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         Berliner Rede von Bundespräsident Rau, 18.5.2001
 

          "Wird alles gut? - Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß"
          Berliner Rede 2001 in der Staatsbibliothek zu Berlin
 
 

                   I.

                   Fast täglich erreichen uns atemberaubende Meldungen aus
                   Wissenschaft und Forschung. Gerade die sogenannten
                   Lebenswissenschaften lassen uns staunen, in welche Bereiche der
                   Natur wir vordringen können. Lange schon hat uns der Fortschritt in
                   Biologie und Medizin nicht mehr so stark bewegt wie heute.

                   Krankheiten, die wir für unbesiegbar gehalten hatten, scheinen
                   heilbar zu werden. Genetische Defekte lassen sich möglicherweise
                   korrigieren. Neue Pflanzensorten sollen den Hunger ganzer
                   Weltregionen stillen.

                   Heute scheinen Menschheitsträume wahr zu werden. Wir werden zu
                   Mitspielern der Evolution.
                   Gleichzeitig werden Ängste wach.

                   Wir erleben ja höchst Widersprüchliches: Einerseits hören wir,
                   schon bald solle der erste Mensch geklont werden. Und auf der
                   anderen Seite sind wir nicht imstande, eine seit Jahrhunderten
                   bekannte Tierseuche in den Griff zu bekommen.

                   Wir hören, dass sich menschliche Eigenschaften künftig
                   vorherbestimmen lassen - und gleichzeitig können wir nicht
                   verhindern, dass neue Krankheiten sich ausbreiten.

                   Manche fragen besorgt: Werden wir zu Zauberlehrlingen? Setzen wir
                   Entwicklungen in Gang, deren Folgen wir weder überblicken noch
                   beherrschen können?

                   Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Möglichkeiten
                   stellen uns vor grundsätzliche Fragen:

                        Wie gehen wir mit der Natur um?
                        Wie gehen wir mit der Gattung Mensch um?
                        Was bedeutet Fortschritt heute?
 
 
 
 

                   Es geht aber auch um ganz praktische Fragen:

                   Werden in der Forschung und in der Wissenschaft die richtigen
                   Schwerpunkte gesetzt oder lassen wir uns von bestimmten Moden
                   leiten?

                        Kümmern wir uns um die Luxusprobleme von wenigen?
                        Vernachlässigen wir darüber Forschungsfelder, die für viele
                        Menschen überlebenswichtig sind?
 
 
 
 

                   Hier wirft die Wissenschaft Fragen auf, die uns alle angehen. Sie
                   müssen in der ganzen Gesellschaft diskutiert und sie müssen dann
                   politisch entschieden werden - im Parlament.

                   Gerade die Wissenschaftler, die Forscher und die Ingenieure haben
                   einen Anspruch auf klare Rahmenbedingungen. Wir verdanken ihnen
                   viel von dem, was wir gewöhnlich Lebensqualität nennen. Sie
                   arbeiten auf vielen Feldern an besseren Lebensbedingungen für uns,
                   auch da, wo es nicht um spektakuläre Durchbrüche geht.

                   Wir alle leben von der Neugier der Forscherinnen und Forscher, von
                   ihrer beharrlichen Arbeit, von ihrer Leidenschaft für die Sache. Ihre
                   Leistungen verdienen hohe Anerkennung und breite Unterstützung.
                   Darum will ich gerade junge Menschen ermutigen, in Wissenschaft
                   und Forschung zu arbeiten.

                   Heute möchte ich dazu beitragen, dass wir in all unseren Debatten
                   Ausschau halten nach dem, was ich das menschliche Maß nenne.
                   Ich möchte dabei den Blick auf jenen Bereich der neuen
                   Möglichkeiten richten, in dem die Veränderungen so dramatisch
                   sind wie sonst nirgendwo - den Umgang mit dem menschlichen
                   Leben.
 
 

                   II.

                   Wer von "Maß" spricht, der spricht von Grenzen. Ohne Grenzen,
                   ohne Begrenzung, gibt es kein Maß.

                   Aber ist das nicht ein Widerspruch: von Fortschritt und zugleich von
                   Grenzen zu sprechen? "Denken heißt überschreiten" - das war das
                   Motto von Ernst Bloch, dem großen deutschen Philosophen der
                   Hoffnung. Ja: Denken - forschen, wissen, entdecken - das heißt
                   überschreiten.

                   Wir wissen aber auch: Jedes Überschreiten von Grenzen stellt uns
                   immer wieder vor neue: Vor Grenzen der Erkenntnis, vor Grenzen
                   dessen, was wir Menschen können, vor Grenzen dessen, was wir
                   verantworten können. Dafür brauchen wir Maßstäbe, die uns
                   unterscheiden helfen, was wir tun dürfen und was wir nicht tun
                   dürfen. Wir müssen uns die nur scheinbar einfache Frage vorlegen:
                   Was ist gut für den Menschen?

                   Was aber ist dem Menschen gemäß? Was ist das "Menschliche" am
                   "menschlichen Maß"? Ist nicht gerade "das Menschliche" eine sehr
                   vieldeutige Kategorie? In seinem Schauspiel "Antigone" hat
                   Sophokles vor fast 2.500 Jahren die großen Leistungen und
                   Erfindungen der Menschheit benannt. Und er fasst sein Staunen
                   darüber so zusammen: "Ungeheuer ist viel, nichts aber ist
                   ungeheurer als der Mensch".

                   Heute staunen wir wieder - wie damals Sophokles - über die
                   ungeheuren Leistungen, die uns Menschen möglich sind - und
                   manchesmal halten wir erschreckt inne.
 
 

                   III.

                   Die Antworten auf die Frage: "Was ist gut für den Menschen?"
                   finden wir weder in der Natur noch in unseren technischen
                   Möglichkeiten. Wir können sie nur finden, wenn wir ethische
                   Grundsätze für unser persönliches Leben und für das
                   Zusammenleben von Menschen formulieren, achten und selber
                   leben. Ganz gleich, was wir tun oder nicht tun, wir treffen ja immer
                   wertende Entscheidungen - gewollt oder unbedacht, bewusst oder
                   unbewusst.

                   Auch wenn wir über die neuen Möglichkeiten der
                   Lebenswissenschaften sprechen, geht es nicht in erster Linie um
                   wissenschaftliche oder um technische Fragen. Zuerst und zuletzt
                   geht es um Wertentscheidungen. Wir müssen wissen, welches Bild
                   vom Menschen wir haben und wie wir leben wollen.

                   Ethische Grundsätze zu formulieren, das bedeutet, sich auf
                   Maßstäbe und auf Grenzen zu verständigen.

                   Nun ist es immer leicht, die Trauben zu verschmähen, die
                   unerreichbar hoch hängen. Schwierig ist es, Grenzen da zu setzen
                   und zu akzeptieren, wo man sie überschreiten könnte und sie sogar
                   dann zu respektieren, wenn man dadurch auf bestimmte Vorteile
                   verzichten muss. Ich glaube aber, dass wir genau das tun müssen.

                   Ich glaube, dass es Dinge gibt, die wir um keines tatsächlichen oder
                   vermeintlichen Vorteiles willen tun dürfen. Tabus sind keine Relikte
                   vormoderner Gesellschaften, keine Zeichen von Irrationalität. Ja,
                   Tabus anzuerkennen, das kann ein Ergebnis aufgeklärten Denkens
                   und Handelns sein.
 
 

                   IV.

                   In der Diskussion über die Möglichkeiten der Lebenswissenschaften
                   spielen Hoffnungen eine ganz große Rolle.

                   Die Heilung von schweren und schwersten Krankheiten: das ist es,
                   was viele Menschen sich in erster Linie von den Fortschritten in der
                   Bio- und Gentechnik versprechen. Viele leiden so sehr, dass sie
                   und ihre Angehörigen inständig Heilungsmöglichkeiten und
                   Linderungen herbeisehnen.

                   Die meisten von uns kennen kranke Menschen, denen unsere
                   Ärztinnen und Ärzte heute nicht oder nicht genug helfen können.
                   Wer versteht nicht, dass sie auf jede Entwicklung setzen, die ihnen
                   Hilfe verspricht?

                   Überall auf der Welt wird zum Glück an Arzneimitteln und
                   Behandlungsformen geforscht und gearbeitet, die kranken
                   Menschen helfen sollen. Das geschieht - mit guten Aussichten -
                   auch mit solchen Methoden der Bio- und Gentechnik, die niemanden
                   in Gewissensnöte zu bringen brauchen. Diese Forschung verdient
                   jede Ermutigung und Unterstützung.

                   Es gibt in der Tat große Aufgaben: Denken wir nur an einige
                   Krankheiten, die uns in unserem Teil der Welt täglich gegenwärtig
                   sind: Diabetes, Krebs, Multiple Sklerose, Parkinson, Alzheimer.
                   Vergessen wir aber nicht, dass in anderen Teilen der Welt Hunderte
                   von Millionen Menschen noch mit ganz anderen Krankheiten zu
                   kämpfen haben. Dabei denke ich nicht nur an AIDS, das für weite
                   Teile des afrikanischen Kontinents eine noch weit größere
                   Bedrohung ist als für uns, ich denke an Malaria, an Hepatitis oder an
                   Parasitenbefall, an dem fast die Hälfte der Weltbevölkerung leidet.

                   Hier reichen manchmal wenige Mittel, um ganz vielen leidenden
                   Menschen wirkungsvoll zu helfen. Wenn wir uns in Wissenschaft und
                   Forschung zusätzlich anstrengen, dann können wir für Millionen
                   Menschen weltweit außerordentlich großen Nutzen bringen.

                   Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unendlich viel Gutes
                   erreichen können, ohne dass Forschung und Wissenschaft sich auf
                   ethisch bedenkliche Felder begeben müssen.

                   Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon.
 
 

                   V.

                   Wenn ich von manchen Verheißungen angesichts der großen
                   Möglichkeiten der Lebenswissenschaften höre, dann erinnert mich
                   das an die Euphorie, die viele in den fünfziger und sechziger Jahren
                   erfasst hatte. Damals ging es um die friedliche Nutzung der
                   Atomenergie, die auch ich lange Jahre für den richtigen Weg
                   gehalten habe.

                   Damals träumten viele - nicht nur Wissenschaftler - von nie
                   versiegender Energie zu konkurrenzlos niedrigen Preisen.

                   Die Atomenergie sollte alles möglich machen: Wüsten zum Blühen
                   bringen, Autos zum Fahren und sie sollte sogar das Sprengen für
                   den Straßenbau erleichtern. Heute staunen die meisten über so viel
                   Naivität und über so viel schlichten Glauben an den Fortschritt.

                   Als der Deutsche Bundestag am 3. Dezember 1959 das Gesetz
                   über die friedliche Nutzung der Kernenergie verabschiedete, hat
                   sich ein Abgeordneter der Stimme enthalten. Alle anderen haben
                   dafür gestimmt. Die Kernenergie zu nutzen, das erschien als das
                   Selbstverständlichste von der Welt. An die Brisanz vieler Probleme,
                   zum Beispiel der Entsorgung, hat man zu wenig gedacht und andere
                   hat man sich gar nicht erst vorstellen können. Das sollte uns ein
                   wenig skeptisch machen, wenn neue Technologien das Paradies auf
                   Erden zu versprechen scheinen.

                   Vielleicht hat Ernst Bloch an solche Situationen gedacht, als er
                   einen Satz Hölderlins umkehrte und warnte: "Wo aber das Rettende
                   naht, wächst auch die Gefahr".
 
 

                   VI.

                   Was in der Biotechnologie und in der Fortpflanzungsmedizin
                   geschieht oder möglich ist, das hat in einem wesentlichen Punkt
                   eine völlig neue Qualität: Da geht es nicht mehr allein um
                   technologische Chancen und Risiken für Mensch und Umwelt. Zum
                   ersten Mal scheint die Menschheit fähig, den Menschen selber zu
                   verändern, ja ihn genetisch neu zu entwerfen.

                   Angesichts der moralischen Dimension dieser Fragen wird es
                   niemanden erstaunen, dass die Kirchen hier besonders engagiert
                   sind. Es wäre aber ein Irrtum, zu glauben, es handelte sich dabei um
                   bloße kirchliche Sondermoral.

                   Man muss ja wahrlich kein gläubiger Christ sein, um zu wissen und
                   um zu spüren, dass bestimmte  Möglichkeiten und Vorhaben der
                   Bio- und Gentechnik im Widerspruch zu grundlegenden
                   Wertvorstellungen vom menschlichen Leben stehen. Diese
                   Wertvorstellungen sind - nicht nur bei uns in Europa - in einer
                   mehrtausendjährigen Geschichte entwickelt worden. Sie liegen auch
                   dem schlichten Satz zu Grunde, der in unserem Grundgesetz allem
                   anderen vorangestellt ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
 

                   Diese Wertvorstellungen zieht niemand ausdrücklich in Zweifel. Wir
                   können es uns aber auch nicht leisten, ethische Überzeugungen
                   unbewusst oder schweigend aufzugeben oder sie zur
                   Privatangelegenheit zu erklären.

                   Wir müssen uns darüber klar sein, was die Folgen wären, wenn wir
                   den Wertekanon, den wir in einer langen Geschichte entwickelt
                   haben, als Grundlage allen staatlichen Handelns in Frage stellten.
                   Würden wir dann nicht die Gefangenen einer Fortschrittsvorstellung,
                   die den perfekten Menschen als Maßstab hat? Würden damit nicht
                   Auslese und schrankenlose Konkurrenz zum obersten
                   Lebensprinzip?

                   Das wäre eine völlig andere, das wäre eine neue Welt - keine
                   schöne.

                   Nach meinem Eindruck haben sich solche Vorstellungen durchaus
                   schon verbreitet. Das zeigen manche Argumente, die man zuweilen
                   in der Debatte über Fragen der Gentechnologie hören kann. Die
                   Optimierung zum Stärksten und Besten wird zu einer
                   selbstverständlichen Vorstellung. Wird dann nicht der menschliche
                   Körper selber zur Ware und zu einem Gegenstand ökonomischen
                   Kalküls?

                   Selbstverständlich: Wirtschaftliche Argumente haben einen
                   legitimen Platz in der Debatte über die Nutzung des medizinischen
                   Fortschritts. Für Arbeitsplätze zu sorgen, für gesicherte
                   Lebensverhältnisse - das ist natürlich auch eine ethisch begründete
                   Verpflichtung. Dazu gehört Unternehmergeist. Dazu gehört das
                   Streben nach wirtschaftlichem Erfolg. Dazu gehört politische
                   Leistung. Die Teilhabe aller an Fortschritt und Wohlstand ist ein
                   Gebot der Gerechtigkeit.

                   Entscheidend sind aber doch Rangordnung und Gewichtung der
                   Argumente. Wir sind uns gewiss einig darüber, dass etwas ethisch
                   Unvertretbares nicht dadurch zulässig wird, dass es
                   wirtschaftlichen Nutzen verspricht.

                   Wo die Menschenwürde berührt ist, zählen keine wirtschaftlichen
                   Argumente.

                   Zur Ernsthaftigkeit und zur Lauterkeit gehört es aber auch, dass
                   ethische Argumente nicht dazu missbraucht werden, andere
                   Interessen durchzusetzen.
 

                   VII.

                   Eine der Schwierigkeiten der Debatte, die wir führen müssen, liegt
                   darin, dass die wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen
                   so schnell voranschreiten. Wir kommen kaum noch dazu, ihre
                   Chancen und ihre Risiken kritisch zu reflektieren. Beschleunigung,
                   wachsender Zeitdruck sind aber selbstgemachte Sachzwänge,
                   denen wir uns nicht ausliefern dürfen. Ethische Reflektion darf nicht
                   zum moralischen Deckmantel für längst getroffene Entscheidungen
                   verkommen.

                   Nachdenken kann man nur, wenn zwischen Entdeckung und
                   Anwendung Zeit bleibt, wenn wir die möglichen Folgen bedenken
                   können, bevor sie eingetreten sind. Es hat ja gute Gründe, dass zum
                   Beispiel Medikamente erst nach angemessener Zeit und nach
                   sorgfältiger Prüfung für die allgemeine Praxis zugelassen werden.

                   Wo kommen wir hin, wenn wir über gravierende Veränderungen erst
                   dann nachdenken können, wenn sie schon längst eingetreten sind?
 
 

                   VIII.

                   Bei uns in Deutschland darf an Embryonen nicht geforscht werden.
                   Das haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus ganz
                   unterschiedlichen Überzeugungen heraus im Jahre 1990
                   beschlossen. Sie haben als Beginn des schutzwürdigen
                   menschlichen Lebens die befruchtete Eizelle festgelegt.

                   Wer die Auffassung nicht teilt, dass menschliches Leben mit diesem
                   Zeitpunkt beginnt, der muss die Frage beantworten: Ab welchem
                   anderen Zeitpunkt sollte menschliches Leben absolut geschützt
                   werden? Und warum genau erst ab diesem späteren Zeitpunkt?

                   Wäre nicht jede solche andere Grenzziehung willkürlich und dem
                   Druck auf neuerliche Veränderung ausgesetzt? Bestünde nicht die
                  Gefahr, dass andere Interessen dann höher rangierten als der
                   Schutz des Lebens? Nicht jedem scheint klar zu sein, was das über
                   diese spezielle Debatte hinaus bedeutet. Es würde bedeuten, das
                   ethisch Verantwortbare stets neu den technischen Möglichkeiten
                   anzupassen. Auch hochrangige Ziele wissenschaftlicher Forschung
                   dürfen nicht darüber bestimmen, ab wann menschliches Leben
                   geschützt werden soll.
 
 

                   IX.

                   Manche fordern, dass auch in Deutschland die
                   Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, erlaubt werden soll. Dabei
                   geht es um die Frage: Soll bei einer künstlichen Befruchtung ein
                   Embryo auf genetische Schäden untersucht werden, bevor er in den
                   Körper einer Frau eingepflanzt wird? Darf der Embryo beseitigt oder
                   darf er verwertet werden, wenn solcher Schaden festgestellt wird?

                   Dieses Verfahren - so sagen seine Befürworter - soll nur in ganz
                   wenigen Fällen angewendet werden, nämlich bei Paaren, bei denen
                   mit schweren Erbschäden gerechnet werden muss. Selbst nach
                   Auffassung ihrer Befürworter handelt es sich also um eine Methode,
                   die so problematisch ist, dass sie nur ganz selten eingesetzt werden
                   soll - obwohl sie in tausenden von Fällen angewendet werden
                   könnte.

                   Aber müssen wir nicht fragen:

                   Wäre eine solche Beschränkung einzuhalten, wenn die Erlaubnis
                   einmal grundsätzlich gegeben ist? Widerspricht das nicht aller
                   Lebenserfahrung? Und muss man deshalb nicht die Befürchtungen
                   jener verstehen, die glauben, dass mit dieser neuen Form von
                   Diagnostik die Tür geöffnet wird oder geöffnet werden soll zu ganz
                   anderen Zielen. Nun wird gesagt, die PID könne man schon
                   deswegen nicht verbieten, weil bei uns jedes Jahr Tausende von
                   Abtreibungen straflos bleiben. Dieses Argument übersieht, dass es
                   sich hier um zwei vollkommen unterschiedliche Sachverhalte
                   handelt.

                   Erinnern wir uns an die schwierige Debatte zum Paragraf 218: Eine
                   breite Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages war
                   der Überzeugung, dass das Leben des Kindes nicht gegen den
                   Willen der Frau geschützt werden kann und dass Beratung und
                   praktische Unterstützung das Leben besser schützen als
                   Strafandrohung. Darum stellt der Paragraf 218 eine Abtreibung
                   unter bestimmten Bedingungen straffrei.

                   Er ist also kein Argument für die Präimplantationsdiagnostik, denn
                   er zielt auf die unvergleichbare Konfliktsituation während einer
                   Schwangerschaft. Er rechtfertigt keine Praxis, die das Tor weit
                   öffnet für biologische Selektion, für eine Zeugung auf Probe.
 
 

                   X.

                   Kinder sind ein Geschenk. Ich weiß, wie bitter es für viele ist, wenn
                   sie keine Kinder bekommen können.

                   Wenn es die Möglichkeit gibt, Kinder künstlich zu erzeugen oder die
                   genetischen Anlagen eines Embryos zu testen - entsteht dann nicht
                   leicht eine Haltung, dass jede und jeder, der eigene Kinder
                   bekommen will, auch das Recht dazu habe - und zwar sogar das
                   Recht auf gesunde Kinder? Wo bisher unerfüllbare Wünsche erfüllbar
                   werden oder erfüllbar scheinen, da entsteht daraus schnell ein
                   Anschein von Recht.

                   Wir wissen aber doch, dass es ein solches Recht nicht gibt. Noch so
                   verständliche Wünsche und Sehnsüchte sind keine Rechte. Es gibt
                   kein Recht auf Kinder. Aber es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder
                   auf liebende Eltern - und vor allem das Recht darauf, um ihrer selbst
                   willen zur Welt zu kommen und geliebt zu werden.
 
 

                   XI.

                   Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des
                   Einzelnen gehören spätestens seit der Aufklärung zu den großen
                   Errungenschaften unserer Zivilisation.

                   Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen hat herausragende
                   Bedeutung. Das darf uns den Blick nicht dafür verstellen, dass auch
                   Selbstbestimmung an Voraussetzungen gebunden ist und dass sie
                   Grenzen hat.

                   Wir sollten auch bedenken: Nicht jede zusätzliche Wahlmöglichkeit
                   führt automatisch zu mehr Freiheit. Das gilt auch für den
                   medizinischen Fortschritt. Was wie freie Selbstbestimmung
                   aussieht, kann sich umkehren in faktischen Zwang.

                   Das wird besonders deutlich, wenn wir an das denken, was moderne
                   Diagnosemöglichkeiten für unseren Umgang mit Behinderungen
                   bedeuten könnten. Wird nicht in Zukunft immer häufiger die Frage
                   gestellt werden, ob es denn nötig gewesen sei, ein behindertes Kind
                   zur Welt zu bringen? Heute sei doch niemand mehr dazu gezwungen.

                   Wird so Behinderung vorwerfbar werden? Wird sie als Schädigung
                   der Gesellschaft verstanden werden?
 
 

                   XII.

                   Wie scheinbare Selbstbestimmung neue Zwänge erzeugen kann, das
                   lässt sich an einem Beispiel aus jüngster Zeit zeigen. In den
                   Niederlanden ist kürzlich die gesetzliche Grundlage für aktive
                   Sterbehilfe geschaffen worden. Umfragen weisen darauf hin, dass es
                   auch bei uns für eine solche Regelung eine weit verbreitete
                   Stimmung gibt. Auch in dieser Diskussion wird die
                   Selbstbestimmung des Menschen, seine Autonomie, als wichtigstes
                   Argument genannt.

                   Wo es um das Ende des eigenen Lebens geht, scheint dieses
                   Argument auf den ersten Blick besonders zu überzeugen. Aber gilt
                   nicht, was ein Arzt vor kurzem so formuliert hat: "Wo das
                   Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, wird jeder
                   rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens
                   aufbürdet".

                   Was die Selbstbestimmung des Menschen zu stärken scheint, kann
                   ihn in Wahrheit erpressbar machen.

                   Dem steht das Argument entgegen, man dürfe etwas nicht allein
                   deshalb verbieten, weil es zu ungewollten schlimmen Konsequenzen
                   oder auf eine schiefe Bahn führen könne. Entsprechende Regelungen
                   könnten Fehlentwicklungen verhindern.

                   Spricht aber nicht sehr viel gegen die Hoffnung, dass
                   Fehlentwicklungen oder gar Missbrauch sich aufhalten ließen? Das
                   ist keine akademische Frage. In den Niederlanden berufen sich die
                   Gegner des neuen Gesetzes auf eine staatlich geförderte
                   wissenschaftliche Studie. Sie hatte zum Ergebnis, dass es während
                   der sogenannten Erprobungsphase vor der gesetzlichen Regelung
                   der aktiven Sterbehilfe jährlich 1.000 Fälle gab, in denen, ich
                   zitiere, "lebensbeendende Handlungen ohne ausdrücklichen
                   Wunsch" des Getöteten vorgenommen worden sind.

                   Auch das sollte man sich vor Augen führen, wenn man über aktive
                   Sterbehilfe spricht.
 
 

                   XIII.

                   Wenn ich es recht sehe, sind deshalb so viele Menschen für aktive
                   Sterbehilfe, weil sie große Angst davor haben, am Ende ihres
                   Lebens Leid und Schmerzen nicht mehr auszuhalten, ihnen hilflos
                   ausgeliefert zu sein. Sie haben Angst davor, alleingelassen zu sein
                   oder anderen zur Last zu fallen. Sie haben Angst davor, Schmerzen
                   nicht mehr ertragen zu können und würdelos dahinzusiechen.

                   Ich verstehe diese Angst gut. Ich habe sie auch.

                   Die aktive Sterbehilfe ist aber nicht die einzig mögliche Antwort auf
                   diese verständliche Verzweiflung.

                   Ja, wir brauchen einen anderen Umgang mit dem Sterben und dem
                   Tod. Wir müssen wieder lernen: Es gibt viele Möglichkeiten,
                   sterbenskranken Menschen beizustehen, sie zu trösten und ihnen zu
                   helfen. Oft ist schon entscheidend, sie nicht allein zu lassen.

                   Die wirksamste medizinische Hilfe ist in vielen Fällen eine gute
                   Schmerztherapie. Mich hat tief beeindruckt, was neulich einer der
                   Pioniere der deutschen Schmerztherapie, Prof. Eberhard Klaschik, in
                   einem Interview dazu sagte:

                   "Ich behandele seit fast 20 Jahren Patienten, die nicht heilbar sind.
                   Viele, die zu uns kommen, sagen: So kann ich nicht mehr leben, so
                   will ich nicht mehr leben, die Schmerzen sind zu groß [...]. All diesen
                   Patienten haben wir helfen können."

                   Viele Ärzte bestätigen diese Erfahrung. Wenn das so ist, dann ist
                   der Streit um die aktive Sterbehilfe die falsche Debatte. Wir können
                   und wir müssen viel mehr als bisher für die Schmerztherapie tun.
                   Das ist ein Feld, das lange Zeit sträflich vernachlässigt worden ist.
                   Ich wünsche mir, dass Deutschland bei der Schmerzforschung und
                   bei der Schmerztherapie so schnell wie möglich vorbildlich wird. Das
                   ist nun wirklich zutiefst human und ist im Interesse eines jeden von
                   uns.

                   Der Blick in die Niederlande oder auch nach Großbritannien und in
                   andere Länder zeigt: Über den Umgang mit dem Leben und mit den
                   Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts wird derzeit überall
                   intensiv und mit großem Ernst diskutiert. Zum Teil werden bisher
                   geltende Grundsätze tiefgreifend verändert. Niemand macht sich die
                   Entscheidungen leicht.

                   Ich hielte es für gut, wenn wir uns, in dem Maße wie Europa weiter
                   zusammenwächst und wie wir uns unserer gemeinsamen Werte
                   versichern, in Zukunft stärker auch über diese Fragen austauschen
                   würden.
 
 

                   XIV.

                   Eugenik, Euthanasie und Selektion: Das sind Begriffe, die in
                   Deutschland mit schlimmen Erinnerungen verbunden sind. Sie rufen
                   deshalb - zu Recht - emotionale Abwehr hervor. Trotzdem halte ich
                   das Argument für ganz falsch und irreführend, wir Deutsche dürften
                   bestimmte Dinge wegen unserer Geschichte nicht tun. Wenn wir
                   etwas für unethisch und unmoralisch halten, dann deshalb, weil es
                   immer und überall unethisch und unmoralisch ist. In fundamentalen
                   ethischen Fragen gibt es keine Geografie des Erlaubten oder des
                   Unerlaubten.

                   Richtig ist: Die Erfahrung, die wir mit dem Nationalsozialismus
                   gemacht haben, speziell mit Forschung und Wissenschaft im Dritten
                   Reich, muss für die ethische Urteilsfindung - nicht nur bei uns - eine
                   ganz wichtige Rolle spielen. Wir erinnern daran nicht, weil wir
                   moralischer sein wollen als alle anderen. Nein, es geht nicht um
                   deutsche Sondermoral.

                   Niemand darf vergessen, was damals auch in Wissenschaft und
                   Forschung geschehen ist. Entwicklungen, die schon vor 1933 und
                   auch in anderen Ländern begonnen hatten, konnten dann ohne jede
                   Grenze weiter gehen. Eine entfesselte Wissenschaft forschte - um
                   ihrer wissenschaftlichen Ziele willen - ohne moralische Skrupel.

                   Ich erinnere immer wieder daran, dass die Geschichte uns hilft -
                   nicht nur uns Deutschen - zu begreifen, was geschieht, wenn
                   Maßstäbe verrückt werden, wenn Menschen vom Subjekt zum
                   Objekt gemacht werden. Wer einmal anfängt, menschliches Leben
                   zu instrumentalisieren, wer anfängt, zwischen lebenswert und
                   lebensunwert zu unterscheiden, der ist in Wirklichkeit auf einer Bahn
                   ohne Halt.

                   Die Erinnerung daran ist ein immerwährender Appell: Nichts darf
                   über die Würde des einzelnen Menschen gestellt werden. Sein Recht
                   auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Achtung seiner Würde
                   darf keinem Zweck geopfert werden. Eine Ethik, die auf diesen
                   Grundsätzen beruht, gibt es freilich nicht umsonst. Es hat einen
                   Preis, wenn wir nach ethischen Grundsätzen handeln.
 
 

                   XV.

                   Weil es hier im wahrsten Sinne des Wortes um existenzielle Fragen
                   geht, muss ganz besonders gelten: Wenn wir begründete Zweifel
                   haben, ob wir etwas technisch Mögliches tun dürfen oder nicht, dann
                   muss es so lange verboten sein, bis alle begründeten Zweifel
                   ausgeräumt sind.

                   Ich kenne den Satz: "Die Anderen tun es doch auch". Aber wir
                   sagen doch schon unseren Kindern, dass sie tun müssen, was
                   richtig ist, ganz gleich, was andere machen. Und wir akzeptieren
                   dieses Argument ja auch nicht im Falle von Kinderarbeit, von
                   Sklaverei oder bei der Todesstrafe.

                   Das gleiche gilt für das ähnliche Argument: "Wenn wir es nicht tun,
                   dann tun es die Anderen". Dieses Argument ist Ausdruck ethischer
                   Kapitulation. Es scheint allerdings dann besonders stichhaltig zu
                   sein, wenn es ökonomisch aufgeladen wird: Wenn wir dies und jenes
                   nicht tun, dann tun es andere - und die setzen sich dann an die
                   Spitze des Fortschritts, die verschaffen sich Standortvorteile, die
                   verdrängen uns vom Markt.

                   Mit diesem Argument müssten wir zum Beispiel auch unbegrenzten
                   Rüstungsexport betreiben. Das tun wir aber nicht. Zu Recht - und
                   letztlich auch nicht zu unserem Schaden.

                   Ich wiederhole: Ökonomische Interessen sind legitim und wichtig.
                   Sie können aber nicht gegen die Menschenwürde und den Schutz
                   des Lebens aufgewogen werden. Wer den Schutz des Lebens an
                   seinem Beginn aufgibt, der wird das bald auch für das Ende des
                   Lebens geltend machen können. Dann wird vielleicht gefragt:
                   Können wir uns den hohen Pflegeaufwand am Ende des Lebens
                   leisten? Wäre es nicht ökonomisch vernünftiger, Alte und Kranke
                   willigten rechtzeitig in die Sterbehilfe ein?

                   Ich weiß, dass niemand so etwas vorschlägt. Aber wir alle wissen
                   auch, dass beste Absichten oft nicht verhindern können, dass
                   schließlich geschieht, was anfangs niemand wollte.

                   Und ich weiß auch, dass schon heute alte Menschen sich solchen
                   Fragen drangvoll ausgesetzt fühlen.
 
 

                   XVI.

                   Die Fortschritte in den Lebenswissenschaften wecken zum Glück
                   auch die berechtigte Hoffnung, dass wir vieles verbessern können.
                   Wir alle wünschen uns, dass Krankheiten immer genauer erforscht
                   und immer wirksamer behandelt werden können. Gentechnik und
                   Genomforschung spielen dabei eine wichtige Rolle.

                   Ja, ich bin zuversichtlich: vieles wird besser werden. Aber glauben
                   wir nicht den falschen Propheten, die uns sagen: alles wird gut.

                   Gegen alle Heilsversprechungen und gegen alle Ohnmachtsgefühle
                   sage ich: Fortschritt nach menschlichem Maß kennt seinen Wert
                   und weiß um seine Werte. Das Gegenteil von unbegrenztem
                   Fortschritt ist nicht Stillstand oder Rückschritt. Wer gegen einen
                   Fortschritt um jeden Preis plädiert, der ist kein Gegner des
                   Fortschritts.

                   Um unserer Freiheit willen müssen wir fragen: Was von den vielen
                   neuen Möglichkeiten ist gut? Was müssen wir unbedingt versuchen?
                   Was dürfen wir keinesfalls tun?

                   Unser Umgang mit diesen Fragen muss geprägt sein vom Respekt
                   vor dem Leben von Anfang an. Die Würde des Menschen lässt sich
                   gegen keinen anderen Wert aufrechnen.

                   Das Leben erinnert uns immer wieder daran, dass wir Menschen -
                   bei allem Fortschritt - immer endliche Wesen bleiben.

                   Wenn wir so tun, als seien unsere Möglichkeiten grenzenlos,
                   überfordern wir uns selber. Dann verlieren wir das menschliche Maß.
 
 
 

                   XVII.

                   Die Fragen nach Leben und Sterben betreffen uns alle. Darum dürfen
                   sie nicht allein die Sache von Experten sein. Wir können unsere
                   Antworten nicht delegieren: Nicht an die Wissenschaft, nicht an
                   Kommissionen und nicht an Räte. Sie können uns gewiss helfen,
                   aber wir müssen die Antworten selber geben. Wir müssen über diese
                   Fragen streiten und dann gemeinsam entscheiden.

                   Es geht um politische Entscheidungen. Wer die Entscheidungen
                   über das, was gemacht werden soll, der Wissenschaft überlassen
                   will, der verwechselt die Aufgaben von Wissenschaft und Politik in
                   einem demokratischen Rechtsstaat.

                   Wir brauchen eine fundierte und gewissenhafte öffentliche
                   Diskussion, in der nichts unausgesprochen bleibt: Weder die
                   Absichten noch die Ziele, weder die Hoffnungen noch die Ängste,
                   die sich mit den neuen Möglichkeiten verbinden.

                   Wir brauchen Aufklärung im besten Sinn des Wortes. Aufklärung
                   richtet sich gleichermaßen gegen irrationale Ängste und
                   apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische
                   Machbarkeitsphantasien.

                   Wir müssen uns gemeinsam immer wieder neu darauf verständigen,
                   welche Richtung wir dem Fortschritt geben wollen.

                   Wir müssen immer wieder neu entscheiden, welche Grenzen wir
                   überschreiten und welche Grenzen wir akzeptieren wollen.

                   Wir müssen immer wieder wägen und entscheiden, welche
                   Möglichkeiten unser Leben wirklich freier machen und welche
                   Möglichkeiten uns bloß neuen Zwängen unterwerfen oder gar in das
                   Leben anderer eingreifen.

                   Die Zukunft ist offen.

                   Sie ist kein unentrinnbares Schicksal und kein Verhängnis.

                   Sie kommt nicht einfach über uns.

                   Wir können sie gestalten - mit dem, was wir tun und mit dem, was
                   wir nicht tun.

                   Wir haben viele, wir haben große Möglichkeiten.

                   Nutzen wir sie für einen Fortschritt und für ein Leben nach
                   menschlichem Maß.