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Vollendet
die Reformation !
Die >Lutherdekade< bis 2017 darf
nicht in bestätigender Rückbesinnung vertan, sondern muss als neue Glaubens- Befreiungszeit
genutzt werden
Von Bernd Rebe
Von der dunklen Seite
des D. Martin Luther
Am 31.
Oktober 1517, mittags gegen 12 Uhr, soll Luther nach der protestantischen
Überlieferung seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg
geschlagen haben, in Latein, denn der Verfasser wollte eine Disputation mit
Gelehrten über die erlangten Gewissheiten seiner privaten Theologie anstoßen.
2017 wird man die 500jährige Wiederkehr dieses Ereignisses begehen, das - von
einem bibelgelehrten Mönch in unschuldiger Innerlichkeit >angezettelt< -
ein geistig- geistliches und ein
politisch-soziales Erdbeben ausgelöst hatte. Die Zeit bis zum Semi-Millennium
2017, schon als >Lutherdekade< bezeichnet, wird uns mit
Besinnungsaktivitäten aller Art überschütten: Mit Myriaden von Aufsätzen und
Artikeln, Lesungen, Seminaren, Konzerten
und mit neuen Büchern über den Reformator und sein Wirken. Und es wird viel zu
berichten und zu bedenken sein von dem, was damals geschehen ist oder doch
geschehen sein soll, das jedenfalls nach protestantischer Überlieferung in all
seiner unbestimmten Gewissheit als Grundlage von alt- und neulutherischem
Selbstverständnis gilt. Wir werden wieder erstaunt und voller Ehrfurcht vor
diesem Wittenberger Geistesgebirge stehen, werden nicht nur den scharfsinnigen
Kirchenkritiker und den todesmutigen Gewissenshelden bewundern, nicht nur die
Wirkungsmacht seiner Überzeugungen und seine schier unendliche Arbeitskraft
erneut mit Schaudern nachvollziehen, nicht nur die Derbheit seiner Tisch- und
Wahrsprüche und die glaubensinspirierte Innigkeit seiner wunderschönen Lieder
auf uns wirken lassen, sondern uns auch erneut des Wunders seiner
Sprachmächtigkeit bewusst werden – Wunder, weil ein bis zu seiner
Bibelübersetzung fast ausschließlich Latein sprechender Augustinermönch
plötzlich über die ganze Farbigkeit und treffende Vielgestaltigkeit der
deutschen Sprache gebot.
Dies alles und vieles mehr werden wir
erneut wahrnehmen können. Vermutlich wird uns auch der private Luther begegnen,
mit der Besessenheit seiner Teufelsängste, mit seiner antijüdischen
Verkrampfung, seinem gereizten Misstrauen, seinen vielen Krankheiten, in denen
sich seine oszillierenden Geisteszustände spiegelten, seiner zunehmenden Starre
und Unduldsamkeit im Alter und schließlich seiner späteren Düsternis, die
ihm das kommende Weltende vorgaukelte,
das er früher vor allem als Durchgangstor zu einer neuen, besseren Zeit
begriffen hatte.
Aber alles, was wir hören und lesen werden,
wird unter dem unsichtbaren Rubrum des
mission accomplished stehen: Wir
werden Luther als historische Figur mit einer vielgestaltigen Wirkungsgeschichte
vorgeführt bekommen, als eine der Hauptfiguren einer in ihrem Auftrag und ihren
Wirkungen abgeschlossenen Epoche.
Aber: Wird irgendjemand den Mut oder die
Bewusstseinsweite zu einer ganz anderen Sicht des Reformationsgeschehens und
seiner Bedeutung für die Gegenwart finden? Sie ließe sich so formulieren: Die
Reformation war nur der erste Schritt im Prozess der Glaubensbefreiung, dem der
notwendige zweite noch folgen muss. Wir achten diesen ersten Schritt nicht
gering, aber er markiert nur eine Durchgangsphase, die die Menschen in jener Zeit vor allem von den Verkom-menheiten
des damaligen Papsttums und seinen schamlosen Geldeintreibungs-verfahren im
Ablasshandel (in engem Zusammenwirken mit höchst weltlichen Geldhäusern!)
befreien sollte. Das Grundübel des christlichen Glaubens, nämlich seine
rückwärtsgewandte Fixierung auf eine Geschichte vom kurzzeitigen Wirken und
fürchterlichem Sterben eines jüdischen Bauhandwerkers vor 2000 Jahren, die
diesem Glauben als einmaliges Heilsgeschehen gilt, hat auch ein Luther nicht
nur nicht beseitigt, sondern sogar noch verstärkt. Dabei hat sowohl die
Wiedererzählung dieser Geschichte in wesentlichen Punkten mit dem damaligen
Geschehen nur noch wenig zu tun, wie auch die im christlichen Glauben
unterstellte einmalige Offenbarung Gottes in einem Menschen (als seinem
>Sohn<) erst im Laufe der Jahrhunderte zu den dogmatischen Verfestigungen
geführt hat, die auch heute noch von dieser Kirche vertreten werden. Und, was
in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist, die Inhalte dieser Dogmen haben sich
nicht in spirituell inspirierter Entwicklung herausgebildet, sondern sie wurden
in den wesentlichen Punkten durch realpolitische Macht-, Einfluss- und Statussicherungsinteressen
bestimmt. Schon diese Tatsache verbietet es, die Aussagen der Bibel als
>Gottes Wort< und die Dogmen der Kirche als heilsgeschichtliche
Gewissheiten zu nehmen.
Martin
Luther aber hat in klaustrophober Selbstgeißelung als Augustinermönch und
in seiner Befangenheit in
mittelalterlichen Glaubensdogmen genau dies getan. Darüber hinaus hat er
in seinen Schriften verschiedenen dieser überkommenen Glaubensannahmen durch
höchst eigenwillige Interpretationen und Weiterentwick-lungen eine
zerstörerische Unbedingtheit verliehen, die letztlich die Überholtheit seiner
wesentlichen Glaubenspositionen ausmacht und in ihrer Radikalität >der kommenden Kultur des Protestantismus
wie ein Stein im Magen< liegen musste (Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von
Augustin bis Voltaire, Kapitel XVI. Menschenwürde oder Allmachtstheologie.
Erasmus gegen Luther, Frankfurt a. M. 2008, S. 260 f.).
Die Tatsache, die Mittelalterlichkeit von
Luthers Glaubenslehre unterdrückt oder doch mit einseitigen
Interpretationen seiner Schriften und aufhellenden Retuschen an seinem Bild ins
Vorbildhaft-Verehrungswürdige gerückt zu haben, hat der Evangelischen Kirche
Legitimationsrisse in ihrer Glaubensgrundlage beschert, die man als
Das verborgene
Luther-Dilemma des deutschen Protestantismus
bezeichnen
kann: Es besteht darin, dass die Evangelische Kirche in Deutschland entweder in
bisheriger Verdrängung der dunklen Seiten von Luthers Glaubenslehre sich weiter
im Verdrängen und Vertuschen übt oder
aber sich den im folgenden dargestellten Unsäglichkeiten von Luthers
Glaubenslehre um den Preis einer massiven Verunsicherung ihrer Anhänger stellt.
Im ersten Fall mag sie sich noch eine kurze Zeit relativer Organisationsruhe
einhandeln, die aber jederzeit durch eine von unten oder außen kommende
Eruption beendet werden könnte, im zweiten Fall übt sie sich in der in
Deutschland nicht ungewöhnlichen Kunst einer Revolution von oben, und hat die Chance, das Heft in der Hand zu behalten
und sich von niemandem intellektuelle Unredlichkeit vorwerfen lassen zu müssen.
Die Kirche müsste sich nicht erneut einer beschämenden Verdrängung überführen
lassen, wie bei der nun, im Jahr 2009!, beginnenden Aufarbeitung der schlimmen
Schädigungen von Hunderttausenden ehemaliger Zwangsinsassen von Heimen in der
Verantwortung kirchlicher Organisationen durch Prügel, sexuelle Misshandlungen
und Zwangsarbeit in den ersten beiden Jahrzehnten der Existenz der zweiten
deutschen Demokratie. Es dürfte übrigens interessant sein, was der unter der
Leitung der früheren Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, auf Initiative des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH) arbeitende
Runde Tisch an christlichen Motiven und Welt- und Erziehungsbildern bei den Misshandelnden
zutage fördern wird!
Luthers Bild bei den Protestanten in aller Welt
ist ein uneingeschränkt positives, ja ein Bild enthusiastischer Verehrung. >Dass er in unserem Jahrhundert … weit über
die Grenzen (Deutschlands und Europas) hinausgewirkt hat und wirkt, ist ein
überwältigendes Wunder. Es spiegelt sich darin die Tatsache, dass Luther nicht
in erster Linie als der Deutsche, der Künstler, der Dichter, das Genie, sondern
als Bote des Evangeliums zu verstehen ist. Weil Luther Christuszeuge ist,
sprengt seine Botschaft die Grenzen von Nation und Kultur, Rasse und Ideologie<
schreiben Hans Christian Knuth und Christian Krause im Vorwort ihrer
Beitragssammlung zum 500. Geburtstag von Luther 1983 (Hat Luther uns erreicht? Antworten aus fünf Kontinenten). Dieses
Bild des >Ein-feste-Burg-ist-unser-Gott-Luther<,
der auch mit seinen derben Sprüchen und treffenden Lebensweisheiten über
Jahrhunderte viel schmunzelnde Zustimmung erfahren hat, gibt aber nur die eine
Seite seines Wesens wieder, die helle volkstümliche Seite. Seine andere,
nachtschwarz verspannte Seite wird dagegen in nahezu allen Luther-Biographien
verschwiegen oder allenfalls nur summarisch angedeutet, obwohl sie die tragende Kernstruktur seines eigentlichen
Glaubensverständnisses ausmacht: Es ist die Obskurität seiner
bedrohlichen Transzendentalkonstruktionen, mit denen er im Ergebnis die Christenmenschen entmündigt und unter das Joch
archaischer Disziplinierungsfiguren zwingt.
Wir werden im Folgenden die einzelnen Elemente seiner verquasten
Glaubenslehre darstellen.
Die unserer Zeit aufgegebene Vollendung der
Reformation macht den Bruch auch mit diesen voraufklärerischen Grundannahmen
notwendig. Und sie macht es – was vielen Protestanten sehr schwer, wenn nicht
unmöglich sein wird - unumgänglich, den zum Teil hochproblematischen Teil von
Luthers Glaubenslehre, unverstellt von verständlichem Verehrungsbedürfnis für
den großen Reformator, in seiner ganzen beengenden Verspanntheit, ja teilweisen
Zerstörungstendenz, zur Kenntnis zu nehmen und zu überwinden. Dies stellt uns nun,
fünfhundert Jahre nach Luthers Wirken, vor die bittere Aufgabe, unser
Lutherbild nachhaltig zu revidieren und uns in wesentlichen Glaubensfragen in
Abgrenzung und Überwindung von Lutherschen Verengungen und (in Sachen
Antisemitismus) geistigen Verwüstungen neu zu orientieren.
Schon der erste Teil der Reformation vor
500 Jahren hat so viel Kraft gekostet, dass man es ein halbes Jahrtausend bei
der bürgerlichen Traditionspflege der danach herausgebildeten protestantischen
Kirchen-Glaubens-Rituale beließ (die von den katholischen weniger verschieden
sind, als allgemein angenommen), aus Erschöpfung belassen musste. Auch hat die
rasante Veränderung aller unserer Lebensbedingungen seit jener Zeit unsere Anpassungsfähigkeit
derart beansprucht, dass wir im Banne der Revolutionen unserer materiellen
Lebensverhältnisse nicht auch noch die Kraft für eine Neuorientierung im
Glauben gefunden haben. Nun, in der
Abenddämmerung der überkommenen Wohlstandsgesellschaft, bedroht vom >Kampf der Kulturen<, nun, wo
schon die Bewahrung der elementaren Bedingungen unseres Überlebens in einer
überlebenswerten Umwelt sogar politikoffiziell und nationenübergreifend das
Regierungshandeln bestimmt, nun ist auch die Zeit gekommen, die Ketten zu
lösen, die uns noch an archaische Glaubensinhalte binden.
Denn so, wie wir nach vorn leben müssen,
sollten wir auch nach vorn glauben.
Und: Unser Glauben wird für unser Leben
eine immer größere Bedeutung gewinnen (müssen), oder, anders gefasst: Wir
werden die grundlegende Bedeutung des Glaubens für unser Leben wiederzuentdecken
haben.
Ein glaubensentkoppeltes Leben und
Wirtschaften würde das Ende jeder Orientierung bedeuten, jedenfalls für jedes
zukunftsfähige Leben in einer friedfertigen Gesellschaft. Im Glauben wagen wir
ja die Einbettung unseres Hier und Jetzt in das Umfassend-Unbegreifliche der
Herkunft und der eigentlichen Grundlagen unseres Lebens. Ohne diese Einbettung
ist unser Leben abgeschnitten von seinen wahren Bestimmungsgründen, treibt wie
ein schaukelndes Blatt in den Moden der Zeiten. Glauben, die Art unseres
Glaubens, seine Annahmen, Inhalte und Konsequenzen für unser Tun und für unser
Weltverständnis, sind deshalb von noch größerer realer Bedeutung als das Parkettgeschehen aller Börsen dieser Welt.
Dass diese Wahrheit dort (vorübergehend?) vergessen wurde, hat nicht nur zum
größten Desaster der neuzeitlichen Finanzgeschichte geführt, sondern zwingt nun
auch weltweit die so genannte Realgüterwirtschaft in die Knie. Zeigt sich aber
hier beispielhaft und höchst aktuell der
Lebenswert des Glaubens, wird klar, dass wir den Glauben nicht als eine
geistesgeschichtliche Residualgröße vernachlässigen dürfen, sondern dass unsere
Zukunftsfähigkeit als freie Zivilgesellschaft innig mit der Wahrhaftigkeit
unseres Glaubens verbunden ist. Es erweist sich hier der eigentlich
folgenreiche Zusammenhang der Kant’schen Fragendreiheit >Was können wir wissen? Was dürfen wir glauben? Was sollen wir tun?<
Luthers
Glaubensenge
Wenn nun aber
die Bewahrung der Schöpfung schon auf der Ebene regierungs-amtlicher Politikziele
gelandet ist, um wie viel mehr müssen wir dann auch im Glauben die Grenze vom
Wissen zum Glauben neu definieren: Wir können in Anbetracht der erlangten
kosmischen Perspektiven auf unser Leben auf dieser Erde und auch in Anbetracht
des befreienden Erbes der Aufklärung nicht mehr Glaubensinhalten anhängen, die
zu einer Zeit entstanden sind, in der man die Erde noch für eine Scheibe im
Mittelpunkt der Welt hielt und in der eine patriarchalische
Gesellschaftsordnung selbstverständlich war.
Auch Martin Luther, der fern der Welt in
einer Klosterzelle als Augustinermönch fast nur in der Bibel gelesen und die
Ordensregeln rauf- und runter dekliniert hatte, hat seine 95 Thesen noch ganz
im Banne archaischer Buß- und Sündenregeln als der zentralen Glaubensannahmen
verfasst: „Buße sollt ihr tun, das ganze
Leben des Gläubigen muss Buße sein, so hat Christus es gesagt“ lautet seine
erste These. >Er selber hatte diesen
Kampf ausgefochten und verkündet ihn nun für alle. Es sollte keine Ruhe geben,
keine behagliche Abstimmung der Konten. Niemand konnte dabei helfen, kein
Mensch, und auch der Papst war für ihn ein Mensch. Jeder stand allein vor
seinem Richter, als Individuum. Niemand kann gewiss sein, dass er genug wahre
Reue empfindet, und noch viel weniger, dass ihm völlig vergeben ist, am
wenigsten durch einen Ablassbrief: Nur eigne wahre Reue kann Vergebung
herbeiführen, immer wiederholte Reue und Buße: Man soll Christus nachfolgen
durch Leiden, Tod und Hölle, so schließt er seine Thesen ab, durch viele
Anfechtungen, nicht durch „Frieden“, der gepredigt wird. Und tatsächlich wie
mit Hammerschlägen will er verkünden: nicht „Frieden, Frieden – und ist doch
kein Frieden“, sondern „das Kreuz, das Kreuz!“< (so Richard Friedenthal in seiner außerordentlich lesenswerten Biografie
Luther. Sein Leben und seine Zeit, 1967, S. 172).
Damit sind wir bei dem christlichen Zentralcredo: Dass Gott in der Erscheinung seines
Sohnes Mensch geworden ist, dass die Menschen diesen Gottessohn in
bestialischer Weise zum Tode gebracht haben, dass er aber mit seinem Sterben
als göttlicher Erlöser der sündigen Menschheit gewirkt hat und von diesem Tod
wieder auferstanden ist und uns als gläubigen Christen den gleichen
Erlösungsweg verspricht.
Dieses Zentralcredo finden wir in
fast jeder christlichen Kirche an zentraler Stelle als Bild oder Skulptur
dargestellt: Die Christen beten einen erbärmlich sterbenden Juden als Gott an –
eine Absurdität erster Ordnung und in der Darstellung ein immer neues ästhetisches Ärgernis: Wie
sollen Besucher der christlichen Kirchen im Anblick dieser über die
Jahrtausende transportierten Darstellung eines grausamen Hinrichtungsaktes
Glaubenshoffnung fassen, wie Vertrauen in die tröstende Menschlichkeit einer
Religion gewinnen können, die sich in dieser Symbolik präsentiert? Haben nicht
die Gräueltaten, die von dieser christlichen Kirche und ihren Mitgliedern im
Laufe der Geschichte begangen worden sind, vielleicht auch mit der
Verwirrungswirkung dieser grausamen Kreuzessymbolik zu tun? Und gilt das nicht
vielleicht auch für die von anderen Machthabern mit der Bewahrung des
christlichen Glaubens gerechtfertigten Mordtaten? Und: Hat nicht das von
Menschen, die sich zum christlichen Glauben bekannt haben oder bekennen,
anderen Menschen angetane Unrecht auch damit zu tun?
Der iranisch-deutsche Schriftsteller Navid Kermani, der sich intensiv mit den
Religionen und seinen eigenen Wurzeln im Islam auseinandergesetzt hat (so Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung vom 15.Mai 2009), hat seine ästhetisch-humane Betroffenheit von
der Kreuzigungsdarstellung nach der Betrachtung von Guido Renis Altargemälde des gekreuzigten Jesus in der Basilika San
Lorenzo in Rom in einem Artikel in der Neuen
Zürcher Zeitung vom 14. März 2009 in überzeugend-wahrhaftiger Weise wiedergegeben:
„Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell
negativ eingestellt. Nicht, dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger
respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf. Es ist eine
Absage. Gerade weil ich ernst nehme, was es darstellt, lehne ich das Kreuz
rundherum ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch,
körperfeindlich, ein Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen,
die wir genießen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen. Ich kann im Herzen
verstehen, warum Judentum und Islam die Kreuzigung ablehnen. Sie tun es
höflich, viel zu höflich, wie mir manchmal erscheint, wenn ich Christen die
Trinität erklären höre und die Wiederauferstehung und dass Jesus für unsere
Sünden gestorben sei. Der Koran sagt, dass ein anderer gekreuzigt worden sei.
Jesus sei entkommen. Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie
drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie.“
Wie sehr Kermani mit dieser kritischen Einschätzung der unsäglichen
Kreuzes-symbolik den Nerv der tradierten Kirchendogmatik getroffen hat, beweist
die Ablehnung des Hessischen Kulturpreises durch den Mainzer Bischof, Kardinal Karl Lehmann, und den früheren
Präsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker: Der Preis sollte neben den beiden auch dem
Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Salomon Korn, und eben Navid
Kermani verliehen werden, der den muslimischen Teil der deutschen
Bevölkerung vertreten sollte. Lehmann und
Steinacker begründeten die Ablehnung des Preises damit, „dass sie wegen der so fundamentalen
und unversöhnlichen Angriffe auf das Kreuz als zentralem Glaubenssymbol des
christlichen Glaubens den Preis bei gleichzeitiger Vergabe an Navid Kermani
nicht annehmen werden.“ Es ist ein Trauerspiel, dass das Kuratorium des
Kulturpreises unter Leitung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch hier eingeknickt ist und Kermani von der Preisvergabe
ausgeschlossen hat, anstatt sozusagen „brutalstmöglich“ für die
weltanschauliche Offenheit unseres grundrechtsgeprägten Gemeinwesens
einzutre-ten.
Um so ermutigender ist es, dass nun auch christliche Theologen zunehmend zur
Kreuzestheologie auf Distanz gehen. So schreibt der frühere Gemeindepfarrer und
spätere Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Berlin
(West), Klaus-Peter Jörns, in der
befreienden Eigenständigkeit seiner Überlegungen zu „Mehr
Leben, bitte! Zwölf Schritte zur Freiheit im Glauben“ (Gütersloh, April
2009), auf S. 211 über seine Karfreitags-Wahrnehmungen:
„Die Erfahrung, diesem Jesus gegenüberzustehen, wie er da am Kreuz
hängt, in einer Leidenssituation, die schrecklicher gar nicht gedacht werden
kann, hat mir eigentlich immer wieder klar gemacht: Dass Gott damit im Bunde
sein soll, das kann ich nicht glauben. Das ist etwas, was die ganze
Verkündigung Jesu von der freien und unbedingten Liebe Gottes auf den Kopf
stellt. Und: Es ist dran – das muss geändert werden!“
Jörns
erinnert daran, dass „vor allem vom
Apostel Paulus, im Hebräerbrief und in der darauf aufbauenden kirchlichen
Kreuzestheologie … Jesu Hinrichtung als blutiges Heilsdrama verstanden (wird):
Jesus m u s s t e leiden
– um Heil und Erlösung zu schaffen (aaO, S. 125). Und er erinnert auch daran,
dass Paulus hier noch ganz im Banne vorchristlicher Opferkulte denkt und
lehrt, wonach es „ohne Blutvergießen
keine Vergebung gibt“ (Hebräerbrief
9, 22):
„Scheinbar
unausrottbar wird dabei die Verbindung von Sündenvergebung und Sühneopfertod
Jesu vermittelt, obwohl nur Matthäus sie, aufgrund seiner eigenen religiösen
Sozialisation, hergestellt (26,28) – und dadurch das Zentrum der Verkündigung
Jesu zugedeckt hat. Für Jesus ist Gottes Liebe nämlich an keinerlei
Sühneleistung gebunden, sondern aus sich selbst heraus u n–bedingt“ (Jörns
aaO, S. 127 f.).
Gegen die
Karfreitagspredigt 2008 von Bischof Huber
(„Denn als Christen bekennen wir: Gott hat das sühnende Leiden seines Knechts
Jesus anerkannt und bejaht. In ihm spricht er uns Vergebung zu. In ihm macht er
unser Leben heil. Im Tod Jesu gibt sich
Gott selbst zu erkennen. Er macht diesen Tod zu einem einzigartigen Geschehen.
Niemand muss fortan um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde
willen zerschlagen werden.“) bekennt
Jörns (aaO, S. 130 f.):
„Nicht einmal das (gemeinsam gesprochene) Apostolikum sagt davon etwas.
Und wie ich, glauben viele, viele andere nicht (mehr), dass jemals irgendein
Wesen ersatzweise habe leiden oder gar sterben müssen, weil wir Mensch oder
Tier und natürlich in allem Gott die geschuldete Liebe schuldig geblieben sind.
Ich habe durch Jesus eine andere Vorstellung von Gott und seiner
Vergebungsbereitschaft vermittelt bekommen: Gottes Vergebung wird nicht durch
einen von ihm >anerkannten und bejahten< Akt gegen das Leben begründet,
sondern kommt allein aus seiner Liebe. In Jesu
L e b e n hat sich Gott zu
erkennen gegeben – und in der Antwort auf Jesu Hinrichtung zu Ostern. Was
sollte d i e s e r Gott noch mit einer blutigen Sühne anfangen?!
Und was ist heute mit der Rede vom >einzigartigen< Tod Jesu angesichts
der Shoa – zumal Gott sich doch nach Jesu Gleichnis mit j e d e m
Leidenden i d e n t i f i z i e r
t (Matthäus 25, 40, 45)?“
Damit ist für Jörns auch das Abendmahlsdogma mit der
Gleichsetzung von Wein und Hostie mit Blut und Körper Jesu vom Tisch (aaO, S.
133):
„Jesus
zu folgen, macht es mir unmöglich, die alten Kreuzes- und Abendmahls-lieder zu
singen – trotz aller ihrer Innigkeit.
Denn sie widerrufen die freie Gottesliebe, binden sie zurück in alte Opfermahlfeiern,
in denen Menschen Anteil an göttlichen Wohltaten bekamen, indem sie das Fleisch
der Opfertiere gemeinschaftlich aßen. Blut wurde dabei allerdings in der Antike
nirgends getrunken, so dass die Aufforderung in unseren Abendmahls- und
Eucharistiefeiern, Christi Blut zu trinken, singulär in der Religionsgeschichte
ist. Den Juden war jeder Blutgenuss ein Gräuel und durch die Tora verboten;
auch Griechen und Römer tranken beim Opfermahl kein Blut, sondern schütteten
auf bzw. in die Erde am Altar.“
Fazit
auch für Jörns (aaO, S. 128):
„Da hilft nur eine klare theologische
Umkehr, die die Deutung der Hinrichtung Jesu als stellvertretendes Leiden
(>für uns<) aufgibt.“
Darum: Entfernt diese Hinrichtungskreuze
nicht nur aus den Schulen, sondern auch aus den Kirchen; ersetzt sie durch die
Mutter-Kind-Symbolik: Befreit Euch von der lastenden Deckelung Eures Glaubens
durch die unsägliche Sterbenssymbolik, führt diesen Glauben auch in seiner
Bildsprache zum Leben! Vor allem: Lasst ab von den metaphysischen
Konstruktionen von Gottessohnschaft und Auferstehung, die nur Euren
Wirklichkeitssinn beleidigen, immenses Unheil angerichtet haben und das
Christentum ökumeneunfähig machen, denn: Jede Religion hat irgendeinen
>Stifter< oder doch eine prophetische Legitimationsfigur, die als Mensch
erleuchtet (etwa Buddha) oder mit besonderen Glaubens(auf)gaben ausgestattet
gewesen sein mag (wie Mohammed); aber
keine Religion außer der christlichen nimmt für sich die Legitimation durch
den Mensch gewordenen Gott selbst in
Anspruch. Damit sind alle anderen Religionen aus der (wohlweislich ständig
verschwiegenen, aber besonders im Selbstverständnis der Kurie immer
mitschwingenden) Sicht der christlichen Kirchen schon deswegen Glaubensvereinigungen minderen Ranges, mit
denen es im Grunde kein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis auf gleicher
Legitima-tionshöhe geben kann.
Luthers Antisemitismus
und seine schlimmen Folgen
Die realpolitisch aber schlimmste Folge des
Kreuzigungsdogmas ist der Anti-semitismus, der über zwei Jahrtausende Millionen
unschuldige Opfer gefordert hat. Dabei ist die Verfolgung der Juden mit der
Begründung >die Juden haben den Herrn
getötet< erst einmal eine rechtsgeschichtlich unhaltbare Irreführung,
denn Jesus von Nazareth ist durch einen römischen Machthaber der
standrechtlichen Kreuzigung nach römischem
Recht überantwortet worden und kein Opfer irgendeiner jüdischen Gerichtsbarkeit (Genaueres bei Weddig Fricke, Standrechtlich gekreuzigt. Person und Prozeß des Jesus
aus Galiläa, 1986, insbes. S. 131 ff.). Aber der Antisemitismus braucht zu
seiner Rechtfertigung keine historischen Wahrheiten, ist er doch in allen
seinen vorgebrachten Begründungen immer nur das Ergebnis von Vorurteilen,
negativen Projektionen und sozialpathologischen Ausgrenzungs- und
Gegensatzstig-matisierungen. Gerade diese Eigenschaft als Projektionsfläche
(fast) aller Misshellig-
keiten von Gesellschaften und Nationen hat ihn über die Jahrtausende zum
wohlfeilen Prügelknaben für Fehlentwicklungen und kollektiv empfundenen
Bedro-hungen jeder Art werden lassen; dieser pathologischen Geisteshaltung ist
leider auch der große Reformator Martin Luther erlegen – mit schlimmsten Folgen
bis in die Gegenwart:
Luther war sein Leben lang Judengegner.
Allerdings hat sich die Intensität dieser Gegnerschaft mit zunehmendem Alter zu
zerstörerischer Feindschaft gesteigert und er hat parallel hierzu zunehmend
rabiatere Methoden zur Eliminierung >der Juden< vorgeschlagen. Während er
noch in einem früheren Traktat zum >Magnifikat<,
den Lobgesang der Mutter Gottes, für eine freundliche Behandlung der Juden
plädiert (>… wenn wir christlich
lebten und sie mit Güte zu Christo brächten, das wäre wohl die rechte Art<)
und es allein Gott vorbehalten möchte, die Juden zum christlichen Glauben zu bekehren,
will er diese Sache im Alter nicht mehr Gott überlassen, sondern er fordert
seinen Landesherrn in einem seiner wüstesten Hasstraktate >Von den Juden und ihren Lügen< zur
Vernichtung und Vertreibung der Juden auf (s.
unten).
Und: Luthers Antisemitismus ist eben auch
von den sozialpathologischen Irrationalitäten geprägt, die ja das unausrottbare
Unterfutter des Antisemitismus ausmachen, (wieder Friedenthal, S. 644): „Alle
alten und neuen Vorwürfe bringt er zusammen, die pseudoreligiösen, dass die
Juden Christus lästerten, wie die materiellen vom Wucher oder das dunkle
Raunen, dass sie auch ihre ärztliche Kunst zum geheimen Schaden der Christen
missbrauchten. Er glaubt sogar im Gespräch das Gerücht, der kaiserliche
Feldherr Freiherr von Katzian, der mit seiner Armee von den Türken kläglich
geschlagen worden ist, müsse ein geborener Jude sein; anders sei die
vernichtende Niederlage nicht zu erklären.“
Luthers Antisemitismus hat bis in das
Zwanzigste Jahrhundert nachgewirkt und im deutschen Protestantismus zur
geistigen Mitvorbereitung der Judenverfolgung durch die Nazis und zur –
teilweise bejahenden – Hinnahme von Entrechtung, Verfolgung und Deportation
deutscher Menschen jüdischen Glaubens beigetragen. Dies ist ein schlimmes
Kapitel in der Geschichte des deutschen Protestantismus, das in der
>Lutherdekade< in dem Willen um historische Objektivität aufgearbeitet werden muss. Drei beispielhafte Belege für den protestantischen
Antisemitismus im letzten Jahrhundert mögen hier genügen, davon eins mit
ausdrücklicher Berufung auf Luther (s. hierzu Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, First Vintage
Books Edition, February 1997, S. 106 ff.):
So wurden „die Juden“ in den Sonntagsblättern, einer protestantischen
Wochenzeitschrift mit mehreren Millionen Lesern, ab 1918, also vor der nationalsozialistischen Machtergreifung,
als „die natürlichen Feinde der
christlich-nationalen Tradition“ bezeichnet, die „den Zusammenbruch der christlichen
und monarchischen Ordnung“ bewirkt hätten und wurden als die Verursacher
einer Vielzahl anderer Übel dargestellt. Nach 1933 verschärften die Sonntagsblätter ihre antisemitische
Rhetorik in Angleichung an die antijüdische Hetzpropaganda der Nazis und, wie Goldhagen auf S. 108 resümiert: „They did so unbidden, entirely voluntarily,
and with unmistakable passion and alacrity“ (Bereitwilligkeit, Eifer).
In diesem Zusammenhang muss auch an die
antisemitischen Äußerungen des späteren Mitglieds der Bekennenden Kirche und langjährigen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD) nach 1945 erinnert werden: Otto Dibelius, seit 1925 Generalsuperintendent der Kurmark in der
Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, erklärte 1933, er habe schon in seiner
Studentenzeit „im Kampf gegen Judentum
und Sozialdemokratie gestanden“, begrüßte in einer Festpredigt am 21. März
1933 in der Potsdamer Nikolaikirche vor den neu gewählten, überwiegend
nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten die Regierungsübernahme durch
die Nazis und erklärte zehn Tage später
zum Boy-kott der SA gegen jüdische Geschäfte:
„Schließlich
hat sich die Regierung genötigt gesehen, den Boykott jüdischer Geschäfte zu
organisieren – in der richtigen Erkenntnis, dass durch die internationalen
Verbindungen des Judentums die Auslandshetze dann am ehesten aufhören wird,
wenn sie dem deutschen Judentum wirtschaftlich gefährlich wird. Das Ergebnis
dieser ganzen Vorgänge wird ohne Zweifel eine Zurückdämmung des jüdischen
Einflusses im öffentlichen Leben Deutschlands sein. Dagegen wird niemand im
Ernst etwas einwenden können.“
Schon 1928 hatte Dibelius ganz im Sinne des eliminatorischen Antisemitismus folgende
„Lösung“ des „jüdischen Problems“ (man denke an die spätere Nazi-Formel von der
„Endlösung der Judenfrage“) vorgeschlagen: Jede jüdische Einwanderung von
Osteuropa sollte verboten werden. Da die Zahl der Kinder in jüdischen Familien
gering sei, würde der Prozess des Aussterbens überraschend schnell verlaufen.
Man wird wohl Wolfgang Gerlachs Einschätzung
zustimmen müssen, dass Dibelius’
antisemitische Haltung in hohem Maße repräsentativ für die deutsche
Christenheit Ende der Zwanziger Jahre war (Wolfgang
Gerlach, Als die Zeugen schwiegen: Bekennende Kirche und die Juden, 2. Aufl.,
Berlin: Institut Kirche und Judentum, 1993, S. 43).
Eine nahezu unglaubliche Manifestation des
protestantischen Antisemitismus erlaubte sich der thüringische Bischof Martin Sasse, der kurz nach der von den
Nazis in hämisch-ästhetischer Erhöhung so genannten „Reichskristallnacht“ am 9.
Novem-ber 1938 ein Kompendium mit Luthers antisemitischen Giftigkeiten
veröffentlichte, in dessen Vorwort er das Brennen der Synagogen in Deutschland
begrüßte und auf die Koinzidenz mit Luthers Geburtstag hinwies: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag,
brennen in Deutschland die Synagogen“. Die Deutschen sollten Luthers Worte
in dem Kompendium beachten als die „des
größten Antisemiten in seiner Zeit, den Warner seines Volkes vor den Juden.“
Man fragt sich, ob Sasse Luther nicht fehl interpretiert haben könnte. Aber Nein,
Luther hatte in seinem Hetztraktat >Von
den Juden und ihren Lügen< von 1543
in
grenzenlosem Judenhass genau das zur Vernichtung der Juden gefordert,
was die Nazis 400 Jahre später zu grausamer Wirklichkeit werden ließen:
Gleich zu Anfang seiner Schrift bezeichnet
Luther die Juden als >die elenden,
heillosen Leute<, die >uns eine
schwere Last, wie eine Plage Pestilenz und eitel Unglück in unserem Land sind<,
um später zu fragen >Was sollen wir
Christen nun tun mit diesem verworfenen verdammten Volk der Juden?< Als Antwort entwirft er in seinem >treuen
Rat< ein Sieben-Punkte-Progrom-Programm:
>Erstlich, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und
was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe, und beschütte, dass kein Mensch
einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich…<
>Zum andern, dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und
zerstöre. Denn treiben eben dasselbige drinnen, das sie in ihren Schulen
treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die
Zigeuner, auf das sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserem Lande, wie sie
rühmen, sondern im Elend und gefangen, wie sie ohne Unterlaß vor Gott über uns
Zeter schreien und klagen.<
>Zum dritten, dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und
Talmudisten, darin solche Abgötterei, Lügen, Fluch und Lästerung gelehrt
wird.<
>Zum vierten, dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete,
hinfort zu lehren…<
>Zum fünften, dass man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar
aufhebe, denn sie haben nichts auf dem Lande zu schaffen, weil sie nicht Herren
noch Amtleu-
te noch Händler oder desgleichen sind; sie sollen daheim bleiben…<
>Zum sechsten, dass man ihnen den Wucher verbiete, der ihnen von Mose
verboten ist, wo sie nicht sind in ihrem Land Herren über fremde Lande, und
nehme ihnen alle Baarschaft und Kleinod an Silber und Gold, und lege es beiseit
zu verwahren. Und dies die Ursache: alles, was sie haben…, haben sie uns gestohlen
und geraubt durch ihren Wucher, weil sie sonst keine andere Nahrung haben…<
>Zum siebenten, dass man den jungen starken Juden und Jüdinnen in die
Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brod
verdienen im Schweiß der Nase, wie Adams Kindern aufgelegt ist, 1 Mos. 3,
19<
Sollte das Arbeitsprogramm nicht klappen,
dann >immer weg mit ihnen.<
(Zitiert nach
dem Nachdruck der 2. überarbeiteten Auflage von Luthers Werken, hrsg. von Georg Walch (1740-1750),
Groß-Oesingen o.J., Bd. 20, Spalten 1987, 1989 und 1990 ff.- Vgl. zu diesem
schlimmen Thema auch Gerhard Czermak, Christen gegen Juden:
Geschichte einer Verfolgung, Reinbeck 1997).
Auch nach dem Krieg hat der Rat der
Evangelischen Kirche in Deutschland in der Stuttgarter Schulderklärung vom 19. Oktober 1945 sich nur in
verwaschener Weise >mit unserem Volk nicht nur in einer großen
Gemeinschaft der Leiden...(erklärt), sondern auch in einer Solidarität der
Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele
Länder und Völker gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben,
das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange
Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im
nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden
hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer
gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.<
Im Grunde ist diese Erklärung ein ärgerliches
Zeugnis intellektueller Unredlichkeit und der beschönigenden Vernebelung der
eigenen Mitschuld am Holocaust und des fast völligen Versagens vor dem
gottlosen Vernichtungstreiben der Nazis. Wer ist den >wir< bzw.
>uns< in diesem Dokument? Das >unendliche Leid<, das >über viele
Völker und Länder gebracht worden ist< kann ja wohl nicht die Evangelische
Kirche in Deutschland meinen; hier versteckt man sich in einer Schuldphalanx
mit der Wehrmacht, den Einsatzgruppen, der SS usw. Und wo ist denn gegen den Nazi->Geist<
von der allgemeinen Evangelischen Amtskirche (im Gegensatz zur Beken-nenden
Kirche) >gekämpft< worden? Wie sehr sich die EKD um das Eingeständnis
des jammervollen Versagens beim Schutz der jüdischen Mitbürger – jedenfalls
generell, denn freilich gab es regelbestätigende Ausnahmen – herumdrückt, zeigt
sich darin, dass über den Antisemitismus der Evangelischen Kirche in
Deutschland vor und während der Nazizeit in der Stuttgarter Schulderklärung kein Wort verloren wird.
Luther und der Teufel
Der Teufel,
und das heißt immer: die Vorstellungen der Menschen von „dem Teufel“, hat in Religion, Volksglauben und Literatur eine bemerkenswerte
Karriere hinter sich, die schon Gustav
Roskoff in seiner 1869 in Leipzig
erschienenen zweibändigen „Geschichte des
Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18.
Jahrhundert“ (Neudruck dieser Ausgabe, Aalen 1967) kenntnisreich
ausgebreitet hat. Auch in den christlichen Glaubensvorstellungen hat die
Teufelsfigur nachhaltige Metamorphosen durchlebt, die Sabine Glaeßner in ihrer sehr lesenswerten Magisterarbeit „Dunkle Mächte und satanischer Frevel. Die
Teufelsmotivik in E. T. A. Hoffmanns >Die Elixiere des Teufels< zwischen
Sage und Schauerroman“ (Humboldt-Universität Berlin, Institut für Deutsche
Literatur, Berlin 2008), auf Roskoff
fußend, in den Grundzügen differenziert nachgezeichnet hat:
Im Alten Testament sind hiernach zwei
Phasen zu unterscheiden: In der ersten, in welcher „Gott noch als alleiniger Herr über Glück und Leid der Menschen
entscheidet, spielt der Satan eine untergeordnete Rolle innerhalb des
himmlischen Hofstaates als Ankläger oder Veranlasser der Versuchung des
Menschen, wie z. B. Hiobs. Das Übel der Menschen will Satan hier nur als Strafe
für begangene Schuld, er ist noch nicht moralisch böse. Erst in später
entstandenen Büchern des Alten Testaments beginnt Satan, die ursprünglich dem
göttlichen Zorn zugeschriebene Funktion zu übernehmen. Man nimmt an, dass diese
Weiterentwicklung der Satansidee durch den dualistischen Zoroastrismus angeregt
wurde, mit dem die Hebräer im babylonischen Exil in Berührung kamen. Nun wird
der Sündenfall nicht mehr, wie bisher, durch den Willen des Menschen und sein
Streben nach Höherem verursacht, sondern auf die Schlange als Werkzeug des Bösen
und den Neid des Satans zurückgeführt: Satan wird die Ursache für Tod und
Sterblichkeit. Dennoch bleibt die dualistische Vorstellung im Alten Testament
dem monotheistischen Prinzip unterworfen, Satan ist bisher nur Feind des
Menschen und stellt keinen direkten Gegensatz zu Gott dar.
Im Neuen Testament dagegen findet sich
bereits ein ausgebildeter Teufelsglaube. Neu ist hier die Gegenüberstellung des
messianischen und des satanischen Reiches, denen der Gegensatz von Licht und
Finsternis, Wahrheit und Falschheit zugeschrieben wird. Der Satan wird zum
Gegenspieler Christi, zum Feind des messianischen Planes, seine Rolle im Neuen
Testament erklärt sich aus seiner Rolle als Korrelat zum Messias, welcher den
Gegenstand des Neuen Testaments bildet. Während zuvor Gut und Böse in Form
einer coincidentia
oppositorum im liebenden und strafenden
Vater noch vereint waren, braucht die barmherzige Figur des Gottessohnes eine
Gegengestalt im Bereich des Bösen. Während das teuflische Wirken in der
Versuchung der Christusgläubigen zum Abfall von Gott besteht, ist es Christi
Aufgabe, die Werke des Satans zu zerstören, Übel, Krankheit und Tod zu heilen,
wenngleich auch er selbst der teuflischen Versuchung ausgesetzt ist.
In den ersten christlichen
Jahrhunderten entwickelt sich die Satansidee weiter, vor allem durch die
Auseinangersetzung der Kirchenväter mit dem Judentum und den heidnischen
Religionen, aber auch christlichen dualistischen Anschauungen wie dem
Gnostizismus und Manichäismus. Die eigentliche Periode des Teufelsglaubens ist
das Spätmittelalter. Im Unterschied zum frühen Christentum ist der Teufel im
mittelalterlichen Volksglauben meist gleichwertiger Gegenspieler Gottes. Er ist
in allen Bereichen des Lebens und Denkens gegenwärtig, er ist Höllenfürst, aber
auch Handlanger des Todes, unerklärlicher Krankheiten und Naturkatastrophen,
alle physischen und moralischen Übel werden auf teuflische Verursachung
zurückgeführt. Andererseits ist aber gerade das Mittelalter auch die Hochzeit
des dummen, domestizierbaren Teufels, der vom Menschen überlistet und
verspottet wird.“
Und dieser
Teufel des spätmittelalterlichen Volksglaubens erscheint einmal in Gestalt
eines viehischen Ungetüms mit Bockshörnern, Schwanz, Klauen und Raubvögel-füßen
oder Pferdefuß, andererseits „als begabter
Rollenspieler, Gaukler und ‚erfindungsreicher Illusionist’, dessen Wesen die
sündhafte Formenvielfalt ist, und der seine Identität hinter tausend Masken
verbirgt“ (Sabine Glaeßner aaO, S. 7).“
Luthers Teufelsvorstellung war stark geprägt
von der ersten Variante des Volksglaubens seiner Zeit. Immerhin hat Luther >die Juden< in ihrer von
ihm unterstellten Christenfeindschaft nach
dem Teufel platziert. Dieser, von ihm auch als Satan oder als der
Leibhaftige bezeichnet, ist für ihn zwar (bis zum jüngsten Gericht)
unsichtbar, aber fast immer präsent, besonders nachts. Er ist für Luther der >Geist des Trübsinns<, verleitet
zum Selbstmord (womit Luther gegen den Geist der Zeit den Selbstmörder
entschuldigt), bedient sich des Geldes als des Mittels, mit dem er alles
bewerkstelligt. Er ist für Luther auch der große Widersacher, der nach
scholastischer Methode mit ihm disputiert und hierbei Argumente gegen den
Lutherischen Glauben vorbringt, mit
denen Luther sich selbst plagen muss. Das Intrikate an der Argumentationskunst
des Teufels ist, dass er sich ebenfalls auf das Evangelium berufen kann, weil
man eben das Wort der Bibel verschieden verstehen kann: Es klingt >dem einen schreckend, dem andern tröstend<.
Auf den Trost kommt es aber an, auf die Gnade. Könne man sich des Teufels
argumentativ nicht mehr erwehren (lehrt er seinen Schülern), so müsse man ihm
einfach den Hintern zukehren und Gestank mit Gestank bekämpfen – ein altes
Hausmittel, das Luther bereits im Haus seiner Eltern kennen gelernt hatte.
Wir müssen wohl davon ausgehen, dass Luthers Teufelsvorstellung nicht als
distanzierte Humoreske abgetan werden kann, sondern
dass der Teufel für Luther eine höchst
reale Größe war, die darüber hinaus für seinen Glauben die Funktion eines
haltenden Gegenpols hatte.
Friedenthal
(aaO, S. 141 f.) hat diesen Zusammenhang in kurzen Sätzen ausgedrückt:
>Seine eignen, höchst persönlichen
Zweifel und Anfechtungen sind der Ausgangspunkt, vom Teufel eingegeben, wie er
das nannte, und der Teufel sei der „Vater seiner Theologie“ geworden, so sagte
er in seiner immer gefährlich die schärfsten Paradoxe verwendenden
Ausdrucksweise. Ohne dessen Versuchungen hätte er nie die Gnade kennen gelernt.
Und diese Gnade, die keine freundliche und ohne weiteres sanft ausstrahlende
Huld für ihn bedeutet, sondern eine schwer errungene und immer wieder zu
erkämpfende Erlösung aus den Qualen, wird zum Zentralbegriff seiner Lehre. Nur
durch den Glauben kann man sie erlangen.<
Luthers Überzeugung von der realen
Existenz des Teufels (und von Dämonen, wie man ergänzen muss), zeigt seine
Befangenheit in einer Mischung aus überkommenen katholischen
Jenseitsvorstellungen und den hieraus erwachsenen volkstümlichen Teufelsbildern
seiner Zeit. Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass seine
>Sünden<, von denen wir nicht sicher wissen, wie sie aussahen, höchst
irdischer Natur waren, und dass der ihn bedrängende >Teufel< eine
Mischung aus kompensatorischer Projektion (so empfundenen) eigenen Versagens, nervlichen Überrei-zungszuständen
(der berühmte Tintenhornwurf gegen den >Leibhaftigen<!) und schlicht und
einfach von depressiven Anwandlungen und nächtlichen Heimsu-chungen war. Das
heißt, es geht bei Luthers >Teufel< in Wahrheit nicht um ein theologisch
begründetes Phänomen, sondern um ein
angstpsychologisches Halluzi-nationsgebilde. Wir Heutigen können hiervon bei
der Glaubenssuche nur insoweit von Luther
lernen, als wir diese Erfahrung reflektieren und uns vor ihr hüten sollten.
Luther, >hitzig und
lüstig in der heiligen Schrift<
Die Bibel war
für Luther als Gottes Wort bis zu seinem Lebensende die einzige Autorität,
neben der für die Lehre des richtigen Glaubens nichts anderes galt. Diese
Vergöttlichung, um nicht zu sagen: Vergötzung der Bibel ist ein weiteres Lehrstück
in Lutherscher Glaubensverengung, die für uns kein Vorbild mehr sein kann.
Zum einen ist es nicht die gesamte Bibel mit
ihren vielfältigen Facetten und teilweise widersprüchlichen Aussagen, nicht die
Bibel des alten zürnenden und rächenden Gottes (s. hierzu jetzt: Jan Assmann, Monotheismus und die Sprache
der Gewalt, Wien 2006), sondern Luther hatte sich pars pro toto den Brief
seines großen Vorbildes Paulus an die
Römer als d i e Kernaussage der Bibel ausgewählt, die auch im
Zentrum seines Glaubens stand: >So
halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben< (Römer 3, 28). Der Römerbrief war für Luther laut
Vorrede zu seiner Bibelübersetzung >das
rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterst Evangelium<:
>Die Theologie Luthers ist
„Römerbrief-Theologie“ und auch die ganze Theologie des Protestantismus bis in
die letzte Zeit hinein hat immer wieder von diesem Brief aus Stellung
genommen< (Friedenthal aaO, S. 145 f.- S. hier auch zur Bedeutung des Psalter als zweitem Hauptteil der Bibel
für Luther).
Das
heißt: Luther bezieht sich nicht auf >die Bibel< insgesamt als „Gottes
Wort“, sondern kanonisiert schlicht und einfach Paulus’ sola fide als die
unumstößliche Wahrheit >der
Bibel<, weil sie seine
Glaubensauffassung wiedergibt – ein weiterer Beleg für Luthers radikale
Subjektivität, um nicht zu sagen: Egomanie. Nirgends findet man bei ihm ein
Wort über die historischen Zufälligkeiten, die den jetzigen Corpus des Bibeltextes
zu der für die Christen maßgeblichen Fassung haben werden lassen, und natürlich
ist es seine Interpretation der Bibel,
die er für >die Bibel< ausgibt.
Hier fließen seine Christusgläubigkeit und die Behauptung der letzten Autorität
der Bibel (in seiner – Luthers –
Auslegung) zusammen.
Für
die unumgängliche historisch-kritische Reflektion des Zustandekommens dieses
Bibeltextes und seines Inhalts finden wir bei Luther nichts und können auch
hier nicht auf ihm aufbauen, so sehr wir
die Annahme der Unmittelbarkeit jedes Einzelnen zu Gott in seinem
Glauben bejahen mögen.
Was
den „Gottes-Wort-Charakter“ der Bibel betrifft versucht Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. in seinem Buch Jesus von Nazareth (Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur
Verklärung, Herder-Verlag, o. J., S. 19) die Gottes-Autorschaft der Bibel als mittelbare
Schreiberschaft von >drei ineinanderwirkende(n) Subjekte(n)<
darzustellen: Der schreibende Autor/ die schreibende Autorengruppe >sind keine autonomen Schriftsteller im
modernen Sinn, sondern sie gehören dem gemeinsamen Subjekt des Gottesvolkes zu,
aus dem heraus und zu dem sie sprechen, das so recht eigentlich der tiefere
„Autor“ der Schriften ist. Und wiederum: Dieses Volk steht nicht in sich
selbst, sondern weiß sich geführt und angeredet durch Gott selber, der im
Tiefsten – durch Menschen und ihre Menschlichkeit hindurch – da redet.<
Was das Verständnis der Bibel als „Gottes
Wort“ betrifft haben wir also die Wahl zwischen durchschaubarer Reduktion und
Selbstspiegelung (Luthers) und verne-belnder Konstruktion (des gegenwärtigen
Papstes). Wäre es nicht angezeigt, die Bibel als literaturhistorisches
Kulturzeugnis zu nehmen, mit dessen Entstehen, Inhalt und Interpretation wir
uns kritisch auseinandersetzen können? Wir werden hier, wie bei jeder
Literatur, einiges zum Nachdenken finden, einiges Erfahrungsweises zum Lernen
und einiges, das wir kopfschüttelnd ablehnen werden.
Luther und die
Unausweichlichkeit der > Sünde <
Luther bezeichnet mit >Sünde< nicht
ein besonders unmoralisches, gegen die göttlichen Gebote verstoßendes Verhalten eines Menschen, das man diesem
vorwerfen könnte; >sündig< ist ihm vielmehr schon die Grundkonstitution
des Men-schen in seiner fleischlichen Existenz und mit seinem vermeintlich freien
Willen, unabhängig von der moralischen Qualität seiner einzelnen Taten oder
seines Verhaltens. Das heißt, der Mensch
lebt notwendig und (spätestens) mit seiner Geburt in der von Luther so
konstruierten >Sünde<.
Mit
dieser theologischen Inkriminierung der >Fleischlichkeit< ist ihm die notwendig biologische Existenz
des Menschen schon >Sünde<. Und: Der Mensch ist unausweichlich >schlecht< in seiner
fleischlichen Existenz, das Leben ist >schmut-zig<, die >fleischlichen
Begierden< sind eine unreine Last, und zwar nicht nur das sexuelle Begehren,
sondern schon das Essen und Trinken.
>Sündig< ist der Mensch bei Luther auch
in der Ausübung seines (vermeintlich) freien Willens. Dem 1524 von Erasmus von Rotterdam veröffentlichten Traktat >De libero arbitrio< (Über den freien Willen) stellt Luther in seinem Gegentraktat >De servo arbitrio< (Über den unfreien
Willen – hier und im folgenden zitiert nach der Weimarer Ausgabe von Luthers Werken, Bd. 18, 1908, S. 600-787) fest: Frei
im Willen ist nur Gott; ein freier Wille des Menschen widerspricht dem
Vorherwissen und der Allmacht des unwandelbaren Gottes. Die Menschen, die
ohnehin nicht wissen, was sie tun, verstehen sich nach Luther >auf nichts als auf das Sündigen. < (De servo arbitrio, S. 735). Gegen Erasmus von Rotterdams Auffassung, der
Bibel könne keine eindeutige Festlegung auf die Unfreiheit des Willens
entnommen werden, stellt Luther in seinem „auftrumpfenden Behauptungsstil“ Kurt Flasch (Kampfplätze der Philosophie.
Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Kapitel XVI. Menschenwürde oder
Allmachtstheologie. Erasmus gegen Luther, Frankfurt a. M. 2008, S. 261) die
Aussage entgegen, wir könnten der Bibel die Gewissheit des unfreien Willens
entnehmen. Die Bibel sei nicht dunkel, Christus habe uns den Sinn der Schrift
erschlossen, allerdings brauche der Schriftausleger dessen „Geist“ (De servo arbitrio, S. 661, 607, 609).
Und natürlich verfügt er, D. Martin Luther, über diesen „Geist“, nicht aber
dieser friedliebende Erasmus, dem Luther attestiert, er kenne nicht den
Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium, wisse gar nicht, was das Evangelium
sei, er sei großmäulig, unverschämt und blasphemisch, rede läppisch und
ignorant und kindisch und er sei gar kein Christ (De servo arbitrio,S. 680, 692, 748, 656, 638,627, 620).
Wieder hält Luther seine Interpretation der Schrift für das Christentum selbst.
Kurt Flasch (aaO, S. 260) bezeichnet De servo arbitrio als das „vielleicht
wichtigste Buch des deutschen sechzehnten Jahrhunderts“ und weist darauf hin,
dass Luther selbst es neben seinem Großen
Katechismus für sein bestes Werk hielt: Es geht also nicht um einen
beiläufig formulierten Ausrutscher, den man irgendwie entschuldigen oder
relativieren könnte, wie es der Herausgeber 1908 in hilfloser Weise versucht
hat.
Es
gilt, diesen Stellenwert von De servo
arbitrio im Kopf zu behalten, denn Luther hat in dieser Schrift zugleich
sein Gottesbild formuliert:
Luthers demütigender
Gott
Luther schreibt (De servo arbitrio, S. 633):
>Was wir glauben sollen, muss
verborgen sein. Am meisten verborgen ist das, was im Widerspruch steht zu
Wahrnehmung und Erfahrung. Wenn daher Gott Leben schenkt, dann tut er das,
indem er tötet. Wenn er uns rechtfertigt, dann tut er das, indem er uns zu
Schuldigen macht. Wenn er uns in den Himmel erhebt, dann tut er das, indem er
uns in die Hölle führt … So verbirgt er seine Güte und Barmherzigkeit unter
seinem ewigen Zorn, seine Gerechtigkeit unter der Untat. Denn das ist die
höchste Stufe des Glaubens, dass man glaubt, der sei gütig, der so wenige
rettet und so viele verdammt, dass man glaubt, derjenige sei gerecht, dessen
Willen uns mit Notwendigkeit zu Verdammungswürdigen macht, so dass es, wie
Erasmus sagt, so aussieht, als freue er sich an den Qualen der Elenden und habe
eher unseren Hass als unsere Liebe verdient. Wenn ich aufgrund irgendeiner
vernünftigen Überlegung glauben könnte, dieser Gott, der solchen Zorn und Untat
aufweist, sei barmherzig und gerecht, dann wäre kein Glaube nötig.“
Das ist Luthers radikales Glaubenskonzept der Gottesparadoxie:
Weil wir keine vernünftige Erklärung dafür finden können, warum dieser Gott uns
stets das demü-tigende Gegenteil seiner verborgenen Liebe und Gerechtigkeit
zeigt, müssen wir gegen den zu Tage tretenden Unheilswillen dieses Gottes an
seine verborgene Güte und Gerechtigkeit glauben: >Glaube< ist damit nach Luther das Auffangen der Gottesabsurdität
(so fast wörtlich die Formulierung bei Flasch aaO, S. 266).
Ist das der Luther des Protestantismus, der
doch durch den Wittenberger Reformator von den transzendentalen
Unheilsdrohungen der römischen Kirche befreit zu sein meint?
Und:
Ist das der Römerbrief-Luther, wo wir doch in Römer 1, 19, 20 lesen können:
>Denn was man von Gott weiß, ist … (den
Menschen) offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart, damit dass Gottes
unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so
man des wahrnimmt, an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also dass
sie keine Entschuldigung (für ihr gottloses Wesen und ihre Ungerechtigkeit)
haben<
In der Stuttgarter
Familienbibel zur Einführung ins Bibellesen Nach der deutschen Übersetzung D.
Martin Luthers, Stuttgart 1938, Das Neue Testament, S. 245, ist zur
Erläuterung dieser Zentralstelle der Bibel zu lesen:
>„was man von Gott weiß oder (richtiger
übersetzt:) wissen k a n n“, ist an
allem dem zu erkennen, was Gott schafft und tut, vorausgesetzt, dass man die
Augen aufmacht und darüber nachdenkt. An der Unermesslichkeit seiner Schöpfung
kann man seine große, herrliche Macht wahrnehmen, an dem wundervollen Bau der
Natur und ihren Einrichtungen seine Weisheit, und an seiner Fürsorge für seine
Geschöpfe seine Güte und Liebe. <
Haben die Autoren dieses Kommentars von der
Gottesparadoxie des von ihnen als Übersetzer im Titel ihrer Bibelausgabe stolz
genannten D. Martin Luther ge-wusst?
Und wenn ja (was von studierten Theologen anzunehmen ist): Warum haben sie
Luthers sehr spezifische Glaubensauffassung, die ja mit der zitierten Römerstelle
nicht zur Deckung zu bringen ist, unter
den Tisch fallen lassen? Als Antwort drängt sich der Verdacht auf, dass
man (auch hier) dem protestantischen
Fußvolk einen widerspruchsfreien, positiven, volkstümlichen Luther präsentieren
möchte; seine dunkle Seite wird unterschlagen und verheimlicht: Es entstünde zu
viel Unruhe, Un-
gewissheit und Erklärungsbedarf, würde man diesen Luther in seiner >unleugbaren Mittelalterlichkeit<
(Flasch aaO, S. 251) im Originalton zu Worte kommen lassen. So existiert
die protestantische Kirche in ihren lutherischen Grundlagen mit einem den
meisten Gläubigen verdeckten Widerspruch: Der große Bau des protestantischen
Glaubensbekenntnisses ruht auf einem lügenrissigen geistigen Fundament. Und
wenn >vom Elend des deutschen Protestantismus<
selbst bei Würdenträgern der
Evangelischen Kirche die Rede ist (bei einem solchen habe ich diese Wendung zum
ersten Mal gehört), dann hat dieser Zustand sicher mit der rapide abnehmenden
geistigen Strahlkraft (auch) dieses Zweigs des Christentums zu tun, der
wiederum vor allem mit der Brüchigkeit seines geistigen Fundaments und
natürlich mit dem Festhalten an der Überlebtheit mittelalterlicher
Jenseitskonstruktionen erklärbar ist.
Die
hier angemahnte Vollendung der
Reformation ist deshalb im Kern kein Weiterschreiten auf den vor 500 Jahren
begonnenen Wegen, sondern es ist der
Aufruf zum Wagnis der eigentlichen Reformation, die sich in wesentlichen Fragen
g e g e n Luthers egomane Verirrungen
durchsetzen muss. Es ist klar, dass dies weniger eine Reformation im protestantischen Glauben wäre, sondern eine Revolution, die die evangelische
Amtskirche in ihren Grundfesten erschüttern würde und zu der sie schon deshalb
keine Kraft hat und von der sie auch aus klüglicher Statussicherung die Finger (und Gedanken) lassen wird.
Zum Abschluss wollen wir noch einige
Überlegungen zu der zentralen Zukunfts-frage anstellen, durch welche Elemente
denn ein aufgeklärter, wirklichkeitsgerechter Glaube geprägt sein sollte:
Für einen freien Verantwortungs-Glauben
in der offenen Wirklichkeit
Glaube
wurzelt in einem doppelten Orientierungsbedürfnis: einem der emotionalen
Selbstversicherung in einer im Umgreifend-Ungewissen wurzelnden Welt und einem
der bewussten Begrenztheit unseres Wissens, die uns im Hinblick auf das
relevant Nicht-Wissbare auf den Glauben verweist. Glaube ist damit eine doppelt
begründete >Hilfs-Konstruktion<
im eigentlichen Sinne. Wir sollten also nur das glauben, was hilfreich ist für unser Leben; alles
andere ist überflüssiger Glaubens-Ballast, der nur Streit und Verwirrung
hervorbringt. Von diesem Ausgangspunkt ist klar, dass es nicht darauf ankommen
kann, immer mehr an imaginativen Konstruktionen über den Glauben oder als seine
Inhalte hervorzubringen, sondern im Gegenteil: Je mehr wir im abstrakten
Glauben offen lassen (können), ohne unsere Pflichten in der konkreten
Nächstenliebe zu vernachlässigen, desto unanfechtbarer und
wirklichkeitsgerechter ist unser Glaube.
Die Grundelemente eines
aufgeklärt-hilfreichen Glaubens bilden sich sowohl aus positiven
Gewährleistungszielen, wie gegenbildlich
aus den erkannten Verirrungen des alten Glaubens, in unserem Zusammenhang
der fälligen Neureformation des christlichen Glaubens insbesondere aus den
Glaubensverirrungen des Herrn Luther.
Die positiven Gewährleistungsziele liegen
in der Dreiheit von Freiheit (des
glau-benden Menschen), Verantwortung
(in der von Gott geschaffenen Welt) und
völliger Übereinstimmung mit der von uns wahrnehmbaren offenen Wirklichkeit. Jeder
Glaube, der durch eine neue (wissenschaftlich fundierte oder
nicht-wissenschaftliche) Einsicht in die Wirklichkeit revidiert werden müsste,
offenbarte damit (modische) Zeitgebundenheit oder dogmatisierte Begrenztheit:
Damit wäre er nicht wirklichkeitsgerecht und damit auch notwendig nicht
hilfreich, sondern hinderlich, ja, das >Verfahren
der Anpassung an die jeweiligen Vitalbereiche des Zeitgeistes hat in der
Geschichte der Kirche unablässig Unheil angerichtet und ist in gewissem Sinne
sogar mitverantwortlich für die auf uns zukommende ökologische Krise< (A.M.
Klaus Müller, Geschöpflichkeitsdefizite in Naturwissenschaft und Theologie, in:
A.M. Klaus Müller/Paul Pasolini/Dietrich Braun, Schöpfungsglaube heute,
Neukirchen-Vluyn 1985, S. 11).
Beginnen wir mit dem Wegräumen der
überlebten Fehlorientierungen, also dem gegenbildlichen Begründungsteil der von
uns vorgeschlagenen Elemente eines aufgeklärt-wirklichkeitsgerecht-hilfreichen
Glaubens, nämlich den Verirrungen und Verwirrungen des überkommenen
Kirchenglaubens, insbesondere mit den dargestellten Glaubensverirrungen des D. Martin Luther. Das heißt, dass dieser freie, neue Glaube in
wesentlichen Annahmen ein notwendig antilutherischer Glaube sein muss.
Antilutherisch muss dieser neue Glauben sein:
- im Verzicht
auf alle Transzendentalkonstruktionen, denn es widerspricht
aufgeklärt-wirklichkeitsgerechtem Denken, über Nicht-Wissbares strukturierende
Aussagen zu machen; damit landen alle Annahmen von Teufel, Hölle und Jüngstem
Gericht auf dem Müllhaufen der Religionsgeschichte;
- in der
Ablehnung von Luthers Lehre vom unfreien Willen, denn Verantwortung in dieser
Welt kann der Mensch nur in Ausübung seiner frei reflektierenden
Entscheidungsfähigkeit tragen, so sehr sie auch durch allerhand psychische und
wissensmäßige Erkenntnisbeschränkungen begrenzt sein mag; im Zusammenhang damit
- in der
Ablehnung von Luthers Auffassung, >dass
die vernunft des teuffels hure ist und nichts kann denn lästern und schänden
alles, was Gott redt und tut< (Luther, Wider die himmlischen Propheten,
Weimarer Ausgabe Bd. 18, S. 164), denn nur im Gebrauch seiner Vernunft kann der
Mensch Verantwortung für Vorgänge auf dieser Welt übernehmen;
- in der
Ablehnung von Luthers Sündenlehre, denn zum Einen widerspricht es aufgeklärtem
Glauben, dass der Schöpfergott ein per se sündiges Menschenge-
schlecht geschaffen hat und zum Zweiten korrespondiert die Möglichkeit einer
moralischen Verfehlung und die Einsicht, fehl gehandelt zu haben, mit der
Entscheidungsfreiheit des vernunftbegabten Menschen;
- in der
Zurückweisung von Luthers Antisemitismus, denn der ist schon in seinem
realgeschichtlich erhellten Ursprung nicht haltbar und hat unermessliches
Unheil angerichtet (und tut es weiterhin);
- in der
Überwindung des Dogmas, die Bibel sei >Gottes Wort<, denn die
Religionsgeschichte zeigt uns, dass die macht- und interessenpolitisch gelenkte
Rezeption und die Unterschiedlichkeit
der Interpretation der Bibel im Laufe
der Geschichte jede Kanonisierung verbietet; und
- in der
Ablehnung von Luthers Lehre vom demütigenden Gott.
Wie sehr auch die protestantische Theologie
sich Luthers Gottesparadoxie in De servo
arbitrio schön interpretiert hat, um damit zugleich die Frage der Theodizee
zu beantworten (also die Frage, wie das Böse in der Welt mit der Existenz eines
allmächtigen und allwissenden Schöpfergottes zu vereinbaren ist), zeigt
beispielhaft eine kleine gedankliche Unschärfe bei Hanns Lilje, Randbemerkungen zu Leibniz’ Theologie, in: Leibniz. Sein
Leben – Sein Wirken – Seine Welt, hrsg. von Wilhelm Totok und Carl Haase,
Hannover 1966, S. 288). Lilje geht auf Luthers Gottes-paradoxie im
Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Pierre Bayle über
die Theodizee ein. Lilje schreibt:
>… (Bayle) hatte, die Allwissenheit
und Allmacht Gottes voraussetzend, statuiert, dass Gott für das gesamte
Geschehen in der Welt die moralische Verantwortung trägt. Als der Allweise und
Allmächtige hätte er die Möglichkeit gehabt, die Welt und ihre Kreaturen anders
zu erschaffen, die Sünde und das Übel zu verhüten…<
Und zu Leibniz’
Erwiderung stellt Lilje fest:
>Interessanterweise kommt …
(Leibniz) dabei auf einen Gedanken, den er der größten und tiefsten Schrift
Luthers entnehmen zu können glaubt. Er wiederholt, was Luther in De servo
arbitrio gegen Erasmus gesagt hat, nämlich, dass es gerade zum Wesen des
Glaubens gehöre, auch gegen allen Augenschein der göttlichen Liebe gewiss zu
sein. <
Lilje
lässt in dieser Feststellung zwei zentrale Unterschiede zu Luthers Lehre
von der Gottesparadoxie, wie wir sie oben im Zitat aus De servo arbitrio wiedergegeben haben, außer Betracht: Zum Einen,
dass Luther sich anmaßt, Gottes paradoxe Handlungsweise als göttliches Handlungs- und Erscheinungsmotiv zu kennen, und zum
Zweiten macht es einen riesigen Unterschied, ob man – wie Luther – das
göttliche Handlungsprogramm grundsätzlich
und generell, man könnte auch sagen:
konstitutiv, als ein nach außen
als Unheilsprogramm erscheinendes und immer nur verborgen Gutes begreift, oder ob man mit Paulus (Römer 1, 20) den guten Gott auch nach außen grundsätzlich und
generell an seiner guten Schöpfung und den Zeichen seiner Menschenliebe
erkennen kann, aber gerade bei dieser Grundannahme dann das Problem hat, die
Existenz des Bösen in der Welt mit dem an seinen guten Werken als gut erkannten
allmächtigen und allwissenden Schöpfer in Einklang zu bringen.
Damit sind wir bei den ersten beiden der
drei positiven Gewährleistungsziele des
aufgeklärt-wirklichkeitsgerecht-hilfreichen Glaubens, nämlich bei Freiheit und Verantwortung.
Das
Theodizee-Problem löst sich sofort auf, wenn man (mit Erasmus und gegen Luther)
den moralisch freien Willen des Menschen
als schöpfungskonstitutiv ansieht, wenn man also davon ausgeht, dass der
Schöpfergott dem Menschen die Freiheit
der Wahl (im Rahmen der Reichweite seines Entscheidungshorizontes) zwischen den
jeweils verschiedenen Entscheidungsalternativen gegeben hat, einschließlich der
Entscheidungsmöglichkeit für das Böse, ja einschließlich der Möglichkeit einer
Entscheidung gegen Gott. Und man muss wohl davon ausgehen, dass der Mensch als
mündiges Wesen nur in der Belehnung mit dieser völligen
Entscheidungsfreiheit gedacht werden kann: es geht hier um eine anthropologische
Grundkonstante. Eine Begrenzung des menschlichen Entscheidungsvermögens auf
nur gutartige Entschei-dungen würde das Menschengeschlecht zu einem Heer von
Willenslemuren degradiert haben, das zu
wahrer Humanität unfähig wäre.
Das bedeutet zugleich, dass der Mensch in
die Verantwortung für die menschlich zu gestaltenden Abläufe und
Zustände dieser Welt gestellt ist. Es war kein Theologe, der diese
Befindlichkeit öffentlich bekannt hat, sondern der 35. Präsident der USA, der
bekennender Katholik war: John F. Kennedy erbat am 20. Januar
1961 am Ende seiner Inaugural Address >...His blessing an His help, but knowing that
here on earth God’s work must truly be our own.<
Auschwitz (hier als Symbolbegriff für den
gesamten Holocaust verwendet) war deshalb ebenso Menschenwerk, wie es Tausende
von eingetragenen Christen waren, die an dieser bestialischen Mordmaschinerie
mitgewirkt haben. Die Schaffung dieser schlimmsten aller vorstellbaren Höllen
war hier im Diesseits von Menschen unter unvorstellbarem Missbrauch
ihrer moralischen Entscheidungsfreiheit Wirklichkeit geworden. Dies zeigt
zugleich, dass die auch vom Christentum imaginierte >Hölle< als (von Gott
oder dem Satan geschaffene) ultimative Strafinstanz im Jenseits nicht
unser eigentliches Problem ist, sondern die Vermeidung höllischer Folter- und
Vernichtungsprozeduren im Diesseits in unserer Verantwortung liegt.
Das dritte positive Gewährleistungsziel für
einen aufgeklärt-wirklichkeitsgerecht-hilfreichen Glauben ist der Lackmustest der Wirklichkeitskonkordanz.
Kein Glaube kann wirklich hilfreich sein, wenn er (angeblich geschehene oder
angeblich existierende) Tatsachen als Dogmen postuliert, die einer
Vernunftüberprüfung nicht standhalten. Nun ist die Wirklichkeit ein höchst
komplexes Gefüge von materiellen,
biologisch-funktionalen, sozialen und ideellen Gegebenheiten, die darüber
hinaus in intrikaten Wechselbeziehungen stehen. Nicht nur die Wissenschaften
vertiefen und erweitern ständig unser Wissen über einzelne Aspekte und
ausgewählte Zusammen-hänge dieser Wirklichkeit, sondern auch Literatur und
Kunst erschließen ständig neue Bewusstseinsräume und Befindlichkeiten der
Wahrnehmung und Selbstein-schätzung. Im Zusammenwirken aller dieser Elemente
erleben und begreifen wir individuell und in unterschiedlichen
Kollektivsituationen die Wirklichkeit, die damit eine notwendige offene,
das heißt niemals abgeschlossene, sich vielmehr in dauernder Entwicklung
befindende ist. Nur der Glaube ist
mit dieser offenen Wirklichkeit vereinbar, dessen Annahmen mit keiner dieser
neuen Wirklichkeits-konstellationen kollidiert, vielmehr durch jede neue
Erkenntnis, Entdeckung oder sonstige Wahrnehmung einen neuen Impuls der
Bestätigung erhält. Eine Religion, deren institutionelle Hüter einen Giordano
Bruno verbrennen und einen Galileo Galilei (um nur diese beiden
beispielhaft zu nennen) nachhaltigst bedrohen und unter Kuratel stellen ließen,
weil beide mit ihren Entdeckungen den Horizont der Wirklichkeitskenntnis
erweitert, dabei aber (angeblich) die biblische Lehre missachtet hatten – eine
solche Religion desavouiert sich als zeitgebundene geistliche
Herrschaftsverkrampfung, kann aber in der vollen Wirklichkeit keine
Orientierung und schon gar keinen Trost bieten.
Der wahren Wirklichkeit und ihren
Gesetzmäßigkeiten nachzuspüren, ist Aufgabe der verschiedenen Zweige der
Wissenschaften. Das Verhältnis der Wissenschaften zum Glauben ist deshalb unter
dem Postulat der Wirklichkeitsverbundenheit des Glaubens ein äußerst
zeitgemäßes Thema und es kann deshalb nicht verwundern, dass die Bücher hierzu
inzwischen Bibliotheken füllen. Ich möchte in der Kürze unserer hier
angestellten Überlegungen nur auf vier Dimensionen dieses Themas eingehen, die
allesamt dasselbe belegen: Dass nämlich nicht nur kein Gegensatz zwischen
Wissenschaft und Glauben besteht, sondern eine wechselseitige Impulswirkung
(Näheres in meinen Überlegungen zu
Chancen des Glaubens im technologischen Zeitalter, in: Bernd Rebe,
Denkerkundungen. Reden wider die Vordergründigkeit; Hildesheim-Zürich-New York
1995, S. 33 ff.).
Zum Einen ergeben sich Gegensätze
zwischen Glauben und Wissenschaft nur für solche Religionen, die, wie auch das
Christentum, noch in ihren überlebten Dogmen voraufklärerischer Weltdeutung
befangen sind. Ein Beispiel hierfür ist der
völlig unsinnige Streit zwischen Kreationisten und Evolutionisten: Sowie
man das biblische Bild von der Schaffung des Menschen durch göttliche Beatmung
eines Erdenkloßes (1. Buch Moses, 2.7) überwindet und dem Gedanken Raum gibt,
dass gerade die Evolution der göttliche Weg der Schaffung des Menschen gewesen
sein könnte, ist der Streit aus der Welt.
Zum Zweiten haben gerade solche
Wissenschaftler, die über die labormäßige Engführung ihrer Wissenschaft hinaus
bis an die Grenzen des Wissbaren vorgestoßen sind und sich über die umgreifende
Sinneinbettung ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse Gedanken
gemacht haben, nicht nur die Grenzen zum Noch-Nicht-Wissen neu vermessen,
sondern auch gerade aus ihrer wissenschaftlichen Grenzerfahrung
heraus die Notwendigkeit des Glaubens postuliert: >Die Physik selbst hat die
Tore zu einer Welt aufgestoßen, die eine umfassendere Wirklichkeit mit im
wahrsten Sinne des Wortes „metaphysischem“ Charakter zur Gewissheit
werden lässt< (Rebe aaO, S. 44).
Wolfram
Weimer erwartet in seinem in >postmodernem
Optimismus< hoch fahrenden Traktat >Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut ist< (München 2006, S. 43
u. 45) sogar eine Verstärkung
dieses glaubensgenetischen Zusammenhangs: >Je weiter die Wissenschaft in die Grenzsphären von Sein und
Wirklichkeit vordringt, desto größer werden die Felder der Glaubenserkenntnis….In allen naturwissenschaftlichen
Grenzregionen aber häufen sich die Kontingenzprobleme. Was sind letztlich
Eigenschaften von Elektronen? Wie erklärt und versteht sich die Unendlichkeit
des Universums? Am Ende schlägt die rationale Extremerkenntnis in vorreligiöse
Erwartung um. Dieser Trend, dass ausgerechnet aus wissenschaftlicher Arbeit ein
stark religiöser Erkenntnisimpuls erwächst, dürfte sich im 21. Jahrhundert
verstärken. Denn den Naturwissenschaftlern widerfährt in ihren Disziplinen das
Gleiche, was Kant in der Philosophie passierte. Mit dem Erkennen von Grenzen
geht die Einsicht einher, dass es etwas hinter den Grenzen geben muss, sonst
gäbe es keine Grenzen. <
Nahezu alle bedeutenden Wissenschaftler,
die über dieses Thema nachgedacht haben, sind gläubige Menschen (geworden),
wenn auch nicht notwendig in der tradierten Glaubenswelt des Christentums.
Zum Dritten dürfen die
Wechselbeziehungen zwischen Glauben und Wissenschaft nicht
bevormundend-begrenzend verstanden werden, sondern öffnend-freisetzend (Rebe
aaO, S. 35): Jede neue wissenschaftliche Erkenntnis über die Wunder dieser
Schöpfung muss doch unseren dankbaren Glauben befördern! Hier muss ich der
Einschätzung des Evolutionären Humanismus widersprechen, >dass
nicht nur streng religiöse Menschen (gleich welcher Herkunft!) arge
Probleme mit dem ernüchternden Perspektiven der Wissenschaft haben, auch die in
religiösen Dingen eher indifferent denkende Bevölkerungsmehrheit dürfte sich
schwer tun, die fundamentalen Kränkungen zu verarbeiten, die mit dem
fortschreitenden Prozess wissenschaftlicher Ent-Täuschungen unweigerlich
verbunden sind< (Michael Schmidt-Salomon. Manifest des evolutionären
Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, 2. Aufl. Aschaffenburg
2006, S. 10): Jede Annäherung an die Wirklichkeit, nicht nur die durch die
Wissenschaft, sondern z. B. auch die durch das Alter, bringt Ent-Täuschungen
mit sich, eben die Verabschiedung von Täuschungen. Dies ist aber ein Gewinn,
den wir zu schätzen lernen müssen.
Zum
Vierten lehrt uns die wissenschaftstypische Vorsicht im Umgang mit
(vermeintlichen) Gewissheiten, auch
im Glauben nur einen innersten Bereich von Dankbarkeit für die Schöpfung und
Ehrfurcht vor dem Leben (Albert Schweizer) sowie unsere immer erneute Erfahrung,
dass unsere Gebete nicht unbeantwortet bleiben, als wunderbaren Kern unseres
Glaubens zu nehmen. Mehr brauchen wir nicht, außer dem Respekt vor
anderen, die in anderer Weise und mit anderen Inhalten glauben, solange uns von
diesen anderen der gleiche Respekt für unseren Glauben entgegen gebracht wird,
denn, mit Georg Picht (bei A.M.Klaus Müller aaO, S. 20)
ausgedrückt:
„Man muss an Gott glauben, wenn man den
Glauben an die verborgene Zukunft des Menschengeschlechts nicht verlieren will.
Empirisch lässt sich die Hoffnung nicht mehr begründen, dass aus der Schändung
von allem, was heilig ist, dass aus Niedertracht, Dummheit, Gier, Roheit und
Barbarei noch ein Segen für die Zukunft der Welt hervorgehen kann.“
Dem ist jetzt nach der aus schrankenloser
Profitgier erwachsenden Weltfinanz-krise, die sich ja inzwischen zu einem fast
alle Bereiche des öffentlichen Lebens und Wirtschaftens erfassenden Krisenstrudel mit schlimmen Auswirkungen für
Millionen von Menschen ausgeweitet hat, nichts mehr hinzuzufügen.
(3. Fassung, Stand: 17. Mai 2009)