Von Jürgen Neffe © DIE ZEIT, 31.12.2008
Nr. 02
Wie auch immer die Geschichtsbücher die Ära Obama einmal bewerten mögen: Allein
sein Sieg symbolisiert einen Schritt aus dem Schatten jenes Mannes, der unser
Sein und Bewusstsein nachhaltiger geprägt hat als jeder politische Führer. Es
war Charles Darwin, der den Menschen ihre natürliche Herkunft erklärte und
»eine Zukunft von riesiger Dauer« prophezeite, in der sie »immer mehr nach
Vervollkommnung streben«. Aber es war auch Darwin, der das Schicksal seiner
Spezies dem Primat der Biologie unterwarf und ihrer Entwicklung damit einen
gewaltigen Stolperstein in den Weg schob. Seine Evolutionstheorie leistete und
leistet einem Denken Vorschub, das die Wahl eines Halbschwarzen aus kleinen
Verhältnissen zum mächtigsten Politiker der Welt noch vor Kurzem utopisch
erscheinen ließ.
Darwins Schatten überragt seinen Namen um genau fünf Buchstaben: ismus. Sie
trennen Wissenschaft von Weltanschauung, Idee von Ideologie, Biologie von
Biologismus. Keinem Naturforscher seines Ranges, keinem Newton, Einstein oder
Heisenberg wurde je die Ehre zuteil, als Begründer eines Ismus in die
Geschichte einzugehen. Doch dafür zahlt Darwin posthum einen hohen Preis: Unter
Biologen gehört es zwar nach wie vor zum guten Ton, sich als Anhänger seiner
Theorien zu bekennen und damit vom Kreationismus abzugrenzen. Im gängigen
Sprachgebrauch jedoch steht Darwinismus für Sozialdarwinismus, für Ellbogen und
das Recht des Stärkeren im allgegenwärtigen Verdrängungswettbewerb. Wer jemand
anderen einen Darwinisten nennt, meint das in der Regel nicht freundlich. Je
darwinistischer eine Gesellschaft daherkommt, desto egoistischer, unsozialer,
kälter steht sie da.
Wenn in diesen Tagen von einer Krise der Märkte, ja des Kapitalismus die
Rede ist, dann steckt dahinter auch die Krise eines Darwinismus der Konkurrenz
und Eigensucht – und zwar nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der
Biologie. Für den Freiburger Neurobiologen Joachim Bauer ist »der Darwinismus
mittlerweile zu einer Art Albtraum geworden«. Der Physiker und
Zivilisationsforscher Freeman Dyson ruft »das Ende des Darwinschen Zeitalters«
aus. Und Jürgen Habermas erklärt die »sozialdarwinistisch enthemmte
Weltpolitik« zum Ausläufermodell.
Aber was hat Darwin damit zu tun? Werden ihm die fünf Buchstaben unverdient
angehängt, oder trägt der (Sozial-)Darwinismus seinen Namen zu Recht?
Unterliegen Gesellschaften tatsächlich seinem biologischen Grundgesetz, oder
wirken im menschlichen Miteinander Mechanismen jenseits der Biologie? Wie viel
Schuld trägt Darwin daran, dass er wie kein zweiter Wissenschaftler zur
Reizfigur geworden ist?
Seine historische Leistung ist unbestritten: Als Erster formulierte Darwin
eine weltumspannende Theorie des Lebens. Er beschrieb die kreative Kraft des
Todes, ohne den es keinen evolutionären Fortschritt gäbe. Er stellte die
menschliche Existenz auf eine natürliche, materielle Grundlage. Seit
Veröffentlichung seiner Evolutionslehre wissen wir, was die Welt des Lebendigen
im Innersten zusammenhält: ihre Entwicklungsgeschichte.
Nach der Theorie der »gemeinsamen Abstammung«, Darwins bleibendem
Vermächtnis, gehen alle Kreaturen auf ein und denselben Ursprung zurück. Indem
er einen plausiblen Mechanismus für den Evolutionsvorgang lieferte, forderte er
wie keiner vor ihm die Schöpfungsgeschichte heraus, das zu seiner Zeit gängige
Erklärungsmodell für den Ursprung der Arten. Nicht ein planender Gott hat
Darwin zufolge die überbordende Vielfalt des Lebens erschaffen, sondern ein
planloser Prozess namens »natürliche Auslese«, in dem sich Zufall und
Notwendigkeit produktiv ergänzen.
Die Analyse
des Kapitalismus steht Modell für die Evolutionstheorie
Wenn man so will, geht Darwins Dilemma auf Geburtsfehler seiner Theorie
zurück, ohne die sie im 19. Jahrhundert nicht hätte entstehen können. Nachdem
er anhand fossiler und moderner Arten deren Wandelbarkeit durch Evolution
erkennt, vergleicht er den evolutionären Vorgang mit der Züchtung von Pflanzen
und Tieren. Die Modifizierung von Arten sei nichts anderes als gesteuerte,
beschleunigte Evolution. Kollegen weisen Darwin darauf hin, dass künstliche und
natürliche »Zuchtwahl« sich grundlegend unterscheiden. Bei der einen wird mit
(menschlichem) Wissen und Willen bewusst ein Ziel angesteuert, der anderen
fehlen Ziel und ordnende Hand – wenn nicht, wie von Verfechtern eines
»Intelligent Design«, der Schöpfer durch die Hintertür ins Spiel gebracht wird.
Da in jeder Generation im Durchschnitt eher die schlechter Angepassten von
der Fortpflanzung ausgeschlossen sind, findet in freier Wildbahn auch keine
positive Selektion statt wie bei der Zucht, sondern in der Regel negative.
Würden Züchter so verfahren wie die Natur, müssten sie sehr lange auf Erfolge
warten – wenn sich überhaupt je welche einstellen würden. Pinscher oder Doggen,
Turboweizen oder Superkühe hätte die biologische Evolution von sich aus niemals
hervorgebracht. Sie sind Produkte der Kultur.
Im nächsten Schritt holt Darwin zu seinem deduktiven Geniestreich aus. Er
verknüpft seine Erkenntnisse aus der Zucht mit der Bevölkerungstheorie eines
Nationalökonomen, also ebenfalls einem auf den Menschen gemünzten
Gedankengebäude. Wenn sich, so sein Landsmann Thomas Malthus Ende des 18.
Jahrhunderts, die Menschheit exponentiell vermehrt und innerhalb einer
Generation verdoppelt, wenn aber gleichzeitig die Nahrungsproduktion nur linear
ansteigt, dann kommt irgendwann zwangsläufig der Punkt, an dem nicht mehr alle
genug zu essen haben.
Malthus sagt Hungerkatastrophen voraus mit dramatischen Folgen wie
Krankheit, Krieg und Kannibalismus. Nur die Stärksten würden den Kampf ums
Dasein überleben. Darin lebt das bellum omnium contra omnes des
Philosophen Thomas Hobbes wieder auf, der Krieg aller gegen alle, der heute
Konkurrenzgesellschaft heißt. Die politische Lehre aus Malthus’ Analyse gehört
zu den einflussreichsten des 19. Jahrhunderts: Im Widerspruch zum Geist der
Französischen Revolution wendet er sich gegen jede Art von Sozialtransfer, da
Almosen die Armen nur zu mehr Nachwuchs ermunterten.
Darwin überträgt den malthusischen struggle for existence auf die
Natur. So steht die ökonomische Analyse des Manchester-Kapitalismus
gewissermaßen Modell für die Theorie biologischer Evolution – vom
Konkurrenzkampf, jeder gegen jeden, über die Selektionsmechanismen des Marktes
bis zur Entstehung neuer Nischen oder Produkte. Lebewesen werden zu Objekten
der Evolution, die eine unbestechliche Warenkontrolle einem Bio-Ranking
unterwirft. Der heutige Sozialdarwinismus macht im Grunde nichts anderes, als
die frühkapitalistische Wirtschaftsideologie über eine wissenschaftliche
Theorie wieder auf die Gesellschaft zurückzuspiegeln – und ihr damit scheinbar
zu einem naturgesetzlichen Fundament zu verhelfen.
Als er sich in seinem Werk dem Menschen nähert, folgt Darwin der Logik
seiner eigenen Entdeckungen. Da Homo sapiens als »noch nicht festgestelltes
Tier« (Nietzsche) wie alle Lebewesen den Gesetzen der biologischen Evolution
unterliegt, muss auch alles, was den Menschen ausmacht, durch die Mühle der
natürlichen Auslese gegangen sein. Darwin glaubt, in heutiger Sprechweise
ausgedrückt, dass kulturelle Unterschiede genetisch fixiert sind, dass Gene
unser Verhalten steuern und dass sich umgekehrt das Verhalten in den Genen
niederschlägt. An seinem Lebensende bekennt er: »Ich bin geneigt, mit Francis
Galton« – seinem Vetter, dem die Eugenik zugeschrieben wird – »darin
übereinzustimmen, dass Erziehung und Umgebung nur eine geringe Wirkung auf den Geist
eines jeden ausüben und dass die meisten unserer Eigenschaften angeboren sind.«
Das
»survival of the fittest« ist eine Tautologie: Sieger ist, wer gesiegt hat
Hier liegt die Ursache für Darwins blinden Fleck: Er verkennt die Macht der
kulturellen Evolution, die sich spätestens mit der Sesshaftwerdung des Menschen
über die biologische Evolution zu erheben begann. Anders als seine nächsten
Verwandten kann Homo sapiens die verfügbare Nahrungsmenge über ihre natürlichen
Grenzen steigern. Ohne Ackerbau und Viehzucht, ohne Züchtung und
Lebensmitteltechnologie hätte unsere Art schon die Mitgliederzahl von einer
Milliarde zu Darwins Zeiten niemals erreicht.
Seither hat die Menschheit mit kulturellen Errungenschaften, mit
medizinischem und technischem Fortschritt, ihre Zahl auf bald sieben Milliarden
gesteigert und die biologische Evolution mehr und mehr überwunden. Die
wichtigste Voraussetzung für die natürliche Auslese – eine Überzahl an
Nachkommen, von denen sich im Schnitt nur ein Teil weitervermehrt – ist in modernen
Gesellschaften immer weniger gegeben. Mit zwei Kindern pro Paar und einer
Überlebensrate bei Neugeborenen nahe hundert Prozent ist die Selektion im
Darwinschen Sinne praktisch zum Erliegen gekommen. Jedenfalls spielt die
biologische neben der ungleich effektiveren kulturellen Evolution kaum eine
nennenswerte Rolle.
So wie Darwin Natur über Kultur erhebt, das Angeborene über das Erworbene,
räumt er seinen Artgenossen nur wenig Entwicklungsspielraum ein: Menschen sind
gut oder böse, arm oder reich, über- oder unterlegen, weil die Biologie sie so
gemacht hat. Heute wissen wir, dass die biologische Evolution der kulturellen
mit jedem neugeborenen Menschen ein hochempfindliches, in viele Richtungen
formbares Wesen übergibt. Ob jemand Erfolg hat oder nicht, gewalttätig wird
oder friedlich, geistig wach oder träge, hängt wesentlich davon ab, welche
Nahrung ihm früh zuteil geworden ist – ob Essen oder Wissen, sozialer Umgang
oder Seelenwärme. Je mehr Chancen ein Mensch früh erhält, desto mehr wird er
später auch haben. Doch genau diese Form von Chancengleichheit gesteht der
Darwinismus den Menschen nicht zu, und zwar durchaus in Darwins Sinn.
Die fünf Buchstaben seines Schattens haben ihren Ursprung in einer
Tautologie, dem survival of the fittest. Den Kampf ums Dasein, sagt
er, überleben die Tauglichsten, korrekter gesagt, die am besten Angepassten.
Oder als tautologische Beschreibung des Status quo: Sieger ist, wer gesiegt
hat. Die Formel gehört zu den folgenreichsten, die je ein Forscher zu Papier
gebracht hat. Sie geht allerdings nicht auf Darwin zurück, sondern auf den
Soziologen Herbert Spencer – und damit wiederum auf ein Gesellschaftsmodell.
Spencer gilt als Begründer des Sozialdarwinismus, obwohl er dessen heutige
Thesen nie geteilt hätte. Er glaubt an kulturelle Evolution, an Evolution
total, vom All bis in die Seele, vom Molekül bis zur Moral. Krankes, Schwaches
und Entartetes merzt sich im Daseinskampf selbst aus, das Bessere ist der Feind
des Guten. In Darwins Entstehung der Arten von 1859 findet er das
gesuchte Stück Biologie für seine Weltanschauung.
Darwin übernimmt die Sprechweise vom survival of the fittest erst
ein paar Jahre später. In seinem Hauptwerk taucht sie erstmals in der fünften
Auflage 1869 auf. Da schreibt er bereits an seinem Nachfolgebuch über Die
Abstammung des Menschen. Darin äußert er sich, in Anlehnung an Malthus,
auch politisch: »Alle sollten sich des Heiratens enthalten, welche ihren
Kindern die größte Armut nicht ersparen können. Die Armut ist nicht nur ein
Übel, sondern führt auch zu ihrer eigenen Vergrößerung.« Gleichzeitig räumt er
ein, »dass ich in den früheren Ausgaben meiner Entstehung der Arten
wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl oder des Überlebens des
Passendsten zu viel zugeschrieben habe … dies ist eines der größten Versehen,
welches ich bis jetzt in meinem Werk entdeckt habe«. Doch da ist der Geist
schon aus der Flasche. Er beherrscht bis heute, auch unausgesprochen, den
gesellschaftlichen Diskurs.
Der Biologe Ernst Haeckel verbreitet Darwins Lehre noch zu dessen Lebzeiten
wie kaum ein anderer, vor allem in Deutschland. Haeckel macht die natürliche
Auslese zum Teil einer »universellen Entwicklungstheorie, die in ihrer enormen
Spannweite das ganze Gebiet des menschlichen Wissens umfasst«. Er stellt biologischen
Darwinismus in den Dienst politischer Ideologie, erklärt Selektion und
Konkurrenz zur Grundlage gesellschaftlichen Fortschritts und versteht den
deutschen Nationalstaat als darwinistisches Projekt. Und wie kein anderer
verschafft er dem Rassismus ein wissenschaftliches Fundament.
»Diese Naturmenschen«, schreibt er in seinen Lebenswundern, »stehen
in psychologischer Hinsicht näher den Säugethieren (Affen, Hunden), als dem
hochcivilisirten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswerth ganz
verschieden zu beurteilen.« Wenn es heißt, der Nationalsozialismus und andere
Tyrannenregime beriefen sich auf Darwin, dann ist damit eigentlich Haeckel
gemeint.
Schuld im Sinne von Vorsatz trifft Darwin nicht. Anders als Haeckel
betrachtet er Menschen aller Hautfarben als Vertreter einer Art – und
kämpft zeitlebens gegen Sklaverei als Besitz eines Menschen durch einen
anderen. Gleichwohl sieht er im Geiste seiner Zeit »Rassen« auf
unterschiedlichen biologischen Entwicklungsstufen – als seien die einen, zu
denen er selbst gehört, durch natürliche Selektion höher gezüchtet. Die
anderen, glaubt er fälschlicherweise, brauchen noch viele Generationen, bis sie
seinen Stand erreichen. In den Differenzen sieht er sogar »Beweise, dass alle
zivilisierten Nationen einst Barbaren waren«.
Heute wissen wir, dass der Begriff »Rasse«, wie ihn Züchter benutzen, auf
Menschen übertragen, keinen Sinn ergibt. Unsere Spezies ist trotz Eugenik und
Rassenwahn kein Resultat gezielter Züchtung. Eher entsprechen wir alle
Promenadenmischungen, die sich innerhalb einer Population individuell mehr
unterscheiden können als von Kontinent zu Kontinent.
Barack Obama als Mischling mit europäischstämmiger Mutter und afrikanischem
Vater überbrückt den Rubikon der Rassen in idealer Weise. Mit ihm erhält das
Zeitalter des Postrassismus ein Gesicht. Seinen Triumph verdankt er nicht
geerbten Privilegien, sondern ererbten Begabungen und der Chance, sie durch
gute Bildung zu entwickeln. Er liefert den lebendigen Beweis für die
Richtigkeit eines der wichtigsten Prinzipien zur Befriedung der Welt:
Chancengleichheit mit gesellschaftlicher Durchlässigkeit.
Anders als Obama kam Darwin nicht von unten. Er entstammt einer
privilegierten, wohlhabenden Bürgerfamilie. Erfolg und Ruhm hat er weniger
seinen Genen als dem Geld seines Vaters zu verdanken. Wäre er in einfachen
Verhältnissen aufgewachsen, hätte er sich trotz seiner Begabung vermutlich eher
als Arbeiter in einer Fabrik oder Kohlengrube wiedergefunden.
Dass dies allerdings auch zu seiner Zeit schon keine Naturnotwendigkeit mehr
war, zeigt der Lebensweg seines Kontrahenten Alfred Russel Wallace. Der Sohn
aus armem Elternhaus bildete sich autodidaktisch zum Naturforscher aus und
entwickelte unabhängig von Darwin dieselben Ideen einer Evolution durch Modifikation
und Selektion. Doch während der menschliche Körper, so Wallace, seine Evolution
weitgehend abgeschlossen hat (eine sehr moderne Auffassung), entwickelt sich
ihm zufolge der menschliche Geist weiter und erhebt sich über die biologische
Selektion.
Nicht Darwin, sondern der Mann im Blendschatten seines Ruhms begreift den
entscheidenden Punkt: Kulturelle Evolution läuft nicht darwinistisch ab,
sondern lamarckistisch; Eigenschaften wie Sprache, Werkzeuggebrauch,
medizinische Kenntnisse oder Mythologie werden kulturell tradiert, nicht über
Gene. Information fließt schneller als Blut.
Das darwinistische Programm findet seine moderne Fortsetzung in der
Soziobiologie, die tierisches wie menschliches Verhalten evolutionsbiologisch
zu erklären versucht. Darin lebt Darwins Idee auf, neben körperlichen Merkmalen
auch Geistiges über die Mechanismen der biologischen Evolution zu erklären –
und ihr damit die kulturelle unterzuordnen. »Gerade in seiner Kultur zeigt sich
des Menschen Natur«, erklärt der Gießener Biophilosoph Eckart Voland. »Sie
mögen außergewöhnlich lernfähig sein, aber dass Menschen deshalb belehrbar
wären, heißt das nicht. Das ist im Kern die Auffassung der Soziobiologie.« Der
Mensch ist schlecht, er kann nicht anders.
Soziobiologen und ihre jüngsten Ableger, die Evolutionspsychologen, werfen
uns auf Steinzeitniveau zurück und behaupten (ohne Beweise liefern zu können),
unser heutiges Verhalten habe sich im Wesentlichen als biologische Anpassung an
die damaligen Verhältnisse entwickelt. Ihr Argument folgt der darwinistischen
Denkweise: Da es existiert, muss es sich als vorteilhaft durchgesetzt haben –
auch Gier oder Pädophilie, Fremden- oder Frauenfeindlichkeit. Da heißt es,
Vergewaltigung sei eine »während der Stammesgeschichte begünstigte Spezialisation«,
da wird das Gewaltverhalten der Männer in einer Weise für evolutionär erklärt,
dass es fast wie ein Freispruch klingt. Denn schuld sind – die Gene!
Niemand wird die herausragende Rolle von (angeborenen) Instinkten für das
menschliche Handeln bestreiten. Wir sind ja nicht sexuell erregt oder erleben
bei Gefahr Adrenalinschübe, weil uns das jemand beigebracht hat. Aber deshalb
gleich zu behaupten, wir seien die Marionetten jener Gene, die sich bei unseren
frühesten Vorfahren als vorteilhaft durchgesetzt haben, verleugnet den Einfluss
von Zivilisation und Kultur.
Genau dies machte im Prinzip der britische Biologe Richard Dawkins, als er
1976 die Debatte mit seiner gleichermaßen originellen wie gefährlichen
Hypothese vom »egoistischen Gen« zuspitzte. »Wir sind Überlebensmaschinen –
Roboter, die blind darauf programmiert sind, diese egoistischen kleinen
Moleküle zu erhalten, die gemeinhin als Gene bekannt sind.« Damit folgte
Dawkins direkt dem Gedanken des survival of the fittest: Die Gene, die
uns formen, haben sich gegen alle anderen Konkurrenten durchgesetzt. Sie
»kämpfen« gegeneinander in Form der Organismen, deren Eigenschaften sie
bestimmen.
In Wahrheit »machen« Gene aber nichts, genauso wenig wie Texte von sich aus
etwas machen. Allenfalls wird mit ihnen etwas gemacht, wenn sie »gelesen«
werden. Biologische Systeme als die eigentlichen Akteure bedienen sich des
Genoms, um ihre Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten und sich an äußere Umstände
anzupassen, nicht umgekehrt. Sie können sogar, etwa durch »springende Gene«,
den Evolutionsprozess aktiv vorantreiben und damit unter Umständen ihre Art
retten.
Darwin würde diese moderne Sicht der Biologie wahrscheinlich begrüßen. Er
selbst vermutete bereits, dass die natürliche Auslese nicht der einzige
Evolutionsmechanismus bleiben wird, hielt sie aber für die entscheidende und
treibende Kraft. Seine Entdeckung hat bis heute Bestand. Sie lässt sich in
Experimenten nachvollziehen und sogar im Freiland beobachten. Weniger hätte es
ihm wohl gefallen, dass sie mittlerweile mehr wie ein kräftiges
Hintergrundrauschen der Evolution erscheint, während andere Mechanismen die
Sprünge und wahrhaft großen Entwicklungsschübe auslösen.
Damit verliert ein weiterer Bereich der Theorie, auf den sich der
Sozialdarwinismus stützt, an Bedeutung: Fortschritt sei vor allem ein Resultat
der Konkurrenz unter Individuen. Heute wird in biologischen Systemen eher
Kooperation als bestimmendes Prinzip angesehen, und zwar auf jeder
Entwicklungsstufe: Moleküle bilden Zellen, die in Geweben und Organen
zusammenarbeiten, die ihrerseits dem Organismus dienen, der sich als Teil
seiner Gemeinschaft in Ökosystem und Biosphäre fügt.
Darwin verstand Kooperation nicht als Gegensatz zur natürlichen Auslese,
sondern als ihr Resultat. In der ultradarwinistischen Lesart von Dawkins hat
sich das Ganze nur auf die Stufe der Gene verlagert. Auch Zusammenhalt und
Altruismus gehen in seinem Weltbild letztendlich auf egoistische Motive zurück.
Dass sich seine Hypothese trotz zunehmender Kritik aus der Fachwelt weiterhin
großer Popularität erfreut, hat wiederum mit einem Spiegelphänomen zu tun: In
ihr erkennt sich jener Teil der Gesellschaft wieder, der sich aufseiten der
Sieger sieht und das Gedankengut des Sozialdarwinismus als natürliche
Rechtfertigung seiner Privilegien benutzt.
Vom längst noch nicht gängigen Gegenmodell, einem sozialen Darwinismus, in
dem eher Entwicklungschancen über die Rolle im Leben entscheiden als die
Herkunft, hat Barack Obama profitiert – und als Beteiligte an seinem Erfolg
auch Gattin Michelle, die es aus ärmsten Verhältnissen über Harvard zur
erfolgreichen Anwältin gebracht hat. Mit ihrem Sieg verkörpern die Obamas nicht
nur eine Überwindung der Rassen-, sondern auch der Klassengrenzen. Zu Ende
gedacht, wenn jeder vergleichbare Möglichkeiten erhielte wie sie, entstünde
keine Gleichmacherei, sondern gleiches Recht für alle – und zwar durchaus mit
Darwins Segen:
»Es muss für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen«, schreibt er in der Abstammung
des Menschen, »und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder
Gebräuche daran verhindert werden, den größten Erfolg zu haben und die größte
Zahl von Nachkommen aufzuziehen.« Nur dass er mit den Fähigsten vor allem sich
und seinesgleichen meint.
Barack Obama hat mit seinem Ruf nach change den evolutionären
Wandel ins Zentrum seiner Kampagne gerückt. Gerade zwei Jahre war er alt, als
Martin Luther King der Welt seinen Traum verkündete. Nicht einmal ein halbes
Menschenleben später hat Obama ihn wahr gemacht – wie zum Beweis für die
Durchschlagskraft der kulturellen Evolution. Seinen Sieg verdankt er nicht
zuletzt einem von weltweiter Sympathie getragenen Kollektivgeist. Damit hat er
auch dem ureigensten biologischen Prinzip der Kooperation zu einem Durchbruch
verholfen – ein großer Schritt vom Ich zum Wir. Nicht »I can« heißt es
bei ihm, sondern »we can«.
Jürgen Neffe ist Autor der Reise-Biografie »Darwin. Das Abenteuer des
Lebens« (C. Bertelsmann Verlag, 2008)