits hier wird eine wichtige Grenze
deutlich. Philosophisch nämlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass
ein Lebewesen, dem wir eine eigene Würde zuschreiben, ein Selbstbewusstsein
haben muss, was etwa bei Neugebornen so nicht der Fall ist. Natürlich kann man
philosophisch auch anders argumentieren. Etwa so: Zwar hat ein Säugling noch
kein Selbstbewusstsein, aber er wird es erlangen, und daher hat er bereits
potentiell Anteil an dem, was anderen Menschen ihre Würde verleiht.
Nimmt man aber einmal so ganz oberflächlich das
Selbstbewusstsein als Kriterium, könnte das tatsächlich menschliche Leben eines
Menschen erst weit nach der Geburt beginnen. Das vertritt so niemand, weil
schon der Augenschein dagegen spricht.
Wirklich relevant sind in der ethischen
Diskussion um den Lebensbeginn nur etwaige Zeitpunkte vor der Geburt. Ab wann,
so lautet die Frage eigentlich, ist ein Embryo oder ein Fötus ein Mensch?
Auch diese Frage ist nicht unabhängig davon ,
was uns als menschlich erscheint. Lassen sie mich einige Zeitpunkte nennen, die
in der Diskussion der Ethiker genant wurden.
Am weitesten hinten liegt der Punkt der
Schmerzempfindlichkeit bzw. der ersten Berührungsreflexe (ca. 80. Tag). Da wir
nach der Entwicklung des Ultraschalls für dieses Stadium aber schon sehr
deutlich menschliche Züge wahrnehmen, wird dies auch von niemandem heute mehr
vertreten.
Der nächste Punkt wird durch die Schließung des
Neuralrohres (ca. 35. Tag) markiert. Dies vertrat etwa der Bochumer
Philosoph Hans-Martin Sass.
Ernsthaft diskutiert werden heute drei
Zeitpunkte:
- 1. Der 14. Tag als Abschluss der Nidation
(der Embryo ist jetzt 0,2 –0,5 mm groß). Zu diesem Zeitpunkt ist die
Möglichkeit der Zwillingsbildung beendet.
- 2. Das 4-8 Zellstadium des Embryos als Ende
der Totipotenz der Zellen.
- 3. Die Befruchtung der Eizelle, genauer
Verschmelzung der Vorkerne.
Alle drei Zeitpunkte leben dabei von
einer ganz bestimmten Vorstellung dessen, was das Kriterium zur Unterscheidung
des Menschen von anderen Lebewesen ist.
Der erste Zeitpunkt (14. Tag) lebt von
Vorstellung der Individualität des Menschen. Erst wenn aus einem Embryo nur
noch ein Mensch werden kann, ist der Embryo als Mensch zu schützen, weil
Menschen einmalige Individuen sind. Der zweite Punkt lebt von einer ähnlichen
Vorstellung, verlegt aber den beginn der Individualität nach vorn. Der dritte
Punkt (Befruchtung) bezeichnet als Menschen eine Zelle, die einen menschlichen
Chromosomensatz trägt. Er bestimmt den Menschen also genetisch. Dieser
Zeitpunkt wird zumindest in der gegenwärtigen Diskussion in Deutschland
mehrheitlich befürwortet und er ist auch in der Rechtsprechung
(Embryonenschutzgesetz von 1990) so vorausgesetzt. Das ist innerhalb der
Diskussion um die Folgen der modernen Medizin nicht ganz ohne Ironie, weil wir
uns in allen anderen Fragen der Genetik meist vehement dagegen wehren, auf
unsere Gene reduziert zu werden. Deutlich geworden ist jedoch folgendes:
Welchen Zeitpunkt wir auch immer wählen, wir tun es in Abhängigkeit von einer
bestimmten Definition des Menschen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage,
ob die genanten Termine tatsächlich Einschnitte in der Entwicklung des Menschen
beschrieben. Mehrheitlich durchgesetzt hat sich in den letzten Jahren nämlich
die Auffassung, dass es keine Zäsur in der Entwicklung gäbe. Von der Befruchtung
an entwickelt sich ein Mensch kontinuierlich. Und selbst die Befruchtung ist
kein Punkt, sondern ein Prozess.
Dies bedeutet, dass die Naturwissenschaft uns
keinen Punkt angibt, von dem wir mit absoluter Gewissheit sagen könnten, ab
hier ist ein Mensch ein Mensch. Wir müssen also, wenn wir das überhaupt wollen,
einen Zeitpunkt festlegen. Und den müssen wir begründen.
Wann also beginnt das Leben? Die deutsche Rechtsprechung geht davon aus, dass ein Mensch von der Befruchtung an ein Mensch ist. Und dies scheint auch der sicherste Standpunkt zu sein. Denn wenn es unterwegs keine Halten gibt, ist der beste Punkt der Anfang. Aber ist der Anfang wirklich der Anfang? Im strikten Sinne ist menschliches leben immer schon da. Auch menschliche Keimzellen sind Leben. Genau dieser Sachverhalt wird jedoch in Zukunft immer wichtiger. Und er wird die scheinbar so einleuchtende Grenze der Befruchtung relativieren. Wenn es nämlich – wie bei dem Schaf Dolly erstmals – so auch beim Menschen gelingen sollte, aus beliebigen Zellen eines erwachsenen Individuums neue Individuen zu klonen, dann ist eben potentiell jede Zelle ein neuer Mensch. Das klingt lächerlich, aber theoretisch ist es wohl so (wenn auch nicht „natürlich“). Dann aber wird offensichtlich, was bislang eher verschleiert ist, dass wir es mit einem Kreislauf menschlichen Lebens zu tun haben.
2. Zur Geschichte des Lebensschutzes
Das Problem des Umgang mit ungeborenem Leben
ist ja nicht neu. Bereits in Ex. 21,22f. werden einem Mann, dessen Frau
bei einer Rempelei zweier anderer Männer getroffen wurde, und der daraufhin
ihre Fötus abgeht, Schadensersatzansprüche zugestanden. Aber auch nicht mehr
als das. Stirbt dagegen die Frau, tritt die Talionsformel in Kraft (Auge um
Auge...).
Diese Rechtssetzung zeigt, dass ein Kind als
Besitz des Mannes relevant war, nicht als eigenständiges Leben. Dieser Hinweis
gilt für die gesamte Antike und bis in die Neuzeit hinein.
Erst die Carolina von 1532 setzt den
Embryo als menschliches Leben, nicht als Besitz voraus. Gleichwohl geht auch
sie von einem abgestuften Lebensschutz aus. Ontologisch war dafür die auf den
griechischen Philosophen Aristoteles zurückgehende Beseelungslehre
verantwortlich. Hiernach trat zum männlichen Fötus die Seele erst am 40. Tag,
zum weiblichen sogar erst am 80. Tag hinzu, wodurch der Mensch erst eigentlich
zu entstehen schien. Bereits Augustin hatte ethisch unterscheiden: Wurde ein
Fötus in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium abgetrieben, handelte es
sich seiner Meinung nach um eine Tötung. Wurde dagegen eine Schwangerschaft in
einem frühen Stadium abgebrochen, hielt Augustin dies für ein Vergehen gegen
die Ehe.
Erst im 18. Jahrhundert verstärkte sich der
Lebensschutz, allerdings formuliert in erster Linie auf Kosten und zur Schuldbelastung
der Frauen. So hieß es im Preußischen Landrecht von 1795: „Sobald die
Leibesfrucht das Alter von 30 Wochen erfüllt hat, kann der Vorwand, dass die
Geschwächte ihre Schwangerschaft noch nicht wahrgenommen habe ... ferner nicht
stattfinden.“
Der umfassende Lebensschutz, um den es uns
heute zu tun ist, hat mitnichten immer schon gegolten. Das menschliche Leben
wurde erst mit der Beseelung in den Kreis der Menschen aufgenommen. Dies
festzustellen gebietet nicht allein die Ehrlichkeit. Es ist auch wichtig, um
die heutige Situation einzuschätzen. Allzu oft wird so getan, als würden wir in
einer Zeit der Barbarei leben, die auf einmal beginnt, das Leben nicht mehr zu
schützen. Das Gegenteil ist der Fall. Noch nie war die gesellschaftliche
Sensibilität gegenüber dem ungeborenen Leben so groß wie heute. Dass es daneben
Tendenzen geben mag, das vorgeburtliche Leben nicht ernst zu nehmen, ändert
daran nichts.
Dass ein Schwangerschaftsabbruch jetzt erlaubt
ist, während er – jeweils unterschiedlich befristet, früher in Deutschland
verboten war, sagt noch nichts über den tatsächlichen Schutz aus, den eine
Gesellschaft dem Leben gewährt. Verbote lösen nämlich bekanntlich keine
Probleme, sondern wälzen sie auf die Leidtragenden ab. Und sie geben der
Gesellschaft die Möglichkeit, nicht hinzuschauen. Diese Situation ist uns ja
aus zahlreichen Quellen und Dramen des 19. Jahrhundert bekannt.
3. Ethische Folgerungen
Aus dem Gesagten ist deutlich geworden, das
Leben letztlich dort beginnt, wo wir es beginnen lassen, freilich mit der
Einschränkung, dass es für verschiedene Zeitpunkte, die wir festlegen können,
bessere und schlechtere, plausiblere und weniger einleuchtende Gründe gibt.
In diesem Sinne scheint mir. nur die
Alternative zwischen dem Zeitpunkt der Befruchtung und dem Punkt der Nidation,
also dem 14. Tag, plausibel. Die erste Möglichkeit, lässt die eine Zelle
entstehen, aus der ein Mensch wird, bzw. werden kann, wenn er nicht stirbt. Und
die zweite Möglichkeit beschreibt den Punkt, an dem die Umwelt und der Embryo,
Mutter und Kind, so verbunden sind, dass eine Wechselbeziehung entsteht. Zudem
übernimmt von nun an das genetische Material des Embryos die Steuerung.
Aber wie gesagt, beide Zeitpunkte sind Festlegungen, Sie sind nicht „natürlich“ oder in irgendeiner Weise von Gott vorgegeben. Theologisch können wirt im Grunde zum Zeitpunkt auch nicht mehr sagen. Denn dass die Menschen zum Bilde Gottes geschaffen wurden, bedeutet nicht, dass sie es am 3. oder 4. Tag sind. Denn die Gottebenbildlichkeit ist keine vorfindliche Sache, die wir in der Anatomie finden könnten. Zudem muss man gerade als Lutheraner eigentlich darauf hinweisen, dass der Mensch mit der Sünde die Gottebenbildlichkeit vollständig verloren hat und sie erst durch die Erlösung dereinst in der Vereinigung mit Christus wiedererlangen kann.
Selbst wenn man aber einen Zeitpunkt des
Beginns menschlichen Lebens ab dem 14. Tag annimmt, heißt das nicht, dass man
mit Embryonen nach Willkür verfahren kann. Das aber hängt eigentlich weniger an
dem Embryo, sondern an unserem Umgang mit uns selbst.
Die Frage lautet: Was wollen wir zulassen im
Umgang mit frühen Stadien unseres Lebens. Und was hat das für Auswirkungen auf
unser Leben?
Gründe für oder gegen die Embryonenforschung
werden wir letztlich nicht im Embryo finden, sondern nur in unseren Zielen und
den möglichen Folgen. Wer davor Angst hat, dass man – wenn man die
Embryonenforschung zulässt, irgendwann alle Menschen zu Forschungen
missbraucht, wird das ablehnen. Wer meint, dass man solche Forschung sehr wohl
begrenzen könne, wird der Forschung in wichtigen Fällen vielleicht zustimmen
können. Schließlich lassen wir an Spermien ja auch forschen, obwohl darin
immerhin sehr viele halbe Menschen verborgen liegen.
Die Probleme, die wir gegenwärtig mit der
Forschung haben, liegen jedenfalls nicht zum geringen Teil in unseren
Gefühlen.. Das ist nicht abwertend gemeint. Wir müssen letztlich versuchen,
eine Entscheidung zu fällen, die mit unseren übrigen Lebensvollzügen zusammenstimmt.
Dabei sollten wir jedoch stets bedenken, dass auch diejenigen, die eine
gegenteilige Position vertreten, damit Gutes tun und Böses meiden wollen.
Prof. Christian Schwarke –
Direktor des Institutes
für Evangelische Theologie an der Technischen Universität Dresden