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(Auszüge aus:)
E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde – eine biologische Geschichte des
Menschen, C.H.Beck, München 2013
(Seite 15ff.) „Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?“ Was Paul Gauguin auf der Leinwand seines tahitischen Meisterwerks in größtmögliche Schlichtheit fasste, sind tatsächlich die zentralen Fragestellungen von Religion und Philosophie. Werden wir sie jemals beantworten können? …
Die Religion wird dieses große Rätsel niemals lösen. Seit
der Altsteinzeit hat jeder Volksstamm … sich seinen eigenen Schöpfungsmythos
zugelegt. In dieser langen Traumzeit unserer Vorfahren haben übernatürliche
Wesen zu Schamanen und Propheten gesprochen. Sie offenbarten sich den
Sterblichen als Gott, als göttliche Familie, als Großer Geist, als Sonne, als
Ahnengeister, oberste Schlangen, Hybriden von allerlei Tieren, Chimären aus
Mensch und Tier, allmächtige Himmelsspinnen – als das, was sich irgend in den
Träumen, Halluzinationen und der fruchtbaren Phantasie der spirituellen Führer
heraufbeschwören ließ. In ihre Ausformung spielte zum Teil die Umwelt ihrer
Erfinder hinein. In Polynesien stemmten Götter den Himmel von Land und Meer ab,
und es folgte die Schöpfung des Lebens und der Menschheit. In den
wüstenbewohnenden Patriarchaten von Judentum, Christenheit und Islam entwarfen
die Propheten wie zu erwarten einen göttlichen, allmächtigen Patriarchen, der
über heilige Schriften zu seinem Volk spricht. …
Der Schöpfungsmythos ist ein darwinscher Überlebensfaktor. Stammeskonflikte,
bei denen die gläubigen Insider es gegen die Ungläubigen von außen aufnahmen,
waren eine wesentliche Antriebskraft in der Ausformung der biologischen Natur
des Menschen. Die Wahrheit jedes Mythos wohnte im Herzen der Menschen, nicht in
der rationalen Vernunft. Aus sich selbst heraus konnte der Mythos Ursprung und
Sinn der Menschheit niemals offenlegen. Umgekehrt aber funktioniert es: Die
Offenlegung von Ursprung und Sinn der Menschheit kann womöglich Ursprung und
Sinn der Mythen erklären und damit den Kern der organisierten Religion.
Lassen sich diese beiden Weltsichten irgendwie vereinbaren? Um es ehrlich und
einfach zu sagen: Nein. Sie lassen sich nicht vereinbaren. Ihr Gegensatz
definiert den Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen
empirischer Arbeit und Glaube an das Übernatürliche. …
(17) Das Bewusstsein entstand in einem Evolutionsprozess über Millionen von Jahren des Kampfes um Leben und Tod und gerade auch wegen dieses Kampfes; für die Selbsterforschung ist es nicht geeignet. Geeignet ist es für Überleben und Fortpflanzung. Bewusstes Denken wird von der Emotion gesteuert; dem Ziel Überleben und Fortpflanzung ist es voll und ganz ergeben.
(18) Was die Naturwissenschaft verspricht und zum Teil bereits geleistet hat, ist Folgendes: Es gibt eine echte Schöpfungsgeschichte der Menschheit, und zwar eine einzige, und diese ist kein Mythos.
(24) Damals betrug die durchschnittliche Lebenszeit einer Säugetierart nur eine halbe Million Jahre. Nach diesem Prinzip starben auch die meisten vormenschlichen Seitenlinien aus. Die eine, aus der sich der moderne Mensch entwickeln sollte, steuerte mindestens einmal und in den letzten 500000 Jahren wahrscheinlich mehrmals auf das Aussterben zu. Das Epos hätte an einer solchen Engstelle leicht zu Ende sein können, für immer erloschen in einem geologischen Wimpernschlag. Grund dafür hätte eine schwere Dürre zur falschen Zeit am falschen Ort sein können oder eine von anderen Tieren in die Population eingeschleppte Krankheit oder der äußere Druck von anderen, durchsetzungsfähigeren Primaten. Gefolgt wäre dem – gar nichts. Die Evolution der Biosphäre hätte neu ausgeholt und nie wieder zu dem geführt, was wir geworden sind.
(25f.) Zunächst kam es zu einem durchaus umweltverträglichen Prozess der Artenbildung in den Populationen unserer unmittelbaren Vorfahren überall in der Alten Welt. … Keine dieser HOMO-Arten – bezeichnen wir sie ruhig als Menschenarten – hat bis heute überlebt. Wäre das anders, so überstiege es jede Vorstellung, wenn man nur überlegt, zu was für moralischen und religiösen Problemen das in der modernen Welt geführt hätte. (Bürgerrechte für Neandertaler? Eigene Ausbildung für Hobbits? Erlösung und Paradies für alle?)
(27f.) Selbst nach der streng fachlichen Definition, die
sich auf Tiere bezieht, ist der Homo Sapiens im Sprachgebrauch der Biologen als
„eusozial“ (Eusozialität ist die Bezeichnung für das soziale Verhalten
in Form von Staatenbildung bei Tieren, insbesondere Insekten – JK) zu
bezeichnen: Seine Verbände umfassen mehrere Generationen, und deren Mitglieder
neigen im Rahmen ihrer Arbeitsteilung zu altruistischen Handlungen. …
Abgesteckt wurde der Weg zur Eusozialität durch einen
Wettstreit zwischen zwei Formen der Selektion: Einerseits beruhte die Selektion
auf dem relativen Erfolg von Individuen innerhalb von Gruppen und andererseits
auf dem relativen Erfolg zwischen Gruppen. Als Strategien dienten in diesem
Spiel verschiedene, in einer komplizierten Mischung sorgfältig austarierte
Faktoren, nämlich Altruismus, Kooperation, Konkurrenz, Dominanz, Reziprozität,
Abtrünnigkeit und Betrug.
Für die menschliche Spielvariante mussten die Populationen in ihrer Evolution
immer höhere Grade der Intelligenz erwerben. Sie mussten Empathie für andere
empfinden, die Emotionen von Freund und Feind gleichermaßen abschätzen,
jedermanns Absichten beurteilen und eine Strategie für die eigenen sozialen
Interaktionen aufstellen. So kam es, dass das menschliche Gehirn zugleich
höchst intelligent und äußerst sozial wurde. Es musste in der Lage sein, rasch gedankliche Szenarien für persönliche
Beziehungen zu erstellen, und das sowohl für kurz- als auch für langfristige
Beziehungen. Das Gedächtnis musste weit in die Vergangenheit zurückreichen, um
alte Szenarien abrufen zu können, und weit in die Zukunft vorausgreifen, um die
Folgen jeder Beziehung abschätzen zu können. Die Entscheidungsmacht über
alternative Handlungspläne übernahmen die Amygdala
und andere emotionsgesteuerte Kerngebiete des Gehirns und des vegetativen
Nervensystems.
(33) Kein individueller Evolutionsverlauf lässt sich vorhersagen, weder an seinem Anfang noch kurz vor dem Ende. Die natürliche Selektion kann eine Art an den Rand einer größeren revolutionären Veränderung bringen und im letzten Moment doch daran vorbeisteuern. Und doch lassen sich bestimmte Verläufe der Evolution als möglich oder unmöglich definieren, zumindest auf diesem Planeten.
(34) Die Evolution einer Art lässt sich so darstellen, dass die Umwelt ein Labyrinth ist, in dem sich wiederholt Gelegenheiten verschließen oder eröffnen, während das Labyrinth selbst der Evolution unterliegt. …
In jeder Runde des evolutionären Glücksspiels, also von einer Generation zur nächsten, müssen sehr viele Individuen leben und sterben. … Für den gesamten Verlauf der Evolution von unseren primitiven Säuger-Vorfahren von vor 100 Millionen Jahren bis zu der einzigen Linie, die ihren Weg bis zum Aufkommen des ersten Homo sapiens weiterging, mögen vielleicht 100 Milliarden Individuen nötig gewesen sein. Ohne es zu wissen, lebten und starben sie alle für uns. Viele Mitspieler, darunter andere sich entwickelnde Arten, die im Durchschnitt jeweils wenige tausend fortpflanzungsfähige Individuen pro Generation umfassten, gingen im Bestand zurück und starben aus. Wäre es einem Vorfahren aus der langen Linie, die zum Homo Sapiens geführt hat, so ergangen, so hätte das Epos Mensch ein abruptes Ende genommen. Unsre vormenschlichen Vorfahren waren weder auserwählt noch unschlagbar. Sie hatten einfach Glück.
(53) … was löste das schnelle evolutionäre Wachstum des Gehirns aus? Einer der Gründe war wahrscheinlich der allmählich wachsende Rückgriff auf Fleisch als Hauptproteinquelle: nachweisbar ist er durch die grundlegenden Veränderungen in der Schädel- und Gebissanatomie.
(59) Fleischfresser, die sich an Lagerstätten aufhalten,
weisen Verhaltensweisen auf, die umherwandernde Individuen nicht benötigen. Sie
müssen die Arbeit teilen: Die einen sammeln und jagen Futter, die anderen
bewachen das Lager und den Nachwuchs. Sie müssen Nahrung, und zwar pflanzliche
wie tierische, so teilen, dass es für alle akzeptabel ist.:
Sonst würden die Bindungen, die sie zusammenhalten, geschwächt. Außerdem
konkurrieren die Gruppenmitglieder unausweichlich miteinander – um einen
Status, der ihnen einen größeren Futteranteil sichert, um den Zugang zu einem
möglichen Geschlechtspartner und um einen bequemen Schlafplatz. All diese
Faktoren verleihen denen einen Vorteil, die die Absichten der anderen erkennen,
sich besser Vertrauen und Zusammenhalt verschaffen und mit Rivalen gut umgehen
können. Soziale Intelligenz hatte daher immer eine hohe Priorität. Ein
geschärfter Sinn für Empathie kann alles verändern, denn er befähigt dazu, zu
manipulieren, Kooperation zu erwirken oder auch zu betrügen. Um es so einfach
wie möglich zu sagen: Soziale Gewitztheit lohnt sich. Ganz zweifellos konnte
eine Gruppe kluger Vormenschen eine Gruppe plumper, ignoranter Vormenschen
besiegen und vertreiben …
Die Kohäsion, die sich zwangsläufig aus der Konzentration von Gruppen an
geschützten Orten ergab, war mehr als nur ein Schritt im Labyrinth der
Evolution. Sie war … das Ereignis, das die Zielgerade zum modernen Homo Sapiens
eröffnete.
(60) Insgesamt scheint mir, wir könnten jetzt vernünftig erklären, warum die Menschheit einzigartig ist, warum es zu etwas Vergleichbarem kein zweites Mal gekommen ist und warum es damit so lange gedauert hat. Schuld daran ist ganz einfach die extrem niedrige Wahrscheinlichkeit, dass die nötigen Präadaptionen überhaupt auftreten. Jeder dieser Evolutionsschritte war ja für sich genommen eine echte Adaption. Jeder erforderte eine bestimmte Abfolge einer oder mehrerer vorausgehender Präadaptionen. Der Homo Sapiens ist die einzige große Säugetierart – also groß genug, um ein so großes Gehirn wie der Mensch ausbilden zu können -, die im Labyrinth der Evolution jede einzelne dieser glücklichen Kehren genommen hat.
Die erste Präadaption war das Leben auf dem Land. Technologischer Fortschritt, der über abgeschlagene Steine und hölzerne Pfeile hinausgeht, setzt den Gebrauch von Feuer voraus. …
Die zweite Präadaption bestand im Heranwachsen zu einer Körpergröße, die innerhalb der Erdgeschichte nur ein Bruchteil landbewohnender Tierarten erreichte. Wiegt ein erwachsenes Tier weniger als ein Kilogramm, dann ist sein Hirnvolumen zu stark eingeschränkt für höher entwickeltes vernünftiges Denken und Kultur. …
Die nächste Präadaption war das Aufkommen greiffähiger Hände mit weichen, spatelförmigen Fingerkuppen, die lose Gegenstände halten und manipulieren konnten. Dieses Merkmal unterscheidet die Primaten von allen anderen landbewohnenden Säugetieren. Klauen und Krallen … eignen sich nicht für die Entwicklung von Technologien. …
Der folgende Schritt – also die nächste richtig genommene Kehre im Labyrinth der Evolution – war der Übergang zu einer Ernährung mit hohem Fleischanteil, der von ausgeweideten Tierleichen bzw. von lebenden Tieren stammte, die gejagt und getötet wurden. Bei gleichem verzehrtem Gewicht setzt Fleisch mehr Energie frei als pflanzliche Nahrung. …. Dass sich Kooperation bei der Fleischgewinnung als Vorteil erwies, führte zur Bildung in hohem Maße organisierter Gruppen. …
Vor etwa einer Million Jahren folgte der kontrollierte
Einsatz des Feuers, eine ausschließlich hominide
Leistung. …. riesige Vorteile. Kontrolliertes Feuer verbesserte den Fleischertrag,
weil mehr Tiere aufgescheucht und gefangen werden konnten. Ein laufendes
Bodenfeuer entsprach dem, was heute eine Meute Jagdhunde erreicht. Tiere, die
im Feuer umkamen, wurden häufig auch gleich gebraten. …
In der späteren Evolution entwickelten sich der Kauvorgang und die
Verdauungsphysiologie in Richtung einer Spezialisierung auf gekochtes Fleisch
und Gemüse. Kochen wurde ein allgemein menschliches Merkmal. Und mit dem Teilen
gekochter Mahlzeiten ergab sich ein allgemeines Mittel zur Förderung des
sozialen Zusammenhalts.
Feuer, das sich von einem Ort an einen anderen transportieren ließ, war eine
Ressource wir Fleisch, Früchte und Waffen.
…
Lagerstätten, die länger als nur ein paar Tage bestehen blieben und damit beständig genug waren, um als Rückzugsort bewacht zu werden, markierten den nächsten zentralen Schritt. Ein solches Nest, wie man es auch nennen kann, war bei allen anderen bekannten Tieren die Vorstufe zur Herausbildung der Eusozialität. …
(67) Aber welche evolutionäre Kraft half nun unserer Abstammungslinie, ihren Weg durch das Labyrinth der Evolution zu finden? Was in der Umwelt und den damals vorherrschenden Lebensumständen lenkte die Art durch die genau richtige Folge genetischer Veränderungen?
Wirklich religiöse Menschen werden natürlich sagen, es war Gottes Hand. Doch selbst für eine übernatürliche Macht wäre das eine höchst unwahrscheinliche Leistung gewesen. Um die Menschheit zu erschaffen, hätte ein göttlicher Schöpfereine astronomisch hohe Zahl genetischer Mutationen ins Genom einbringen und zugleich die physikalischen und biologischen Lebensumstände über Millionen Jahre so austarieren müssen, dass die archaischen Vormenschen auf Kurs blieben. Dasselbe hätte er mit ein paar Zufallsgeneratoren leisten können. Nein, es war die natürliche Selektion und keine schöpfende Hand, die diesen Faden durch das Labyrinth zog.
(67f.) Fast ein halbes Jahrhundert war es unter seriösen
Wissenschaftlern (mich eingeschlossen), die eine naturalistische Erklärung für
die Herkunft des Menschen suchten, verbreitet, die Antriebskraft der
menschlichen Evolution in der Verwandtenselektion zu orten. … ein attraktives,
verführerisches Konzept. Es besagt, dass Eltern, ihre Nachkommen und ihre
entfernteren Verwandten durch die Koordinierung und die gemeinsamen Ziele
aneinander gebunden sind, wie sie durch wechselseitige altruistische Handlungen
möglich werden. In der Tat ist Altruismus unter dem Strich für jedes
Gruppenmitglied von Nutzen, weil jeder Altruist aufgrund der gemeinsamen
Abkunft zu einem gewissen Anteil dieselben Gene besitz wie die meisten
Mitglieder seiner Gruppe. Da alle Verwandten einen Anteil gleicher Gene habe, steigert die Selbstaufopferung eines Individuums die
relative Anzahl dieser Gene in der nächsten Generation. Fällt diese Steigerung
größer aus als die durchschnittlichen Kosten durch den Umstand, dass weniger
Gene über den persönlichen Nachwuchs weitergereicht werden, so wird der
Altruismus gefördert und es entwickelt sich eine Gesellschaft. Die Aufteilung
der Individuen auf reproduktive und nichtreproduktive Kasten ist zum Teil eine
Erscheinungsform von selbstaufopferndem Verhalten im Interesse der Sippe.
Zum Nachteil dieser Hypothese sind die Grundlagen der allgemeinen Theorie der
Gesamtfitness, die auf den Annahmen der Verwandtenselektion fußen, inzwischen
zerbröckelt …. Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt
ist sie in sich zusammengestürzt.
(174) Im alten, konventionellen Bild, dem der
Verwandtenselektion und des „egoistischen Gens“, ist die Gruppe ein Bund
verwandter Individuen, die miteinander kooperieren, weil sie verwandt sind.
Obwohl ein gewisses Konfliktpotenzial besteht, tragen sie doch altruistisch zu
den Bedürfnissen der Kolonie bei. Arbeiterinnen treten bereitwillig einen Teil
oder ihre gesamte persönliche Reproduktionsfähigkeit ab, weil sie verwandt sind
uns wegen der gemeinsamen Abstammung Gene teilen. Damit begünstigt jede ihre
eigenen „egoistischen“ Gene, indem sie identische Gene fördert, die auch bei
ihren Gruppenmitgliedern vorhanden sind. Selbst wenn es für seine Mutter oder
Schwester sein Leben hingibt, vermehrt ein solches Insekt die Häufigkeit seiner
Gene, die es mit den Verwandten teilt. Zu den vermehrten Genen gehören auch
die, die das altruistische Verhalten bedingen. Verhalten sich andere
Koloniemitglieder genauso, so kann die Kolonie als Ganzes Gruppen aus
ausschließlich egoistischen Mitgliedern übertreffen.
Die Theorie vom egoistischen Gen wirkt zunächst ganz und gar vernünftig. In der
Tat galt sie den meisten Evolutionsbiologen gleichsam als Dogma – zumindest bis
2010. … dass die Theorie der
Gesamtfitness … sowohl mathematisch als auch biologisch fehlerhaft ist. …
(178) Bemerkenswerterweise war schon Darwin in der „Entstehung der Arten“ über denselben Grundbegriff gestolpert … Er hatte sich lange und intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie aus der natürlichen Selektion sterile Ameisenarbeiterinnen hervorgegangen sein konnten. Er sorgte sich über eine Schwierigkeit, „welche mir anfangs unübersteiglich und meiner ganzen Theorie wirklich verderblich zu sein schien.“ Dann löste er das Rätsel über den Begriff, den wir heute als „phänotypische Plastizität“ bezeichnen: Die Königin-Mutter und ihre Nachkommen gelten demnach gemeinsam als Ziel der Selektion durch die äußere Umwelt. Die Ameisenkolonie ist eine Familie, führt er aus und erklärt, „dass Zuchtwahl ebensowohl auf die Familie als auf die Individuen anwendbar ist und daher zum erwünschten Ziele führen kann. …“
(209) Die meisten Autoren in diesem Bereich, einschließlich des weltweit viel gelesenen Richard Dawkins, halten noch an ihrer Meinung fest; ich aber hegte seit Anfang der 1990er Jahre Zweifel.
(347f.) Die Multilevel-Selektion (also die Kombination der Gruppen- und der Individual-Selektion) erklärt auch die Tatsache, dass verschiedene Motivationen häufig im Konflikt zueinander stehen. Jeder gesunde Mensch spürt den Sog des Gewissens, das Tauziehen zwischen Heldentum und Feigheit, Wahrhaftigkeit und Betrug, Engagement und Rückzug. …
(75) Dass Menschen Gruppen bilden, tiefste Zufriedenheit und Stolz aus familiärer Verbundenheit schöpfen und sich gegen rivalisierende Gruppen engagiert verteidigen, gehört zu den absoluten Universalien ihrer Natur und damit ihrer Kultur. …
Menschen brauchen einen Stamm. Er verleiht ihnen einen Namen und ihre eigene soziale Bedeutung in einer chaotischen Welt. Er reduziert die Desorientierung und die Gefahren der Umwelt. …
(83) Die Abspaltung einer Gruppe, deren Mitgliedern die Humanität abgesprochen wird, rechtfertigt jede Brutalität, auf jeder Ebene und egal, wie groß die Opfergruppe ist, bis hin zu ganzen Rassen oder Bevölkerungen. …
Und wenn es keinen anderen passenden Grund gab, um einen Expansionskrieg zu führen, so konnte und kann dafür immer Gott herhalten.
(84) Martin Luther in seiner Schrift „Ob Kriegsleute auch in
seligem Stande sein können“ (1526):
„ … Was meinst du aber dazu, dass die Welt böse ist und die Menschen nicht
Frieden halten wollen, sondern rauben, stehlen, töten, Weib und Kind schänden
und Besitz und Ehre nehmen? Diesem allgemeinen Unfrieden auf der ganzen Welt,
der keinen Menschen verschont, muss der kleine Unfriede, der Krieg oder Schwert
heißt, wehren. Darum ehrt auch Gott das Schwert mit so hohen Worten, dass er es
seine eigene Ordnung nennt (Römer 13, 1) und nicht will, dass man sage oder
denke, die Menschen hatten es erfunden und eingesetzt. Denn die Hand, die das
Schwert führt und tötet, ist dann auch nicht mehr eines Menschen Hand, sondern
Gottes Hand, und nicht der Mensch, sondern Gott henkt, rädert, enthauptet,
tötet und führt den Krieg. Das alles sind seine Werke und sein Gericht. …“
(85) Man sollte nicht meinen, der Krieg, häufig begleitet von Genozid, sei ein kulturelles Artefakt einzelnen Gesellschaften, Genauso wenig ist er ein Irrtum der Geschichte, das Ergebnis wachsenden Leids im Reifeprozess unserer Spezies. Krieg und Genozid sind universell und ewig, sie gehören nicht zu bestimmten Zeiten oder Kulturen.
(88) Man könnte meinen, der Einfluss der friedliebenden östlichen Religionen, besonders des Buddhismus, würde sich konsequent gegen Gewalt richten. Doch dem ist nicht so. Wo immer der Buddhismus sich durchsetzte und zur offiziellen Ideologie wurde, sei es der Theravada-Buddhismus in Südostasien oder der tantrische Buddhismus in Ostasien und Tibet, wurde der Krieg toleriert und als Teil der religiös motivierten Staatspolitik sogar gefördert. Die Begründung ist einfach und existiert genauso im Christentum: Frieden, Gewaltlosigkeit und Brüderlichkeit sind zentrale Werte, aber eine Bedrohung buddhistischer Gesetze und Kulturen ist ein Übel, das abgewehrt werden muss. Das hieß: „Tötet sie alle, und Buddha wird die Seinen aufnehmen.“
(103) Aus wissenschaftlichen wie aus moralischen Gründen sollten wir lernen, die biologische Vielfalt des Menschen um ihrer selbst willen zu fördern, statt sie dazu zu nutzen, Vorurteil und Aggressivität zu rechtfertigen.
(114) Zwillingsstudien, in denen Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen untersucht werden (die also dasselbe Genmaterial besitzen, weil sie beide aus derselben befruchteten Eizelle stammen), legen nahe, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Introvertiertheit / Extrovertiertheit, Schüchternheit und Erregbarkeit stark dem genetischen Einfluss unterliegen. In einer gegebenen Population sind etwa 25 bis 75 Prozent der Unterschiede zwischen Individuen auf die Gene zurückzuführen.
(116) In der kritischen Phase der menschlichen Vorgeschichte 60000 bis 50000 Jahre vor heute wurde das Wachstum der Kulturen eigenkatalytisch. … langsam, dann immer schneller ... Das liegt daran, dass das Aufkommen irgendeiner Innovation das Aufkommen bestimmter anderer Innovationen möglich machte, und wenn sie sich als nützlich erwiesen, verbreiteten sie sich daraufhin mit größerer Geschwindigkeit … wurde die Gruppenselektion zum Antrieb für die Evolution der Kultur.
(121) Evolutionsbedingte Veränderungen der Genfrequenz auf der Ebene eines einzelnen Gens oder einer kleinen Gruppe von Genen, die etwa auf demselben Chromosom liegen, werden von Biologen als Mikroevolution bezeichnet; es steht zu erwarten, dass sie als natürlicher Prozess auf unbestimmte Zeit weitergehen werden.
Für die nähere Zukunft stellen Migration und ethnische Mischehen die absolut dominanten Kräfte der Mikroevolution dar, die die Gendistribution weltweit homogenisiert. Sauf die Menschheit als Ganzes wirkt sich das … bereits so aus, dass die Genvariabilität innerhalb der Populationen überall in der Welt in nie dagewesener Weise ansteigt. … Dieser Wandel … lässt zunehmend mehr verschiedene Menschen erwarten und damit neuartige körperliche Schönheit sowie künstlerische und intellektuelle Begabung.
(123) (eugenetische Manipulation, Gentechnik, Roboter?) Der biologische menschliche Geist ist unser ureigenes Terrain. Mit all seinen Launen, der Irrationalität und den riskanten Erträgen, mit all seinen Konflikten und seiner fehlenden Effizienz ist der biologische Geist das Wesen und der eigentliche Sinn des Menschen.
(133) Kurz vor dem Beginn der Landwirtschaft vor etwa 10000 Jahren gab ein Gefüge günstiger Bedingungen den Völkern des eurasischen Superkontinents eine gewaltige Gelegenheit dafür, dass die kulturelle Revolution schnell möglich wurde. … Die Größe und Fruchtbarkeit dieses eurasischen Kernlandes und nicht das Aufkommen eines an bestimmten Orten endemischen humanen Genoms führte zur neolithischen Revolution.
(192) Charles Darin … postulierte (in „Der Ausdruck der Gefühle bei Mensch und Tier“), dass die Verhaltensmerkmale jeder Art genauso erblich sind wie die typischen Merkmale ihrer Anatomie und Physiologie. Dass sie aufgekommen sind und heute existieren, so Darwin, liegt daran, dass sie in der Vergangenheit Überleben und Fortpflanzung gefördert haben.
(198) Merkmale, an denen ausschließlich die Selektion
zwischen Gruppen angreift, sind solche, die sich aus dem Zusammenspiel der
jeweiligen Gruppenmitglieder ergeben. Das trifft auf Kommunikation zu, auf
Arbeitsteilung, Dominanz und die Kooperation bei der Erfüllung gemeinsamer
Aufgaben. Verschafft die Qualität dieses Zusammenspiels der Kolonie einen
Vorteil im Vergleich zu Kolonien, die anders oder weniger stark
zusammenspielen, so verbreiten sich in der Population der Kolonien mit jeder
Koloniegeneration die Gene, die diesen Handlungen zugrunde liegen.
Das Gegeneinander von Individual- und Gruppenselektion führt bei den
Mitgliedern einer Gesellschaft zu einer Mischung aus Altruismus und Egoismus,
von Tugend und Sünde.
(224) Die Gruppierung in Familien kann die Verbreitung eusozialer Allele beschleunigen, führt aber nicht selbst zu fortgeschrittenerem Sozialverhalten. Dessen eigentliche Ursache ist der Vorteil eines verteidigungswerten Nestes, insbesondere wenn es aufwändig zu bauen ist und in Reichweite einer nachhaltigen Futterquelle liegt. Aufgrund dieser Vorbedingung bei den Insekten ist enge genetische Verwandtschaft bei der primitiven Koloniegründung die Folge und nicht die Ursache eusozialen Verhaltens.
(225) muss eine Mutation nicht unbedingt den Aufbau eines neuen Verhaltens vorschreiben. Sie kann auch einfach alte Verhaltensformen abschalten.
(232) George P. Murdock listete 1945 in den Human Relation
Area Files folgende 67 sozialen Verhaltensweisen und Institutionen auf, die den
hunderten von untersuchten Gesellschaften gemeinsam sind (alphabetische
Reihenfolge):
„Aberglaube über Glück und Unglück, Alterseinteilungen, Arbeitsteilung,
Begräbnisriten, Besänftigung übernatürlicher Wesen, Bestrafung, Besuchen,
Bevölkerungspolitik, Brautwerbung, Chirurgie, Eheschließung, Eigentumsrechte,
Erbschaftsregeln, Erziehung, Eschatologie, Ethik, Ethnobotanik, Etikette,
Familienfeiern, Folklore, Gastfreundschaft, Geburtshilfe, Geistheilung,
Gesetze, Gesten, Grußsitten, Haartracht, Handel, Hellseherei, Hygiene,
Inzesttabus, Kalenderführung, Kochen, kooperative Arbeit, Körperschmuck,
Kosmologie, Magie, Mahlzeiten, Medizin, Nutzung des Feuers, Organisation der
Gemeinschaft, Personennamen, Regierung, religiöse Rituale, Sauberkeitstraining,
Schenken, Scherzen, Schmuckkunst, Schwangerschaftsbräuche, Seelenbegriff,
sexuelle Grenzen, Spiel, sportliche Betätigung, Sprache, Statusdifferenzierung,
tabuisierte Nahrungsmittel, Tanz, Traumdeutung, Übergangsriten,
Verwandtschaftsgruppen, Verwandtschaftsnamen, Weben, Werkzeugherstellung,
Wetterbeobachtung, Wochenbettfürsorge, Wohngesetze, Wohnstätten“
(239) Das Schulbeispiel der Gen-Kultur-Koevolution in den letzten Jahrtausenden ist die Entwicklung der Laktosetoleranz bei Erwachsenen. Bei allen vorausgehenden menschlichen Generationen wurde Laktase, also das Enzym, das den Milchzucker Laktose in abbaubare Zucker umwandelt, nur bei Kleinkindern produziert. Wurden Kinder von der Muttermilch entwöhnt, so stellten ihre Körper automatisch die weitere Laktaseproduktion ein. Als vor 9000 bis 3000 Jahren die Viehzucht aufkam, … breiteten sich kulturell bedingt Mutationen aus, die die Laktaseproduktion bis ins Erwachsenenalter beibehielten, so dass weiterhin Milch verzehrt werden konnte. Der Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil aus dem Verzehr von Milch und Milchprodukten erwies sich als grandios. Kuh-, Ziegen- und Kamelherden gehören zu den produktivsten uns zuverlässigsten Futterquellen, die dem Menschen ganzjährig zur Verfügung stehen. Genetiker haben vier unabhängige Mutationen entdeckt, die die Laktaseproduktion verlängern, eine in Europa und drei in Afrika.
(247) die weite Definition des Wortes „Epigenetik“ durch das amerikanische National Institute of Health als „Veränderungen in der Regulation der Genaktivität und –expression, die nicht durch die Gensequenz festgelegt sind“, und zwar „sowohl erbliche Veränderungen der Genaktivität und –expression (bei den Nachkommen von Zellen oder Individuen) als auch stabile, langfristige Veränderungen im Transkriptionspotenzial einer Zelle, die nicht zwangsläufig erblich sind.“
(256) Nach einer bei Anthropologen und Biologen verbreiteten Definition ist Kultur eine Kombination von Merkmalen, die eine Gruppe von einer anderen unterscheidet. Ein Kulturmerkmal ist ein Verhalten, das entweder in einer Gruppe neu erfunden oder von einer anderen Gruppe erlernt und dann zwischen den Gruppenmitgliedern weitervermittelt wird. Die meisten Forscher sind sich auch einig, dass der Begriff der Kultur auf Tier und Mensch gleichermaßen angewandt werden sollte …
(257) warum aber sind … Delfine und andere Wale mit großen Gehirnen, deren Evolution Millionen von Jahren zurückreicht, in der sozialen Evolution nicht weiter fortgeschritten? Drei Gründe zeichnen sich ab: Anders als Primaten haben sie keine Nester oder Lagerstätten. Ihre vorderen Gliedmaßen sind Flossen. Und in ihrem Wasserreich ist ihnen der Einsatz kontrollierten Feuers für immer versagt.
(272) Menschen sind offenbar nicht deshalb erfolgreich, weil sie eine höhere allgemeine Intelligenz besitzen, die bei allen Herausforderungen greift, sondern weil sie geborene Spezialisten in sozialen Fähigkeiten sind. Durch Kooperation über Kommunikation und das Ablesen von Intentionen können Gruppen sehr viel mehr erreichen als ein Einzelner …
(285) Plastizität … Ist ein Merkmal oder eine Reaktion nicht angemessen, so kann man innerhalb des genetischen Repertoires auf eine andere Option umschalten. …
Seit den 1970er Jahren kennen Biologen die genetischen Prozesse, über die die Evolution der Plastizität wohl abläuft. Wahrscheinlich kommt es nicht zu Mutationen an Protein-codierenden Genen, die eine Basis einer Aminosäure und damit den Aufbau eines Proteins verändern würden. Wahrscheinlich treten solche Veränderungen eher an regulatorischen Genen auf, die steuern, in welchem Tempo und unter welchen Bedingungen die Proteine produziert werden.
(289) Zur Individualselektion kommt es im Überlebens- und Fortpflanzungswettkampf zwischen den Mitgliedern derselben Gruppe. Sie formt bei jedem Mitglied Instinkte heraus, die gegenüber den anderen Mitgliedern grundlegend egoistisch sind. Die Gruppenselektion formt Instinkte heraus, die Individuen tendenziell zu Altruisten machen (allerdings nicht gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen). Die Individualselektion verantwortet daher einen Großteil dessen, was wir als Sünde bezeichnen, die Gruppenselektion dagegen den größeren Teil der Tugend. Beide begründen den Konflikt zwischen den guten und bösen Anteilen unserer Natur.
(291) Würde die Individualselektion dominieren, so würden sich die Gesellschaften auflösen. Bei einer Dominanz der Gruppenselektion würden die menschlichen Gruppen irgendwann Ameisenkolonien gleichen.
(292) In den modernen Industrieländern sind die Netzwerke mittlerweile derart komplex, dass unser ererbter steinzeitlicher Geist davon völlig überfordert wir. Unsere Instinkte wünschen sich noch heute die überschaubaren, geeinten Banden-Netzwerke, die in vorgeschichtlicher Zeit über Hunderttausende von Jahren vorherrschten. Auf die Zivilisation sind unsere Instinkte weiterhin nicht vorbereitet.
(294) Umfassende neuere Forschung hat uns Einsichten darin vermittelt, wie die Moralimpulse innerhalb des Gehirns funktionieren könnten. Es gibt vielversprechende Ansätze zur Erklärung der Goldenen Regel, die sich vielleicht als einzige Vorschrift in allen organisierten Religionen findet. Die Goldene Regel ist für jede moralische Überlegung grundlegend. Als der große Theologe und Philosoph Rabbi Hillel einmal aufgefordert wurde, die gesamte Tora in der Zeit zu erklären, in der er auf einem Bein stehen konnte, sagte er: „Was Dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erläuterung.“
Genauso gut hätte er von „zwangsläufiger Empathie“ sprechen können; das heißt, jeder, der nicht psychisch krank ist, spürt automatisch den Schmerz anderer.
(298) Das Gewirr von Impulsen, die im bewussten Gehirn
aufkommen, wurde von Steven Pinker in „Das unbeschriebene Blatt“ (2002)
sorgfältig katalogisiert:
„Die ablehnenden Emotionen, die zur Verurteilung anderer Menschen führen –
Verachtung, Ärger und Abscheu -, veranlassen uns, Betrüger zu bestrafen. Die
anerkennenden Emotionen, die zur Akzeptanz anderer Menschen führen –
Dankbarkeit und eine Emotion, die man als Erhebung, moralische Hochachtung oder
Rührung bezeichnen könnte -, veranlassen uns, Altruisten zu belohnen. Die
sympathischen Emotionen, die Einblick in das Leiden anderer Menschen gewähren –
Mitgefühl, Mitleid und Empathie -, veranlassen uns, denen zu helfen, die
unserer Hilfe bedürfen. Die selbstbezogenen Emotionen schließlich, die sich mit
den eigenen negativen Aspekten befassen – Schuld, Scham und Verlegenheit -,
veranlassen uns, auf Betrug zu verzichten oder seine Auswirkungen wieder
gutzumachen.“
(299) Alle gesunden Menschen sind zu echtem Altruismus in der Lage. Unter allen Tieren sind wir die einzigen, die in solchem Ausmaß ihre Kranken und Verletzten pflegen, die Armen unterstützen, Hinterbliebene trösten und sogar bereitwillig unser eigenes Leben riskieren, um Fremde zu retten.
(301) Unsere Art ist kein Homo Oeconomicus. Unterm Strich zeigt sich, dass sie komplizierter ist und interessanter. Wir sind der Homo Sapiens, unvollkommene Wesen, die sich aufgrund gegensätzlicher Impulse durch eine unvorhersagbare, unerbittlich bedrohliche Welt kämpfen und das Beste machen aus dem, was sie haben.
(306ff.) Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert spitzt sich der Harmagedon im Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion deutlich zu ….
Es geht darum, dass die Naturwissenschaft die Religion von Grund auf zu erklären versucht – nicht als unabhängige Realität, in der die Menschheit ihren Platz sucht, nicht als Gehorsam gegenüber einer göttlichen Macht, sondern als Produkt der Evolution durch natürliche Selektion. …
Wurde der Mensch erschaffen nach dem Bild Gottes, oder wurde Gott nach dem Bild des Menschen erschaffen? Das ist der Kern des Dissenses zwischen Religion und wissenschaftlich begründetem Atheismus. Für welche Option man sich entscheidet, wirkt sich tiefgreifend auf das Selbstverständnis des Menschen und auf seinen Umgang mit den Mitmenschen aus. Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, wie es die Schöpfungsmythen und Darstellungen der meisten Religionen suggerieren, so lässt sich vernünftigerweise davon ausgehen, dass ihm persönlich an den Menschen gelegen ist. Hat aber Gott die Menschheit nicht nach seinem Bildgeschaffen, dann kann es sehr gut sein, dass das Sonnensystem in den ungefähr 1036 Sternensystemen des Universums keine große Besonderheit ist. Wäre diese Annahme weithin verbreitet, so würde die Zugehörigkeit zu organisierten Religionen rapide abnehmen.
Kommen wir also zur ultimativen Frage, die die Theologen meines Erachtens jahrhundertelang ohne Not verkompliziert haben. Gibt es Gott? Und wenn es ihn gibt, ist es ein persönlicher Gott, einer, zu dem wir beten können in der Erwartung, dass er uns antwortet? Und wenn ja, können wir dann erwarten, dass wir unsterblich sind und, sagen wir für den Anfang, die nächsten Billionen Billionen Jahre in Frieden und Freude leben werden?
1998 … Umfrage unter den Mitgliedern der US-Akademie der Wissenschaften … nur 10% gaben an, entweder an Gott oder an die Unsterblichkeit zu glauben. Zu ihnen gehörten gerade einmal 2% der Biologen.
(308) Wenn ein persönlicher Gott oder mehrere Götter oder immaterielle Geister gewissermaßen nicht allgemein anerkannt sind, wie wäre es dann mit einer göttlichen Macht als Schöpfer des Universums? Könnten wir alle so einen Schöpfer verehren – auch wenn er sich nicht besonders um uns kümmern würde? So lautet das Argument des Deismus: Die materielle Existenz begann, weil etwas oder jemand das wollte.
(310) Nehmen wir an, … wir würden irgendwie die physikalischen Gesetz des Universums als Beweis für ein übernatürliches oberstes Wesen interpretieren. Dann wäre es ein riesiger Glaubenssprung, die biologische Geschichte, die sich auf diesem Planeten abgespielt hat, einem göttlichen Eingriff zuzuschreiben. …
Vielfache Belege weisen darauf hin, dass die organisierte Religion ein Ausdruck des Tribalismus (Gemeinschaft auf der Ebene eines Stammes - JK) ist. Jede Religion lehrt ihre Anhänger, dass sie auserwählt sind und dass ihre Schöpfungsgeschichte, ihre Moralvorschriften und ihre göttlich gewährten Privilegien denen der anderen Religionen überlegen sind. Wohltätigkeit und andere altruistische Handlungen konzentrieren sich auf Religionsgenossen; wenn sie auch auf Außenstehende ausgedehnt werden, dann gewöhnlich aus missionarischen Gründen und um damit den Stamm und seine Verbündeten zu stärken. Kein religiöser Anführer fordert je dazu auf, rivalisierende Religionen kennenzulernen und sich für die zu entscheiden, die einem für sich persönlich oder für die Gesellschaft am geeignetsten erscheint. Stattdessen ist der Konflikt zwischen Religionen häufig ein Katalysator, wenn nicht eine direkte Ursache für Kriege. Tief Gläubige stellen ihren Glauben über alles andere und brausen leicht auf, wenn er provoziert wird. Die Macht der organisierten Religionen beruht darauf, dass sie soziale Ordnung und persönliche Sicherheit zu festigen helfen, nicht aber auf ihrem Beitrag zur Wahrheitssuche. Ziel der Religionen ist die Unterwerfung unter den Willen und das Allgemeinwohl des Stammes.
Die mangelnde Logik von Religionen ist keine Schwäche, sondern ihre wesentlich Stärke. Die Akzeptanz der bizarren Schöpfungsmythen bindet die Mitglieder aneinander. …
Ei derart starker Stammesinstinkt konnte in der realen Welt nur durch die Evolution über Gruppenselektion aufkommen, also im Kampf von Stamm gegen Stamm.
(311) Der vermeintliche Auftritt göttlicher Wesen auf der
Bühne verdankt sich den persönlichen Gedankenprozessen der Propheten und
Gläubigen. Sie gehen davon aus, dass die Götter genauso fühlen, denken und
planen wie sie selbst. Im Alten Testament etwa ist Jahwe verschiedentlich von
Liebe, Eifersucht, Zorn und Rache getrieben – genauso wie seine sterblichen
Kinder.
Der Mensch projiziert seine Menschlichkeit …
Gott ist zum Beispiel in allen drei abrahamitischen
Religionen (Judentum, Christentum und Islam) ein Patriarch, ganz wie die
Herrscher über die Wüstenstämme, in denen diese Religionen aufkamen.
(328f.) Was genau sind dann eigentlich die
Geisteswissenschaften? Ein ernsthafter Definitionsversuch findet sich im
US-Bundesgesetz von 1965, das die staatlichen Stiftungen für
Geisteswissenschaften (NEH) und für Kultur und Kunst (NEA) einrichtete:
„Der Begriff „Geisteswissenschaften“ umfasst, beschränkt sich aber nicht auf
das Studium folgender Gebiete: moderne und klassische Sprachen, Linguistik,
Literatur, Geschichte, Rechtswissenschaften, Philosophie, Archäologie,
komparative Theologie, Ethik, Geschichte, Kritik und Theorie der Kunst;
außerdem diejenigen Aspekte der Sozialwissenschaften, die humanistische Inhalte
und humanistische Methoden verwenden; sowie Studium und Anwendung der
Geisteswissenschaften auf die Umwelt des Menschen mit besonderer Rücksicht auf
die Wiedergabe unseres unterschiedlichen Erbes, der Traditionen und der
Geschichte sowie auf die Relevanz der Geisteswissenschaften für die heutigen
Bedingungen des staatlichen Lebens.“
(332) Picasso: „Kunst ist die Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.“ …
(343) Geschichte ohne Vorgeschichte ergibt keinen Sinn, und genauso sinnlos bleibt Vorgeschichte ohne Biologie.
(344) Alle Einheiten und Prozesse des Lebens folgen den Gesetzen der Physik und Chemie; und alle Einheiten und Prozesse des Lebens sind in der Evolution durch natürliche Selektion entstanden.
(347) Ein Grundelement der menschlichen Natur lautet, dass der Mensch sich zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe genötigt fühlt und die eigene Gruppe als konkurrierenden Gruppen überlegen erachtet.
(348) Wir sind Genies darin, die Absichten der anderen zu lesen, die ja selbst auch in jedem Moment mit ihren eigenen Engeln und Dämonen kämpfen. Um den Schaden zu begrenzen, den wir mit unseren unvermeidlichen Fehltritten anrichten, haben wir unsere bürgerlichen Gesetzbücher.
(348) Die frühen Menschen hatten jenseits der Reichweite ihrer Territorien und Handelsnetze keinerlei Kenntnis von der Erde. Sie wussten nichts über den Himmel jenseits des Himmelsgewölbes, über dessen Innenseite Sonne, Mond und Sterne wanderten. Um die Rätsel ihrer Existenz zu erklären, glaubten sie an höhere Wesen, die im Übrigen waren wie sie selbst, göttliche Wesen, die eben nicht nur Steinwerkzeuge und Hütten erbauten, sondern das gesamte Universum. Mit dem Aufkommen von Stammesfürstentümern und später politischen Staaten entwickelte sich die Vorstellung, dass es über den erdgebundenen Herrschern, denen sie gehorchten, noch übernatürliche Herrscher geben musste.
Die frühen Menschen brauchten eine Geschichte für alles Wichtige, das ihnen zustieß, weil das Bewusstsein ohne Geschichten und Erklärungen seiner eigenen Bedeutung nicht funktionieren kann. Die beste, ja die einzige Möglichkeit, mit der unsere Vorfahren eine Erklärung für die Existenz an sich aufbauen konnten, war ein Schöpfungsmythos. Und ausnahmslos jeder Schöpfungsmythos statuierte die Überlegenheit des Stammes, der ihn erfand, über alle anderen Stämme. Ausgehend von dieser Annahme empfand sich jeder religiös Gläubige als Auserwählter.
Organisierte Religionen und ihre Götter wurden zwar im Unwissen über einen Großteil der realen Welt erdacht, aber bedauerlicherweise schon in der frühen Geschichte in Stein gemeißelt. Wie in ihren Anfängen sind sie überall noch heute Ausdruck des Tribalismus, in dem die Mitglieder ihre eigene Identität und ihr besonderes Verhältnis zur übernatürlichen Welt begründen. Ihre Dogmen kodifizieren Verhaltensregeln, die der Gläubige ohne jedes Zögern übernehmen kann. Den heiligen Mythos zu hinterfragen bedeutet, die Identität, den Wert desjenigen zu hinterfragen, der daran glaubt. Deswegen werden Skeptiker sowie Anhänger anderer, ebenso absurder Mythen so rundheraus abgelehnt. …
Doch genau die biologischen und historischen Umstände, die uns in die Sümpfe der Ignoranz geführt haben, haben auf andere Weise der Menschheit sehr gute Dienste geleistet. Organisierte Religionen walten über die Übergangsriten von der Geburt bis zum Erwachsensein, von der Ehe bis zum Tod. Sie bieten das Beste, was ein Stamm geben kann: eine engagierte Gemeinschaft, die ehrliche emotionale Unterstützung leistet, die die Menschen annimmt und ihnen verzeiht. Der Glaube an Götter, an einen einzelnen wie an eine Vielfalt, sakralisiert Gemeinschaftshandlungen, etwa die Einsetzung von Herrschern, das Befolgen der Gesetze oder die Erklärung von Kriegen. Der Glaube an die Unsterblichkeit und an eine letzte göttliche Gerechtigkeit ist ein kostbarer Trost; in schwierigen Zeiten stärkt er Entschlossenheit und Kampfeskraft. Über Jahrtausende waren die organisierten Religionen die Quelle für die großartigsten Werke der Kunst.
Warum sind wir dann gut beraten, die Mythen und Götter der organisierten Religionen offen in Frage zu stellen? Weil sie verdummen und entzweien. Weil jede und jeder nur eine Version einer konkurrierenden Vielfalt von Szenarien ist, die eventuell wahr sein könnten. Weil sie die Ignoranz befördern, die Menschen davon abhält, die Probleme der realen Welt zu erkennen, und die sie häufig auf falsche Wege und in katastrophale Handlungen führt. … Das Engagement für einen bestimmten Glauben ist per definitionem religiöse Engstirnigkeit. Kein protestantischer Missionar rät jemals seiner Herde, den Katholizismus oder den Islam als möglicherweise überlegene Alternative zu betrachten. Aus innerer Logik muss er sie für unterlegen erklären.
(351) Als erster Schritt zur Befreiung der Menschheit von den oppressiven (unterdrückenden, beklemmenden – JK) Formen des Tribalismus würde sich anbieten, mit dem gegebenen Respekt die Anmaßung derjenigen Machthaber zurückzuweisen, die von sich behaupten, im Namen Gottes zu sprechen, besondere Stellvertreter Gottes zu sein oder über eine exklusive Kenntnis von Gottes Willen zu verfügen. … Dasselbe gilt auch für dogmatische politische Ideologien, die auf einer unwiderlegbaren Lehre fußen …
Womöglich enthalten sie intuitive Weisheit, die durchaus der Beachtung wert ist. Womöglich haben ihre Anführer die besten Absichten. Aber die Menschheit hat genug gelitten unter der grob verfälschten Geschichte, wie falsche Propheten sie erzählt haben.
(352) Ein … Argument für eine neue Saufklärung lautet, dass wir auf diesem Planeten mit allem, was wir an Vernunft und Verständnis aufbringen können, allein und damit als Einzige für unsere Handlungen als Art verantwortlich sind.
(353) Die Naturwissenschaft ist nicht einfach ein Betrieb wie Medizin oder Maschinenbau oder Theologie. Die Naturwissenschaft ist der Ursprung all unseres Wissens über die reale Welt, das überprüfbar ist und sich in das bestehende Wissen einpassen lässt. Sie bildet das Arsenal, mit dessen Hilfe die Technologien und die Inferenzstatistik Wahr und Falsch unterscheiden können. Sieformuliert die Prinzipien und Formeln, die dieses Wissen zusammenhalten. Die Naturwissenschaft gehört allen. Ihre Grundbestandteile kann jeder auf der Welt in Frage stellen, der über genügend Information verfügt, um das zu leisten. Sie ist nicht nur „eine andere Form des Wissens“, wie oft postuliert wird, um sie mit religiösem Glauben gleichzusetzen. Der Konflikt zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und den Lehrer der organisierten Religionen ist unlösbar. …
(355) Und so will ich meinen eigenen blinden Glauben bekennen. Die Erde lässt sich, wenn wir es wollen, im 22. Jahrhundert in ein dauerhaftes Paradies für den Menschen verwandeln oder zumindest in einen vielversprechenden Anfang davon. Wir werden uns selbst und den anderen Lebewesen noch sehr viel Schaden zufügen, aber wenn wir uns den einfachen Anstand gegenüber dem Anderen zum ethischen Grundsatz machen, wenn wir unablässig unsere Vernunft gebrauchen und wenn wir akzeptieren, was wir wirklich sind, dann werden unsere Träume am Ende wahr werden.