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Buch:
Uwe Schmidt:
Widerstand gegen die Zumutungen des Glaubens
–
Ein Gemeindepfarrer und seine ganz persönliche Kirchengeschichte,
TEIA
AG, Berlin, 2010, 2. Auflage, 177 Seiten
Sie können den gesamten Text
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Im Folgenden finden Sie einige
Auszüge aus dem Buch:
(Seite 8) Der vorliegende autobiographische Bericht über ein Leben mit
der christlichen Religion ist etwa drei Jahre nach meiner Pensionierung als
Gemeindepfarrer entstanden. Das Motiv dafür war ein im Grunde lebenslanges
Unbehagen über die zum Teil deprimierenden Erfahrungen, die ich vom Beginn
meiner Erinnerung als Kind an mit dem christlichen Glauben und vieler seiner
Vertreter machen musste. …
(10) Im Nachhinein, als ich erwachsen wurde, habe ich sie
alle beneidet, die »Gott-los« aufgewachsen sind. Unbefangen waren sie, konnten
nach Gott fragen oder über ihn lachen. Keine
göttliche Gewitterwolke drohte über ihren Häuptern. Ihr Gewissen wurde nicht
gepeinigt von den ewigen Fragen, was ER wohl zu deinen Gedanken und deinen
Taten sagen würde. Sie brauchten um das Wohl Gottes nicht besorgt zu sein, so
wie ich es war von Kindheit an.
Mir wurde die Sorge um IHN in die Wiege gelegt. Dabei fing
alles so harmlos an. ER schlich sich an unsere Kinderbettchen: »Ich bin klein,
mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Gott (Jesus) allein.« Das klang kindlich unbeschwert. Ich begriff natürlich
nicht, dass hier bereits das göttliche Besatzungsrecht festgeschrieben wurde.
Der Vater, der uns Kinder die ersten Gebete lehrte, war SEIN Statthalter auf
Erden. Kinder lieben und verehren ihren leiblichen Vater zunächst wie einen Gott.
Demzufolge gab es anfangs keinen Unterschied zwischen IHM und ihm. An ihm
lernte ich, was SEIN Zorn bedeutet. Durch ihn erlebte ich, wie unberechenbar
Gott Vater ist. Verwirrend freundlich, fast zärtlich mitunter. Dann, plötzlich
und nicht immer verstehbar, entflammte schnell sein Zorn. Gehorsam sein ist
eine göttliche Grundforderung, ist die Vorausbedingung, begriff ich, damit man
von Gott auch nur halbwegs angesehen und wahrgenommen werden kann.
Und natürlich beherbergt der Körper, auch schon der des
kleinen Kindes, von Anfang an alle schlimmen Lüste, alle abscheulichen
Begierden, weshalb bestenfalls die obere Hälfte dieses Körpers zu gebrauchen
ist. …
Warum nur war ER so sehr an unserer unteren Hälfte
interessiert, warum wurde unsere geahnte Lust daran schon so früh verdammt?
Warum schien das alles viel schlimmer als lügen, klauen und hauen?! …
(12ff.) Der Bauch, die Lust, die Freude am Leben hätten nie
den Weg zum Kindergottesdienst gefunden. Die tummelten sich lieber draußen im
Frühling, bei den ersten Schlüsselblumen und Veilchen im noch kahlen
Buchengehölz vor den Toren der Stadt. Doch der Kopf und das Herz waren früh mit
anderem belastet. Gott wartete auf uns. Nicht in der warmen Sonne draußen,
nicht in den Wipfeln der schönsten Kletterbäume. Er wartete nicht im Lachen und
Jubel beim Völkerball auf der noch autofreien Straße, nicht im Dickicht des
Waldes und all den Tiergeräuschen, nicht im klaren
Wasser der Teiche. Gott wartete im Halbdunkel der großen alten Kirche auf uns.
Und der Kopf sagte, was wir vom Vater gelernt hatten, dass man IHN nicht warten
lassen dürfe. Und wenn die Sonne zu sehr lockte, die Lebensfreude pur in uns
schäumte und wir es selbst auf einen handfesten Streit mit IHM hätten ankommen
lassen, just in einem solchen Moment wurde unser Herz gefordert: »Ihr müsst ja
nicht zum Kindergottesdienst gehen, aber wir sind sehr traurig, wenn ihr’s
nicht tut.« Das ging ans Gemüt. Die Eltern traurig zu
wissen, während wir der Sonne entgegen flogen, was wäre daraus geworden? Allein
beim Gedanken daran erlahmten uns schon die Flügel. Also zogen wir los, ins
dunkle Gemäuer. …
Und dann saßen wir da. Ein älteres Mädchen, für uns eine
junge Frau, erschien. In ihrer Begleitung kam zumeist auch Jesus, der
Alleskönner. Wir erfuhren, dass er sogar einem aufsässigen Meer samt Sturm
befehlen konnte, ruhig zu sein. Blinde Menschen machte er sehend, lahme gehend.
Selbst über die Pflanzen besaß er Macht. Einen Feigenbaum, der ihm keine
Früchte geben wollte, ließ er ganz einfach verdorren. Später erst erfuhr ich,
dass es Frühling war und der Feigenbaum beim besten Willen zu dieser Jahreszeit
keine reifen Feigen zur Verfügung stellen konnte, auch nicht für einen
vermeintlichen Gottessohn. Aber da war der Baum schon gestorben, am Fluch des
Heilands. (Bezug auf Markus 11, 13+20 JK)
…
Jesus, so schien es uns, war gar nicht richtig irdisch. Er
log nicht und war eigentlich immer nur freundlich. (Und der Feigenbaum?) Jesus
war die Sanftmut in Person, auch wenn er des Öfteren seine Feinde verfluchte
und sie auf den tiefsten Meeresboden wünschte, so tot wie den Feigenbaum. (vgl. Matthäus 18,6 JK) …
(15) … war es meistens langweilig in der Kirche.
Selbst der Karfreitag half uns nicht darüber hinweg. Zwar
empfanden wir es als grausam und empörend, was man ihm alles antat, und wie er
schließlich zu Tode kam. Aber letztlich war das alles halb so schlimm. Wir
wussten doch längst, dass er drei Tage später wieder auferstehen würde und noch
viel besser dran war als zu Lebzeiten. Er konnte durch Mauern gehen, plötzlich
auftauchen und verschwinden und schließlich sogar in den Himmel auffahren. Da
zu unserer Zeit noch nicht an Raumfahrt zu denken war, besaß diese Himmelfahrt,
auch technisch gesehen, etwas sehr Aufregendes für uns. Unsere Träume vom
Fliegen, vom Hände-Ausbreiten und in den
Himmel-Aufsteigen hatte er scheinbar verwirklicht. Er schien das Fliegen zu
beherrschen. Er konnte sich also gar nicht beklagen. Deshalb verstanden wir es
durch unsere gesamte Kindheit hindurch auch nicht, warum wir am Karfreitag
immer traurig sein sollten, egal ob gutes oder schlechtes Wetter war.
Radiohören war verboten, höchstens klassische Musik oder die Matthäuspassion.
Lachen durfte man auch nicht. Man sollte immer nur an Jesus und sein trauriges
Ende denken, auch wenn wir wussten, dass das ja gar nicht sein Ende war, und
hinterher alles viel besser wurde als vorher.
Eines aber entsetzte mich doch an diesem Selbstmörder am
Kreuz: Er behauptete oder andere behaupteten von ihm, er hätte behauptet, dass
er unter anderem gestorben sei, weil ich so sündig wäre. Er sei gestorben,
damit ich Gott überhaupt unter die Augen treten könnte. Ohne diesen
freiwilligen Tod von Jesus, wäre ich vor Gott nur ein Dreck und sowieso zur
ewigen Verdammnis verurteilt. Auch wenn ich damals schon wusste, dass es mit
seinem Kreuzestod ja nicht ganz so schlimm war wie bei den vielen anderen, die
auf diese Art zu Tode gekommen waren und eben nicht wieder auferstanden waren,
so bedrückte mich meine Teilschuld an seinem Tod doch ganz schön. Aber zugleich
machte mich das auch mürrisch und trotzig. Ich hatte ja überhaupt keine Chance
bekommen, ihn durch ein gehorsameres Leben irgendwie noch zu retten. Er war
schon um meinetwillen gestorben, als ich noch gar nicht auf der Welt war. …
(17) Vier Kinder waren wir, zwei Jungen und zwei Mädchen im
Alter zwischen fünf und zwölf. Wir schliefen alle in dem einen großen
Kinderzimmer und waren schon bestens kirchlich konditioniert. Vor dem
Einschlafen sprachen wir, jetzt schon – auch ohne die Anleitung unserer Eltern,
wohl aber auf deren ausdrücklichen Wunsch hin – das Vaterunser vor dem
Einschlafen. Vier Kinderstimmen im gleichen Rhythmus leierten einen Text, den
wir nicht recht verstanden, den man aber gehorsam beten sollte, weil Jesus
selber gesagt hatte, dass man so mit Gott reden müsse.
Mitten in diese abendliche Liturgie platzte ich eines Tages
hinein, weil ich es nicht mehr länger aushielt: »Haltet doch den Mund, ihr
wisst doch gar nicht, was ihr redet!« Die Geschwister
fingen, eins nach dem anderen, an zu weinen. Ich hatte das Heilige gestört, ich
war zum ersten Mal ungehorsam gewesen, ohne es wirklich zu wollen. Im
Gegenteil. Ich konnte und wollte mir einfach nicht vorstellen, dass Gott mit
einem so bewusstlosen Dahergerede etwas anfangen
könnte. Zugleich spürte ich auch zum ersten Mal, was es bedeutet, wenn man den
Kopf zu heben versucht, gegen die Gebote, gegen das Gewohnte, gegen einen
solchen, vom Vater vorgestellten Gott. Man stiftet Verwirrung, macht Sicheres
unsicher, verletzt die Geschlossenheit und Geborgenheit, die ein niemals
hinterfragter Gehorsam gewährleistet: Man steht plötzlich ganz allein da. …
(19) Man wartete bis der Dreizehnuhrnachrichtensprecher eine
kleine Pause zwischen zwei Sinnabschnitten machte und konnte dann behänd ein
kurzes Gebet wie: »KommHerrJesusundseiunserGastundsegneunswasduunsausGnadenbescherethastAmen«
problemlos dazwischen platzieren. Wie konnte das ein Gebet sein, dachte ich. Gebt dem Kaiser und Gott ein bisschen was von allem? Konnte
man denn nicht auch ohne solch ein Gebet appetitvoll essen? Warum eigentlich
bescherte Jesus »aus Gnaden« nicht den wirklich armen Leuten wenigstens ein
bisschen, damit sie nicht alle naselang verhungerten? …
(21) So wurden wir damals von unseren Eltern erzogen, so
wird zum Teil noch heute erzogen. Als ich von Gott noch nichts wusste, war mein
Vater Gott. Und meist gebärdete er sich so, wie ich später den göttlichen Vater
in der Bibel oft beschrieben fand: Er war ja prinzipiell lieb, doch war sein
Wesen nicht selten unerforschlich. Sein Zorn schien schnell entfacht. Er
verlangte Gehorsam ohne Widerrede. Dann wurde ich belohnt durch seine Liebe.
Bei Ungehorsam gab es Unmut und womöglich Strafen, sogar verstoßen konnte man
werden, fort von Vaters Angesicht. Als ich später merkte, dass man sich
verbergen, sich dem Angesicht des Vaters selbst entziehen konnte, um ganz
eigene, manchmal verbotene Wege zu gehen, wurde ich mit dem himmlischen Vater
bekannt gemacht, dem man sich nie entziehen konnte, der einen überall sah, der
sogar wusste, was man dachte und vorhatte, der schon im Voraus all meine
Schritte kannte. …
(36ff.) Jeder kann ein Theologiestudium absolvieren.
Voraussetzung ist das Abitur und die Kenntnis der alten Sprachen. Glauben
nicht. Auch ein überzeugter Atheist kann ein glänzendes theologisches Examen
ablegen. Denn Bekenntnisse sind nicht gefragt, die sind Privatsache. Und das
ist gut so, obwohl natürlich dauernd von Gott die Rede ist. Aber distanziert.
Man spricht, liest und schreibt, was andere, biblische Schriftsteller, Forscher
und Kommentatoren über Gott gedacht und gesagt haben und hält sich dabei fein
säuberlich heraus. Auch das ist gut so, wird auf diese Weise doch der Schein
der Wissenschaftlichkeit gewahrt, den man so gern für die Theologie in Anspruch
nimmt, der aber doch nichts anderes ist als ein Schein. Denn die Größe Gott
wird kaum hinterfragt, sondern einfach vorausgesetzt. Eine Größe, die natürlich
mit keinem noch so wissenschaftlich akribischen Mittel bewiesen werden kann.
Weshalb die Theologie noch einmal um Grade unwissenschaftlicher erscheint als
die Philosophie. Eine viel erzählte Anekdote macht das sehr anschaulich:
Was ist der
Unterschied zwischen einem Philosophen und einem Theologen? Ein Philosoph ist
wie ein Mann, der in einem dunklen Kohlenkeller nach einer schwarzen Katze
sucht, die nicht da ist. Ein Theologe ist wie ein Mann, der in einem dunklen
Kohlenkeller nach einer schwarzen Katze sucht, die nicht da ist und der ruft:
»Ich hab sie!«
Dennoch, für einen kirchlich früh geschädigten jungen
Menschen, wie ich es damals war, ist das Theologiestudium die reinste Erholung.
Es werden keine halbherzigen Gebete verlangt, man muss keine Gottesdienste
besuchen, schon gar nicht an Abendmahlen teilnehmen. Niemand beäugt einen
skeptisch, ob man auch die richtige Überzeugung oder den wahren Glauben hat.
Man diskutiert über theologisch hoch komplizierte Systeme, schaut sich die
Kirchengeschichte an und natürlich immer wieder die Bibel. Doch alles aus einem
fernen Blickwinkel. Man gibt sich abgeklärt und distanziert, geht es doch stets
um die Sache, die wissenschaftlich betrachtet werden will. Subjektive
Einschätzungen, eigene Glaubensvorstellungen aber sind unwissenschaftlich. So
war mein Herz frei und unbeschwert in dieser Zeit. Das Studium war wenig
reglementiert, das Meer nahe und die Sommer grandios. …
(40) Das Alter war erreicht, die Gedanken, wie schaffe ich
mir eine Existenzgrundlage, wurden unumgänglich, fast bedrohlich. Ich beschloss
also meinen Gang nach Canossa, zum Landeskirchenamt. Das bis dahin Undenkbare
wurde nicht nur denkbar, sondern unerlässlich. Mit einer so spezifischen
Ausbildung wie mit einem Theologiestudium, so dachte ich mir, habe man nur eine
Alternative: die Universitätslaufbahn (geschlossen!) oder den Beruf des
Pfarrers. Aber würde man mich dort überhaupt haben wollen? Mit einem von der
Kirche unkontrollierten Fakultätsexamen? Was konnte ich schon vorweisen, was
mich in kirchlichen Augen als geeignet erscheinen ließ? Doch. Es gab etwas: In
meinen letzten Semestern hatte ich eine Jugendgruppe geleitet, eine kirchliche,
in einer Kirchengemeinde im Ostseebad Eckernförde. Bei einem Pastor, der später
sogar mein Schwiegervater wurde. Und natürlich Lehrtätigkeit konnte ich
vorweisen, als Hebräischlehrer an der theologischen
Fakultät und einem kirchlichen Gymnasium für junge Leute auf dem zweiten
Bildungsweg.
Dennoch war mir nicht wohl, als ich die Stufen zum Amt
erklomm. Wie würde man mich aufnehmen? Wäre mir meine Kirchenfremdheit schon an
der Nasenspitze anzusehen? Kämen womöglich Glaubensfragen zur Sprache, ging es
gar um ein Bekenntnis?
Nichts dergleichen geschah. Man verhielt sich nobel. Nun war
es allerdings auch eine gute Zeit für meine Nachfrage. Überall wurden neue
Pfarrstellen eingerichtet. Händeringend suchte man nach ausgebildeten
Theologen.
Nicht nur dass man mich mit Freuden nahm, man erließ mir
sogar ein Jahr der Vikariatsausbildung mit dem
Hinweis auf meine Lehrtätigkeit. Ich wurde keiner Glaubensprüfung unterzogen,
es gab keine Inquisition, sondern nur offene Arme. Ich war verblüfft und
verunsichert. Wie konnte man sich unterstehen, all meine Vorurteile so sang-
und klanglos zu entkräften? Wussten die denn, wen sie sich da eingehandelt
hatten? Wusste ich denn, was ich mir da eingehandelt hatte? …
(45) Dann stand ich zum ersten Mal, im Talar, vor der
Kirche. Dem Gebäude. Der Vorstadtkirche. Im Stil der Fünfziger? Anfang
Sechziger? Schmucklos jedenfalls. Ja, einen Kirchturm gab es auch. Dennoch,
eine eher kümmerliche Architektur. Das ist jetzt für ein Jahr lang deine
Kirche, ging es mir durch den Kopf. Da drin wirst du gleich vor einer richtigen
Gemeinde deine erste Predigt halten, wenn du weißt, was das bedeutet. Und mir
pochte das Herz vor Aufregung wild in der Brust. Ein Gottesdienst wird es
werden mit all den Zutaten, die dir von früher her noch in Erinnerung sind: mit
Liedern und Gebeten, Lesungen und Liturgie. Alles fremd geworden mit der Zeit.
Eigentlich schon damals fremd und nicht verstanden. Aber gut, jetzt kannst du
nicht mehr schweigen, jetzt bist du derjenige, der das Glaubensbekenntnis
spricht vor der ganzen Gemeinde. Und es gibt allenfalls einen inneren Rückzug,
eine klammheimliche Distanzierung. Aber was passiert damit? Tust du nach außen
hin nicht so, als wärst du selbst der »Petrus«, der Fels, der für dieses
Bekenntnis steht? Erwarten nicht alle, die da vor dir sitzen, dass wenigstens
du, wenn schon nicht sie selbst es können, daran glaubst, was du sagst oder
betest oder bekennst? Wer bist du eigentlich, gehüllt in dein schwarzes
Amtsgewand, damit als Priester gekennzeichnet, und betest vor? Gebete, die dir
seit Kindheit an suspekt sind, die du für eine dunkle Sprache hieltest,
unverständlich, weil aus einer fernen, frommen, vergessenen Zeit stammend? Du
stehst jetzt dafür, so dachte ich, dass das wirklich so ist, mit »… geboren von
der Jungfrau Maria« und »hinabgestiegen in das Reich des Todes«, »… am dritten
Tage auferstanden von den Toten«, »aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur
rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten
die Lebenden und die Toten«, »die Gemeinschaft der Heiligen.«
All das, was ich damals meinem Professor am Hainberg als unglaubbar, nicht
vorstellbar vor die Füße gelegt hatte, und das er mit Freundlichkeit und großem
Verständnis annahm und als nicht so bedeutsam einstufte, all das holte mich
plötzlich wieder ein. Nur dass ich nicht mehr dort in der Kirchenbank saß wie
die anderen und vor mich hinzweifelte, mich nicht
mehr über komplizierte Stellen hinwegformulieren konnte: ›geboren von der
jungen Frau Maria‹. Jetzt gehörte ich auf die andere Seite, auf die amtliche,
und die Worte mussten so gesprochen werden, wie sie da standen. Ich schien
plötzlich, so kam es mir vor, der Garant dafür zu sein, dass das so seine
Richtigkeit hatte, dass man diese Sätze wirklich wörtlich glauben müsse. Das
schien mir ungeheuerlich. Dafür konnte und wollte ich nicht einstehen. Noch
aber blieb mir nichts anderes übrig als da zu stehen, das Bekenntnis mit der
Gemeinde, vor der Gemeinde so zu sprechen, als Priester, als anerkannter
Vertreter dieser Sache, gleichsam als müsste ich bekennen, dass dieses
Bekenntnis seine Gültigkeit habe. …
(59ff.) Ja, und dann die Ordination. Der Ritterschlag vom
Vikar zum richtigen Pastor, die Einsetzung ins Amt, die Berufung zum Predigtamt
und zur Sakramentsverwaltung, verbunden mit dem Amtsgelübde:
Ich gelobe vor Gott,
das Amt der Kirche nach Gottes Willen in Treue zu führen, das Evangelium von
Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis
unserer evangelisch-lutherischen Kirche bezeugt ist, lauter und rein zu
predigen, die heiligen Sakramente ihrer Einsetzung gemäß zu verwalten, das
Beichtgeheimnis unverbrüchlich zu wahren und mit meinem ganzen Haus, so viel an
mir ist, in einem gottgefälligen Leben denen voranzugehen, die mir anvertraut
sind. So wahr mir Gott helfe durch Jesus Christus in Kraft des Heiligen
Geistes.
Ich habe das genauso unterschrieben, wie meine Vikarskollegen von damals auch und beschloss, nicht groß
darüber nachzudenken, die heimlichen Skrupel einfach beiseite zu schieben. Ich
versuchte, das Ganze mehr sachlich zu betrachteten: als Unterschrift für die
Einstellung. Denn ohne diese Unterschrift wäre nichts geworden aus dem
Pfarrberuf. Wenn ich diesen Text heute lese, sind die Skrupel eher noch
gewachsen. Eigentlich hätte ich so etwas nicht unterschreiben dürfen. Nicht aus
Befürchtung, womöglich einen Meineid abzulegen, sondern wegen absoluter
Unklarheit in der Bedeutung vieler Formulierungen. …
Das Amt der Kirche nach Gottes Willen? Wer weiß denn, ob
Gott überhaupt eine Kirche gewollt hat? Ob es ihm entspricht, dass es
organisierte, verfasste Religionen gibt? …
(63ff.) Jesus Christus.
Wer von den heute lebenden kirchlichen Normalverbrauchern, weiß noch, dass es
sich mit diesen beiden Worten um weit mehr als um einen Namen handelt? Jesus
Christus, das ist kein Vor- und Nachname eines möglicherweise historischen
Menschen, sondern es ist ein Bekenntnis. Ein lateinischer, verkürzter,
nominaler Bekenntnissatz. Er lautet komplett: Jesus Christus est – Jesus ist der
Christus, der Gesalbte (hebräisch: Messias). Die Juden, recht erfahren in ihrer
Jahrtausende alten Tradition mit den ›Messiassen‹ – es
sind immer wieder Männer mit diesem Anspruch aufgetreten – haben diesen Satz
nie anerkannt. Wahrscheinlich mit gutem Recht. Bei allem für mich
Unverständlichen, das ich auch in ihren Gottesvorstellungen finde, sind sie
jedenfalls nie so weit gegangen, dass sie ihrem Gott einen vergöttlichten
Menschen an die Seite gestellt hätten.
Es geht hier aber noch um mehr als nur das Bekenntnis, dass
Jesus der Messias gewesen sei. Es geht um »das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift
gegeben ist.« Zigfach habe
ich diese Formulierung aus kirchlichen Mündern vernommen. Mal fragend, mal
postulierend, kritisierend und polemisierend, rechthaberisch und als nicht mehr
zu hinterfragendes Argument. Ein kirchlicher Selbstgänger,
ein Tatsachenwort, ein Wort bei dem vorausgesetzt wird, dass jeder
selbstverständlich weiß, was das heißt. …
Welches ist die wahre gute Nachricht, das Evangelium von
Jesus Christus? Was ist das Besondere daran, das froh Machende? Über drei
Jahrzehnte habe ich danach gesucht und kann doch bestenfalls die Meinungen
anderer dazu referieren. Ich selbst habe das Evangelium nicht entdecken können.
Und wenn irgendwo etwas zu leuchten begann, wenn ein Stück Religion
hindurchschimmerte durch den Wald von Meinungen, Behauptungen und dogmatischen
Sätzen, dann wurde der helle Schein recht bald wieder verdunkelt durch
Kreuzestod und Drohungen mit dem Jüngsten Gericht, wo die Schafe von den Böcken
geschieden werden sollten, die Guten von den Bösen, die einen bestimmt für den
Himmel, die anderen für die ewige Verdammnis. Und natürlich hatte auch Paulus
sein eigenes Evangelium, aber wehe, man zweifelte auch nur ein bisschen daran: Aber wenn auch wir (Paulus) oder ein Engel
vom Himmel euch würde (das) Evangelium anders predigen, als wir euch gepredigt
haben, der sei verflucht. Wie wir eben gesagt haben, so sage ich abermals: Wenn
jemand euch (das) Evangelium predigt anders, als ihr es empfangen habt, der sei
verflucht. (Gal 1,8-9a). Viel Spielraum bleibt da nicht für eigenes Denken
und Deuten. …
(77f.) dass dieses Gefühl, Gott ist mit mir, nicht
übertragbar ist. Ich kann es von keinem einfordern, niemanden auf meine
Erfahrungsseite hinüberziehen, auch nicht oder schon gar nicht mit dem Verweis
auf Jesus. Der hat in den Augen der Gläubigen ohnehin einen Sonderstatus durch
seine vorgebliche Gottessohnschaft. Ich kann also nur meine eigene Geschichte
ehrlich und ungeschönt erzählen, Erfahrungen an Beispielgeschichten schildern.
Wenn das glaubwürdig geschieht, wird es Menschen geben, die sich an Ähnliches
im eigenen Leben erinnern, die sich durch meine Erfahrungen bestätigt fühlen
können. Dadurch wird Verbindung geschaffen: Religion. Nicht durch plakative,
noch so »richtig« scheinende theologische Sätze, nicht durch den Verweis auf
einen Jesus, den im Grunde niemand richtig kennt, der
durch die unterschiedlichen Überlieferungen an Eindeutigkeit nicht gewinnt, sondern
eher mythologische Züge annimmt, mithin zur eigenen Lebensbewältigung ziemlich
untauglich erscheint.
Helfen können uns nur unsere eigenen erlebten Geschichten,
die wir allenfalls neben die biblischen stellen können, um festzustellen, dass
es in der Tat immer wieder ganz ähnliche Lebenserfahrungen sind, wenn es um die
Grundbedingungen menschlicher Existenz geht. Das kann trösten, hilfreich sein,
Verbindung (Religion) unter uns schaffen, weil alle Menschen, zwar in je
anderer Ausprägung, immer vor denselben Lebensfragen stehen: Woher kommen wir?
Warum leben wir? Gibt es etwas danach? Was bedeutet die Sexualität in meinem
Leben, wie hängt sie mit der Liebe zusammen? Was mache ich mit meinen Neid- und
Eifersuchtsgefühlen? Welche Rolle spielt der Reichtum, wie zerstörerisch ist
Armut? Wie verändern beide den Charakter des Menschen? Wie kann ich halbwegs
mündig und selbst bestimmt mein Leben in die Hand nehmen und vor mir und meinem
inneren Anspruch bestehen? Was erwarte ich von anderen Menschen, was können
andere von mir erwarten? Wofür trage ich Verantwortung? Welche Bedeutung hat
die Natur um mich herum für mein Leben? Was bedeuten Kunst, Musik und Literatur
für mich? Gibt es einen Anspruch auf Glück? Ist alles im Leben nur Zufall oder
sind da doch verborgene Hinweise auf eine wie auch immer geartete »Fügung«?
Warum muss ich sterben? …
(80f.) Bis zum Schluss hatte ich auch meine Probleme mit der
Liturgie im Gottesdienst. Dabei war es gelungen, mit einer
Liturgiereform-Gruppe Mitte der achtziger Jahre schon manches zu verändern.
Wichtigster Punkt dabei war die Aussetzung des gemeinsam gesprochenen
apostolischen Glaubensbekenntnisses. Nicht nur meine eigenen Skrupel
diesbezüglich hatten dabei den Ausschlag gegeben. Viele Gemeindeglieder stießen
sich ebenfalls daran, ihren Glauben in Worte fassen zu müssen, die sie selbst
niemals dafür benutzen würden. Sie sträubten sich zu Recht, fand ich, gegen die
Übernahme antiker Weltbilder und Vorstellungen, wie sie sich zum Beispiel in
dem, über den ganzen Mittelmeerbereich vorhandenen, Mythos von der
Jungfrauengeburt niederschlugen. Höllen- und anschließende Himmelfahrt machten
die Akzeptanz solcher Glaubensbilder auch nicht leichter. Genauso problematisch
war die Rede von der heiligen
christlichen Kirche, der Gemeinschaft der Heiligen. …
(82ff.) Immer wieder tauchte die Frage auf: Wer war er
eigentlich, dieser Jesus? Was war er für ein Mensch, der mir hier durch die
Überlieferung seiner Anhänger entgegentrat? Oft sanft und freundlich, nicht
selten arrogant und anmaßend? Gänzlich unheimlich aber wurde mir die Lehre über
ihn, wenn es hieß, er sei für die Sünden der Menschen, eines jeden einzelnen
von ihnen gestorben. Was mich selbst anbetraf, spürte ich von Anfang an Protest
und Widerstand dagegen. Ich empfand es als unverzichtbar für meine Vorstellung
von menschlicher Würde und Mündigkeit, dass ich für mich selbst ganz allein
verantwortlich war, für alles, was ich tat in meinem Leben. Niemand konnte mir
das abnehmen. Ich wollte auch nicht, dass sich jemand für meine Torheiten und
mein Versagen, Sünde wurde das biblisch meist genannt, aufopfern sollte. Das
schien mir über die Maßen eingreifend in meine Intimsphäre, klein machend,
beschämend. Andererseits konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass der
wirkliche, der historische Jesus je auf solche Gedanken gekommen sein sollte.
Wie hätte sich das mit seinem Gottesbild vom liebenden, gütigen Vater vertragen
sollen? Von einem Vatergott, der nun plötzlich seinen Sohn einem fürchterlichen
Tod preisgibt, um sich auf diesem Wege mit den Menschen zu versöhnen? Und wie
umfassend, wie global sollte dieser Opfertod denn eigentlich verstanden werden?
Schloss er alle Juden und Angehörige anderer Religionen selbstverständlich mit
ein? Wo aber war dann die Achtung vor der Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit
aller großen Weltreligionen, auf die wir heute so viel Wert legen? Wenn die
Rettung des Menschen nur durch den Glauben an diesen Opfertod Jesu geschehen
könnte, was passiert dann mit all den anderen? Auch denen, die vor Jesus gelebt
haben? Sind sie auf ewig verloren? Ein solcher universaler, unausgesprochener
Wahrheitsanspruch barg also von vornherein den Keim der Auseinandersetzungen
und Kriege in sich, wie sie die Geschichte dann ja tatsächlich über viele
Jahrhunderte bis heute geprägt haben.
Was aber blieb dann noch von diesem Jesus, was die jüdische
Tradition nicht auch geboten hätte zu jener Zeit? Es blieb vielleicht der
Prediger der Nächstenliebe, der Mahner zu menschlichem Verhalten, der den
Gehorsam gegenüber Gott unbedingt einforderte. Das war die eine Seite, die nach
meinem Empfinden wenig mit Religion zu tun hat. Ethische Verhaltenscodices
gibt es in allen Kulturen und Gemeinschaften, weil menschliches Zusammenleben
sonst überhaupt nicht denkbar wäre. Aber um das einzusehen, bedarf es keiner
Religion. Dazu reicht Kant. (Kategorischer Imperativ: Handle so, dass die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.)
Und was ist mit dem in den Evangelien erkennbaren Gottesbild
Jesu vom liebenden Vater, dessen Kinder – die Menschen – ihn nur zu bitten
brauchten, damit er ihre Bedürfnisse stillte: Bittet, so wird euch gegeben;
suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. (Mt 7,7)? Ich glaube, kaum ein biblisches Versprechen hat so
viel herbe Enttäuschung und Verbitterung hervorgerufen wie dieser Satz.
Geschrien haben sie ihre Bitten nach Errettung in Auschwitz und anderswo.
Geweint, gejammert, gestöhnt wurden diese Bitten von Müttern und Vätern, die
ihre sterbenden Kinder in den Armen hielten. Verstummt waren die Münder, nicht
mehr fähig zum Bitten, wenn Erdbeben Jung und Alt unter Trümmern zerquetschte
und begrub, wenn ganze (auch gläubige!) Familien in Sekunden ausgelöscht
wurden.
In vielen Gesprächen mit alten Menschen, die von furchtbaren
Fluchterlebnissen während der Endphase des Krieges zu erzählen wussten, kehrten
solche Worte immer wieder: »Sie glauben nicht, was wir durchmachen mussten. Mit
unserem ganzen Dorf haben wir uns mit Sack und Pack auf den Weg gemacht, den
Treck. Unterwegs wurden wir beschossen und bombardiert. Es war furchtbar: neben
uns wurden die Menschen von Granaten zerfetzt. Aber Gott hat die Hand über uns
gehalten und uns in all dem Untergang beschützt und bewahrt.«
Zumeist habe ich darauf nur schweigen können. Ich brachte es nicht fertig, die
Fragen zu stellen, die mir auf den Lippen brannten: Und was war mit Ihren
Nachbarn? Mit denen, die samt ihren Kindern und den alten Eltern zerfetzt
wurden? Galten die Gott nicht als beschützens-
und bewahrenswert? Haben die nicht richtig geglaubt
oder gebetet?
Eine solche eingeschränkte Sichtweise traf ich nicht nur bei
alten Leuten an. Noch heute bin ich immer wieder verblüfft, wie völlig
unberührt Kollegen und Kolleginnen bis auf die Ebene von Pröpsten und Bischöfen
sich zeigen, wenn es um Natur-, Hunger- oder Kriegskatastrophen, um verheerende
Attentate geht. Natürlich zeigt man sich betroffen und bestürzt. Die Kunde aber
von »Gott, unserem Vater, der uns lieb hat, uns hilft und uns beschützt« wird auch
durch die furchtbarsten Bilder von Kriegsgräuel und Katastrophenfolgen
scheinbar nicht im Mindesten berührt. Ich frage mich, wie selektiv kann man die
Welt eigentlich wahrnehmen? Wie kann man all das Elend verdrängen, nur um bei
seinem Gott zu bleiben, der doch scheinbar unberührt so viele seiner Kinder
ohne Ansehen von Geschlecht und Alter der Vernichtung preisgibt? Wie kann man
dabei stur an Gottesvorstellungen festhalten, die so offensichtlich nicht
halten, was sie versprechen? Ich erwarte ja nicht, dass jegliches Reden von
Gott aufhören sollte, obwohl uns eine Wort- und Besinnungspause gewiss gut
täte. Aber ich halte es für erforderlich, dass man sich um neue, weiterführende
Denkmodelle bemüht, dass man Menschen nicht etwas vorgaukelt, was weder der Mann
oder die Frau auf der Kanzel, noch der propagierte Gott einhalten können.
(87f.) Es blieb nicht aus, der Tag kam, an dem ich mein
erstes Abendmahl zelebrieren musste. Seit jenem unseligen
Konfirmationsabendmahl hatte ich nur ein oder zweimal mit erheblichen
Bauchschmerzen an einer solchen Feier teilgenommen. Nun war ich selbst es, der
dieses Abendmahl ausrichten sollte. Eine Vorgabe meines Kollegen kam mir dabei
nicht unwesentlich zustatten. Er hatte für diesen Zweck ganz viele kleine
Einzelkelche angeschafft. Die Teilnehmer am Abendmahl knieten nicht in einer
Einzelreihe vor dem Altar, sondern stellten sich im Kreis um ihn herum. Durch
diese Vorgaben konnte ich dann meine Vorstellung vom Gemeinschaftsmahl ganz
unbefangen weiterentwickeln. Die Verknüpfung des Abendmahls mit Beichte und
Sündenvergebung empfand ich als fremd, eher bedrohlich als befreiend. Sinnvoll
dagegen schien es mir, mit dem Kreis um den Altar symbolisch eine Gemeinschaft
abzubilden, mit einer wie auch immer gedachten Mitte. Manche mögen Jesus da
hineingestellt haben, andere ihren Gott, noch anderen mag der Kreis als
Gemeinschaftssymbol ausgereicht haben. Ich verzichtete sehr bald auch auf
Oblaten, sondern besorgte mir Brot vom türkischen Bäcker. Das war nicht nur
ungleich schmackhafter, sondern brachte zudem noch eine ökumenische Note
hinein, die uns, wie ich fand, gut zu Gesicht stand. Jeder brach sich von
diesem Fladenbrot ein Stück ab und reichte es seinem Nachbarn oder seiner
Nachbarin weiter.
Sehr bald auch ließ ich davon ab, beim Austeilen des Weins
jedem Einzelnen den stereotypen Satz ins Gesicht zu murmeln: »Christi Blut für
dich vergossen«. Wusste ich denn, ob nicht manch einer der Menschen im Kreis
ganz ähnliche Schwierigkeiten damit hatte wie ich? Dass er oder sie es, wie ich,
nicht ertragen konnte, dass irgendein Mensch meiner »Sünden« wegen sein Blut
vergießen sollte, vor allem auch nicht Jesus und das ungefragt, schon vor
meiner Geburt?
Bevor ich in die Runde ging, um jedem nach dem Verzehr des
Brotes einen Schluck Wein in den kleinen Kelch zu gießen, hob ich den Weinkrug hoch und behalf mich mit eher vagen, umfassenderen
Formeln: »Das ist der Kelch des Lebens, der uns Kraft gibt« oder Ähnlichem.
Besonders wohl fühlte ich bei diesen schwammigen Formulierungen auch nicht, sie
hatten aber den Vorteil, dass ich nun in der Runde keine stereotypen Formeln
wiederholen musste. Formeln passen für mich nicht zu Menschen. Wenn ich jetzt
herumging, schaute ich den Menschen einfach ins Gesicht und versuchte mit den
Augen auszudrücken, was ich an Nähe und Zuwendung empfand. Manchmal, wenn ich
die Betreffenden kannte, war auch ein kurzes Wort der Begrüßung, der
Wiedersehensfreude möglich. Ich weiß, dass ich auf diese Weise dem dogmatischen
Anspruch des Abendmahls nur wenig entsprochen habe. Aber nur so war es mir
möglich, diese Feier halbwegs aufrichtig und mit innerer Beteiligung zu
zelebrieren. Immerhin war es erstaunlich, dass sich stets mehr als 80 Prozent
der Gottesdienstteilnehmer in diesen Runden um den Altar versammelten, manchmal
sogar nahezu 100 Prozent. …
(114ff.)
Mit Zweifeln begonnen, mit Zweifeln durchlebt, mit Zweifeln
beendet. Das galt schon für das Studium. Aber unter den Studienbedingungen
wurde das niemals existenziell bedrängend. Glaube und Zweifel waren im Studium
Privatsache, nie eine Sache der Öffentlichkeit, kein Bekenntnis wurde
abgefordert. Leistung in den jeweiligen Fächern war gefragt, und die war nicht
an persönliche Glaubensvorstellungen gebunden. Am Ende meines Studiums war mir
der Raum Kirche ebenso fremd geblieben, wie er es zu Beginn gewesen war, weil
er einfach nicht vorkam, jedenfalls nicht als real erlebter und gelebter Raum.
Schon mit dem Eintritt ins Vikariat, in die Vorbereitungszeit auf den
eigentlichen Pfarrberuf änderte sich das. Noch nicht dramatisch, ich lief noch
nebenher, war noch nicht in vollem Umfang verantwortlich für die
Gemeindearbeit.
Mit der Übernahme der Pfarrstelle war die Situation mit
einem Schlag völlig anders. Ich sah mich plötzlich in einen Bereich
hineingestellt, an den ich nur noch aus Kindheits- und frühen Jugendjahren eine
Erinnerung hatte. Und dort natürlich stets aus der Perspektive: Gemeindeglied
zum jeweiligen Pfarrer. Jetzt war die Sache umgekehrt. Ich stand im Blickpunkt,
ich war verantwortlich, ich sollte Orientierung geben. Alle Erwartungen wurden
auf mich als den Pastor projiziert. Man ging davon aus, dass dort jemand stehe,
der all das an Glaubensfestigkeit und Lebensbewältigung zu bieten hatte, was
man für sich persönlich nur sehr defizitär aufbringen konnte. Dass ich selbst
anfangs relativ orientierungslos durch die Tage stolperte, eifrig bemüht,
wenigstens die wichtigsten Pflichten, wie Amtshandlungen, Gottesdienste und
Unterricht zu bewältigen, war vermutlich niemandem bewusst. Vielleicht, weil
ich nach außen hin auch immer bemüht war, Souveränität und Entschiedenheit zu
demonstrieren, auch wenn dahinter Unsicherheit, Überlastung, manchmal auch
schlichtweg die Furcht vor dem Versagen standen.
Wie grundsätzlich sich meine Auffassung von der Rolle eines
Pfarrers hinsichtlich Glaubensfragen von dem Verständnis etlicher
Gemeindeglieder tatsächlich unterschied, wurde mir schlagartig an einer
Situation deutlich. Von meinem Kollegen hatte ich einen theologischen
Gesprächskreis übernommen, in dem es um Fragen der Bibelauslegung und der
Bedeutung kirchlicher Glaubensinhalte ging. Mehr und mehr sah ich mich von
einigen Teilnehmer/innen dieser Gesprächsgruppe in die Rolle dessen gedrängt,
der über richtig und falsch bestimmter Glaubensansätze
zu entscheiden hätte. Als ich mich mit Entschiedenheit gegen eine solche
Festlegung wehrte, mit dem Hinweis darauf, dass wir nur gemeinsam nach einer
für jeden Einzelnen gangbaren Richtung Ausschau halten könnten und ich
bestenfalls als Berater in theologischen Spezialfragen zur Verfügung stünde,
schrie mich eine Frau mit wütender Verzweiflung in der Stimme an: »Sie sind
doch Pastor, nicht?! Wissen Sie, was das Wort bedeutet? Hirte! Sie müssen doch
sagen, wo es lang geht!« Ich war erschrocken und
entsetzt über diesen heftigen Ausbruch. Wie sollte ich klar und deutlich eine
Richtung vorgeben, die ich gar nicht kannte? Woher sollte ich die Befugnis
nehmen, anderen zu sagen, was richtig oder falsch sei an ihren
Glaubensvorstellungen? Wie sollte ich mit einem Verhalten erwachsener Menschen
umgehen, die sich in nahezu kindlicher Erwartung elterliche Führung von mir
erhofften? Welche kirchliche und glaubensmäßige Sozialisierung mussten solche
Leute durchlaufen haben, dass sie von der studierten Amtsperson theologische
Wahrheiten erwarteten, Einsichten und Überzeugungen, die sie sich selbst nicht
zutrauten oder zu denen sie nicht zu stehen wagten? …
(116ff.) Mit einem Mal begriff ich den ganzen Horizont
kirchlich-christlich geprägten Glaubens, der mir völlig gefangen schien in
einem hierarchischen System von Gott-Vater im Himmel, über seine wie auch immer
gearteten himmlischen Heerscharen, zu den Propheten und Priestern bis hin zu
den Kindern Gottes als einer Schafherde, die nur durch klare Führung und
Aufsicht zusammenzuhalten war.
Immerhin gab es biblische Grundlagen dafür. Alttestamentlich
zum Beispiel im 23. Psalm: »Der Herr ist mein Hirte…« und auch im Neuen
Testament war das Bild von der Schafherde und vom Hirten offensichtlich ein von
Jesus selbst gern genutztes Bild, um das Verhältnis von göttlicher Führung und
menschlicher Existenzweise zu beschreiben.
Ich verstand allmählich, wie festlegend dieses Bild vom
Hirten mit seiner Herde war, und zugleich wie statisch es erschien, obwohl doch
durch das friedliche Umherziehen der Schafe unter professioneller Obhut oder
durch das energische Eintreten des Hirten gegen äußere Gefahren (Diebe, wilde
Tiere, Wetterunbill) scheinbar der Eindruck von Dynamik entstand. Aber die
Rollen in diesem Bildtheater waren eben festgeschrieben und blieben
unverändert, lebenslang. Schafe bleiben Schafe, unbedarft, unwissend,
führungsbedürftig. Hirten bleiben Hirten. Im guten Sinne schützend, helfend,
behütend, führend, im unguten willkürlich, selbstherrlich, bevormundend,
eingreifend, aussondernd, trennend.
Wer für sich dieses System einmal übernommen und
verinnerlicht hat, wird davon nur schwer wieder loskommen. Gott wird immer
Gott-Vater bleiben, die Gläubigen immer die Kinder Gottes, ganz gleich wie alt
sie werden. Sie bleiben es bis zu ihrem Lebensende. Vielleicht merken sie es
nicht einmal, wie fremdbestimmt sie dabei sind, vielleicht wollen sie es auch
gar nicht anders. Mündig aber können sie dabei nicht werden.
Wer die Gebote einhält oder seinen Nächsten zu lieben
versucht nur im Blick darauf, dass er ein gehorsames Schaf bleibt, dass
Gott-Vater einverstanden mit ihm ist und ihm nicht zürnt, dass er Wohlgefallen
findet und nicht strafenden Zorn hervorruft, bleibt bewusst oder unbewusst auf
dem Stand eines Kindes. Erwachsen wäre es zu sagen: Ich habe mich für mein
Leben entschieden. Ich selbst halte es für richtig, nach gewissen moralischen
Standards zu leben. Ich will nicht lügen und betrügen, töten, ehebrechen oder
was auch immer, nicht deshalb, weil Zuwiderhandlungen mit Sanktionen des
Oberhirten belegt wären, sondern weil ich es aus eigener Einsicht und eigenem
Entschluss so will, weil ich es als richtig und meinem Leben gemäß erachte.
Im Übrigen hat eine solche eigene Entscheidung mit Religion
im eigentlichen Sinn noch gar nichts zu tun. Das Einhalten von moralischen
Maßstäben ist schlicht und einfach vernünftig im Blick auf das friedliche
Zusammenleben unter Menschen. Es bedarf keiner religiösen Begründung. Im
Gegenteil. Wer moralisches Handeln von der Existenz und dem Willen Gottes
abhängig macht, traut sich selbst offenbar keine eigene, mündige Entscheidung
zu. …
(122ff.) Ist eine solche Behauptung, Gott habe so
gesprochen, nicht ungeheuer gefährlich, weil in nichts nachprüfbar? Jeder
könnte doch mit einer so gut ins eigene Konzept passenden Gottesbotschaft
kommen und Land und Leben anderer Menschen für sich fordern. Geschehen ist das
oft genug, von Einzelpersonen, von Staaten und von der Kirche selbst.
Deshalb bin ich misstrauisch, wenn in Bezug auf die Bibel
und solchen Geschichten von »Gottes Wort« gesprochen wird. Deshalb werde ich
sofort unruhig, wenn jemand einen Satz beginnt mit den Worten: »Gott will, dass
…« Ich möchte wissen, woher der oder die Betreffende das weiß, wie sich der
Wille Gottes kundtut.
Häufig wird dabei auf die zehn Gebote als den bekanntesten
Ausdruck des Willens Gottes verwiesen. Aber nach meinem Verständnis handelt es
sich dabei vor allem um die goldenen Regeln menschlichen Zusammenlebens, ohne
die keine Gemeinwesen lebensfähig wäre und die demnach ganz folgerichtig
überall da auftauchen, wo Menschen in größeren Gruppen zusammenleben wollen
oder müssen. …
(124ff.) könnte man eigentlich auch aufhören, von Gott zu
reden, wenn es nicht eine Notwendigkeit dafür gäbe. Notwendig jedenfalls für
Menschen, die neugierig sind, die nicht aufhören zu fragen. Die spüren, dass
das Leben eine schimmernde Tiefe bekommt, wenn ich Gott denke und spreche. Für
Menschen, die das Empfinden haben, dass geheimnisvolle Heimatklänge darin
mitschwingen, wenn von Gott die Rede ist, jedenfalls in der behutsamen Art des
Redens. Für solche, die es ablehnen oder unerträglich finden, wenn das Wort
Gott für egoistische und machtpolitische Zwecke herhalten muss wie hier bei
Abraham und seinen Nachkommen bis auf diesen Tag. Die sich aber sehr wohl
freuen können an den alten, archaischen, lebensvollen Geschichten, an den
unzähligen Farben, Bildern und Klängen, die das Wort Gott seit Tausenden von
Jahren ausgelöst hat.
Es geht also eher um »Farbabgleichungen«, wenn wir
untereinander von Gott und unseren Erfahrungen reden, die wir mit diesem Wort
in Verbindung bringen, weil es bis heute kein anderes dafür gibt. Wenn wir von
Erlebnissen reden wollen, die über die erklärbaren, gängigen Außenphänomene
hinausgehen. Wenn wir erleben, wie schnell das Leben, wenn es im nur
Materiellen gelebt wird, versandet, wie selbst auch größtes Vergnügen einen unlöschbaren Durst hinterlässt nach ganz anderen
Dimensionen, an die wir mit dem Wort Gott und seinem semantischen Umfeld
manchmal heranreichen, so dass ein Funke überspringt, wie zwischen zwei Polen,
die unter Spannung stehen.
Diese Erfahrung in den Beziehungen zu anderen Menschen, zur
Natur, zur Musik und Kunst überhaupt, könnte ich als die vielen Sprachen und
Dialekte Gottes bezeichnen, und jeder hat andere Sensoren, um das wahrzunehmen.
Gibt es eine Sprache Gottes, die mein Leben bestimmt? Ganz
zögerlich und leise möchte ich mit einem »Ja« antworten mit allen
Einschränkungen: Keine Stimme, wie bei Abraham, von einem personhaften
Gegenüber. Mehr hilflos als mit Überzeugung könnte ich von der Stimme des
Lebens reden, auch wenn das noch so unverbindlich oder gar oberflächlich
klingen mag. Ich meine damit und ahne es mehr, als dass ich es weiß: mein Leben
ist, auch in all seinen oft unscheinbaren Einzelheiten, nicht beliebig.
Manchmal, fast immer erst im Nachhinein, wird eine Absicht deutlich, die nicht
von mir allein auszugehen scheint, eine Absicht übrigens, die es gut meint mit
mir. Zu verallgemeinern ist auch diese Erfahrung nicht. Ich kann nicht sagen:
im Leben eines jeden Menschen ist eine gute Absicht erkennbar. Auschwitz und
alle Formen des Mordens stehen dagegen. Auch Naturkatastrophen, die Zigtausende
von Opfern fordern, selbst Kinder, deren Leben gerade erst begonnen hat. …
(129ff.) Immer unerträglicher wurde es mir auch, über die sogenannten
»Wunder« Jesu zu sprechen, in denen sich die göttliche Kraft, ja womöglich die
Göttlichkeit Jesu selbst erwiesen haben sollte. Die Vorstellung, dass »Gott«
etwas gegen seine eigenen Naturgesetze unternähme, nur um einer Anzahl
sensationslüsterner Menschen zu imponieren und sie zum Glauben an sich selbst
zu bewegen, erschien mir zunehmend lächerlich und peinlich. Heute sehe ich
darin puren Aberglauben, der mit der Religiosität eines mündigen Menschen auch
nicht im Entferntesten etwas zu tun hat.
Ebenso fraglich wurde mir die vom Christentum so sehr in den
Vordergrund gestellten Erzählungen vom Sterben und Auferstehen des »Christus«.
Dabei habe ich weniger Probleme mit dem im Mittelmeerraum schon weit vor der
Geburt Jesu verbreiteten Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gott (siehe
Adonis, Attis, Asklepios, Dionysos, Herakles, Horus,
Mithras, Marduk, Osiris, Serapis, Silvanus etc!). Sie beschreiben nur in wechselnden, sehr
anschaulichen Bildern das menschliche Erleben der Natur, das Werden und Vergehen,
das Sterben und Neuwerden alles Lebendigen.
Schwierig wird es nur, wenn man einen solchen Mythos
historisiert. Indem das Christentum behauptete, Jesus sei der sterbende und
auferstehende Gott gewesen, ging der Mythos in die Brüche und verlor seine menschheitserfahrene
Wahrheit. Ein Vorgang, der sich später auch mit der Erzählung von der Geburt
Jesu wiederholen sollte. Auch hier ist der Mythos vom »göttlichen Kind«, das
aus der Vereinigung von Gott und Mensch hervorgegangen sei, wie es in den
vielen Erzählungen von Babylon über Ägypten, Griechenland bis nach Rom heißt,
durch Historisierung und Individualisierung missbraucht worden. Zudem tut die
christliche Überlieferung bis heute noch so, als seien diese Mythen nicht nur
ihre ureigenste Erfindung, sondern darüber hinaus
auch tatsächlich in Zeit und Raum so geschehen, wie sie erzählt werden. Wer
sich davon überzeugen möchte, braucht nur in einen von sehr vielen
Weihnachtsgottesdiensten dieser Prägung zu gehen, wo ihm fast immer suggeriert
wird, Jesus sei als erlösender Gott tatsächlich in einer Bethlehemer
Krippe oder Höhle geboren worden.
Wer Jesus wirklich war, wird auf immer ungeklärt und
verschwommen bleiben. Ein Liebespharisäer mit einigem Charisma in Zeiten
jüdischer Endzeiterwartungen unter römischer Besatzung in Palästina vielleicht.
Ein durch den eigentlichen Religionsstifter Paulus zunächst zum persönlichen,
später globalen Erlöser hochstilisierter jüdischer Eiferer, der von seiner
späteren Bedeutung zu seinen Lebzeiten wohl nie etwas geahnt hat.
Einer, der neben seinen zeitbedingten Endzeitvisionen ganz
praktische ethische Verhaltensweisen predigte und lebte, vielleicht. Damit
unterscheidet er sich aber nicht sehr von einigen seiner hervorragenden
jüdischen Zeitgenossen, die ähnlich gelebt und gepredigt haben wie er,
vielleicht nicht ganz so charismatisch und fanatisch. …
Für mich ergab sich daraus, dass ich als Pastor und Prediger
schließlich einen Bogen um diese, durch seine Anhänger so schillernd gemalte
Figur machte. Sie erschien mir aus vielerlei Eigenschaften, aus vielleicht
Erlebtem, vielfach vermutlich nur Zugeschriebenem, Gewünschtem und Erdachtem
konstruiert und aus frühen, zum Teil aus alttestamentlichen Weissagungen und
den aus Qumran erhaltenen Überlieferungen über den
»großen Lehrer« komplettiert zu sein. Ein religionsgeschichtlich vielleicht
faszinierender Vorgang, der indes mit meinem persönlichen religiösen Empfinden
in keiner Verbindung stand …
(!35ff.) Man kann nur das authentisch weitergeben, was man
selbst durchlebt, durchlitten und für tragfähig befunden hat. Unfassbar
erschien mir deshalb immer das Reden von der »Wolke der Zeugen«, die stets dann
bemüht wurde, wenn es an eigener Glaubwürdigkeit mangelte, wenn eigenes
religiöses Empfinden entweder gar nicht vorhanden war, oder man sich seiner
selbst nicht mehr sicher sein konnte. Dann griff man und greift auch noch heute
vielerorts in der Kirche auf die »Wolke der Zeugen« zurück, nach dem Motto:
Tausende können doch nicht irren. Ich wünschte mir, dass man dann auch zu
seiner Ratlosigkeit stünde und nicht versucht, die mangelnde Glaubhaftigkeit
mit dem Hinweis auf die Behauptungen und Erfahrungen anderer zu ersetzen.
Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch mit einer
angeborenen religiösen Wahrnehmungsfähigkeit auf die Welt kommt. Dieses sehr
feine Sensorium kann unentwickelt bleiben, es kann durch frühkindliche
Erfahrungen verkümmern, verbogen oder zu Boden getreten und schließlich
vergessen werden. Oder aber es wird durch eine sogenannte historisch gewachsene
Religion wie die großen Weltreligionen überprägt und in den Hintergrund
gedrängt. Leider geht mit dieser Prägung oft auch eine Entmündigung einher.
Originäres, wahrhaftiges, eigenes religiöses Empfinden traut sich nicht mehr,
sich zu äußern, aus Angst, von der Linie abzuweichen, von den studierten
amtlichen Meinungen als unwahr, falsch und gefährlich disqualifiziert zu
werden. Man verliert den Mut und das Selbstbewusstsein, sich selbst und seinen
eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen zu trauen. Immer mehr wurde es daher zu
meinem Anliegen, die Menschen in meinem kirchlichen Umkreis in ihrem
eigenständigen religiösen Denken und Fühlen zu ermutigen und zu bestätigen.
Folgerichtig verstand ich meine Predigten nicht länger als »Lehre« der Kirche
und des Glaubens, sondern als eine Erinnerung an das, was in den Menschen schon
immer da war, was vielleicht nur schlummerte oder durch Erziehung unterdrückt
und vergessen worden war. Die Reaktionen auf diese Erinnerung und Ermunterung
blieben nicht aus. Spontane Äußerungen machten das deutlich: »Ich habe das
schon immer so gedacht und irgendwie auch gefühlt, konnte es aber nie richtig
in Worte fassen.« »Darf man denn so denken? Ich habe
mich das nie getraut, weil ich nicht Theologie studiert habe.«
»Sie haben den Mut, das zu sagen, was viele von uns denken und fühlen.«
Offenbar funktioniert die hierarchische Struktur in der
Kirche auch heute noch so gut, dass die Mündigkeit der »Gläubigen« auf der
Strecke bleibt oder überhaupt als unerwünscht betrachtet wird. …
(138ff.) Text: Ps 18,2b-4; 29-30b
Ich liebe dich, Jahwe,
denn durch dich bin ich stark! Du, mein Fels, meine Burg, mein Retter, du mein
Gott, meine sichere Zuflucht, mein Beschützer, mein starker Helfer, meine
Festung auf steiler Höhe. Wenn ich zu dir um Hilfe rufe, dann rettest du mich
vor den Feinden. Ich preise dich, Jahwe. Du lässt mein Lebenslicht strahlen. Du
selbst, mein Gott, machst mir das Dunkel hell. Mit dir, mein Gott, kann ich
über Mauern springen. …
Ein Liebeslied für Gott: »Ich liebe dich, Jahwe!« Und zugleich hat diese Liebe etwas Merkwürdiges. Nicht um
seiner selbst willen wird dieser Gott geliebt, sondern wegen seiner Wirkung:
»Ich liebe dich, denn durch dich bin ich stark!« Fels,
Burg und Rettung ist dieser Gott für den Psalmbeter, sichere Zuflucht,
Beschützer, starker Helfer, Festung auf steiler Höhe. Und das scheint auch zu
funktionieren: »Wenn ich zu dir um Hilfe rufe, dann rettest du mich vor den
Feinden.«
Ich würde nur zu gern wissen, was wirklich zu jener Zeit
geschah. Denn Zigtausenden von frommen Gläubigen von damals bis heute hat
dieser Gott doch ganz offensichtlich nicht geholfen. Sie wurden gequält und
erniedrigt, gefoltert und ermordet. Und wohl die meisten werden ihren Gott um
Hilfe angefleht haben. Vermutlich waren sie auch keine schlechteren Menschen als
dieser Psalmbeter. …
Wenn wir in diesem sehr langen Psalm weiterlesen, finden wir
deutliche Hinweise dafür, welche Wirkung dieser Gott für den Verfasser ganz
offensichtlich hatte: »Er bringt meinen Händen das Fechten bei und lehrt meine
Arme, den Bogen zu spannen«, jubelt er. Und es kommt noch besser: »Ich
verfolgte meine Feinde, holte sie ein und ließ nicht ab, bis sie vernichtet
waren. Ich schlug sie zu Boden, sie kamen nicht mehr hoch. Du gabst mir die
Kraft für diesen Kampf, du brachtest die Feinde in meine Gewalt … Sie schrien
zu dir, Jahwe, doch du gabst keine Antwort. Ich zermalmte sie zu Staub, den der
Wind aufwirbelt. Ich fegte sie weg wie den Straßenschmutz.«
Was ist das für ein Gottesverständnis? Wie parteiisch ist
dieser Gott gewesen? Kann man das, was der Dichter unter Gott versteht,
überhaupt noch nachvollziehen? Geschieht damit nicht die übliche, bis heute
praktizierte Instrumentalisierung Gottes zu Kriegszwecken? …
(145ff.) Wer das Gefühl hat, durch die historisch
gewachsenen Religionen in seiner eigenen Religiosität bevormundet zu werden,
sollte sich auf den Weg machen. Vielleicht gehört Furchtlosigkeit dazu und
sicher auch eine Portion Selbstbewusstsein und Vertrauen auf die eigene
Authentizität. Offene Augen und Ohren allzumal, Neugier und Aufgeschlossenheit,
Präsenz im Augenblick vor allem. Dazu noch eine wache und kritische Weltsicht,
die nicht zugunsten eigener Wunschvorstellungen Wirklichkeiten ausblendet. Wer
in dieser Weise lebt, lebt im Grunde schon religiös, das heißt eingebunden in
die natürlichen Lebensabläufe dieser Welt, eingebunden in alles Lebendige und
in die Gesetze der Natur vom Kleinsten bis zum Größten. Mehr bedarf es im
Grunde nicht, um eigene religiöse Erfahrungen zu machen. Ich brauche dazu keine
»Vorstellungen« von Gott, ja selbst die Frage, ob es einen Gott gibt, kann
getrost unbeantwortet bleiben. Denn jede, wie auch immer geartete
Gottesvorstellung – etwa von etwas Personhaftem,
einem Gegenüber, einer Herrschergestalt – legt das Heilige, das Göttliche, das
Leben fest und weckt Erwartungen, die nicht gerechtfertigt sind. Wer dagegen
die Frage nach Gott in der Schwebe lassen kann, wer sie nicht wie Bibel oder
Koran beantworten muss, lebt freier, unbelasteter, präsenter. …
(148f.) Erste Schritte aber auf dem Gebiet eines religiösen
Erlebens kann ich gewiss am Einfachsten in der Natur unternehmen. Nicht immer
werden solche Erfahrungen von gleicher Intensität sein. Selten erreichen sie
die Ebene einer nur Augenblicke währenden »Entrückung«. Aber auch solche
Momente gibt es. Oft ist es ein Zusammenspiel von Licht und Form, Wind, Wasser
und Himmel oder auch nur das sich Versenken in den Anblick einer einzigen
Blüte, eines Zweigs oder eines Blattes. Was in einem solchen Moment wirklich
geschieht, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Am ehesten und vorsichtigsten
vielleicht noch so: Für einen kleinen Augenblick hören alle Fragen auf, alles
scheint völlig klar, die eigene körperliche Befindlichkeit, die Sorge um das
Ich scheinen wie aufgelöst. Über allem schwebt, als wären es wirklich Worte,
die durchdringende Erfahrung: »Es ist alles gut«. Und obwohl ich schon im
nächsten Augenblick – so flüchtig ist dieses Erleben – weiß, dass natürlich
überhaupt nicht alles gut ist, dass im Gegenteil die Welt vor Ungerechtigkeit
und Gewalt nur so schreit, bleibt diese Erfahrung: ›es ist alles gut‹ wie eine
tiefe Einfärbung der Seele bestehen. Die Welt wird dadurch nicht anders oder
gar besser. Aber alles geschieht auf einem anderen, nicht mehr neutralen
Hintergrund. Jede Gewalttat, jeder Mord, alle Folter, auch die so brutal
erscheinenden Naturkatastrophen verlieren dadurch nicht ihren Schrecken. Das
Entsetzen vor dem so unaussprechbar Schrecklichen bleibt bestehen und kann, je
näher es mir selber kommt, einem mit Grauen in die Glieder fahren.
Aber dahinter gibt es noch ein anderes, zwar nicht begründbares, aber dennoch
reales Wissen. Unfasslich, unerklärlich, kaum vermittelbar und dennoch zu
erleben: Es ist alles gut. …
(150) Musik ist die wohl unmittelbarste religiöse »Sprache«,
zu der Menschen fähig sind. Wirkliche Worte sind unscharf, plakativ, verlangen
nach immer neuen Erläuterungen und schaffen auch dann nur immer Annäherungen an
religiöse Empfindungen. Der Musik dagegen gelingt es spielend, solche
Empfindungen zu wecken, sie lebendig werden zu lassen und die ganze Tiefe
menschlichen Fühlens zu erfassen. Manchmal öffnet sich dabei der weite Horizont
der Göttlichkeit unseres Daseins. Die Musik schafft dazu innere Bilder, deren
Wirkkraft größer ist als es die wirklichen, mit den Augen wahrnehmbaren Bilder
je vermögen. Sie führen, so scheint es, unmittelbar in den göttlichen Bereich
und verweisen damit auf die verborgene Göttlichkeit des Menschen selbst, auf
die ihm innewohnenden göttlichen (religiösen) Kräfte.
Warum vermag Musik sich derart direkt mitzuteilen, so dass
sich alle Worte erübrigen? …
(152f.) Malerei, Graphik, Skulpturen können ebenfalls zur
»Sprache« für religiöse Empfindungen werden, auch ohne dass sie erklärtermaßen
religiöse Darstellungen zum Thema haben müssen wie in der mittelalterlichen
kirchlichen Kunst, der Ikonenmalerei, der kirchlichen Architektur etc. Beim
Gang durch Ausstellungen spüre ich, dass ich automatisch dann vor einem Bild
oder einer Skulptur stehen bleibe, wenn diese für mich zu »sprechen« beginnen,
wenn sie eine Schicht in mir erreichen, die ich meinem religiösen Sensorium
zurechne. Dabei ist es gleichgültig, ob der jeweilige Künstler es bewusst auf
solche Mitteilungen angelegt hat oder nicht. Das Schöpferische, das »Heilige«
im Schaffensprozess teilt sich oft unmittelbar mit, geht über das Bewusstsein
des Künstlers hinaus und schafft eine Ebene religiösen Einvernehmens mit ihm.
Das ist relativ unabhängig vom vorgegebenen Thema des betreffenden Kunstwerks.
Mal sind es die Farben, mal eine einzelne eingefangene Geste in einer Skulptur,
die unmittelbar diese religiöse Kommunikation auslösen.
…
Wichtig aber ist, dass auch hier in der Kunst, wie schon von
der Musik beschrieben, Religion »stattfindet«. Alles, was mich ganz intensiv
berührt, mich zutiefst erschüttert, mich zu Tränen rührt oder größtes Glück
hervorruft, ist religiöses Erleben, das keiner Bekenntnisse, Dogmen oder
Glaubensaussagen bedarf. Es lässt das Göttliche unmittelbar erfahren und stellt
das Leben damit auf eine ihm im Eigentlichen angemessene Ebene höchster
Intensität und Präsenz im Augenblick, ist ein Stück »Ewigkeit«, weil es aus der
Zeitlichkeit herausgenommen ist. Eine solche Religion ist schon von ihrem Wesen
her ohne Bevormundung, verlangt keine Unterwerfung, kein festgelegtes Ritual.
Ich kann damit niemanden beherrschen oder unterdrücken, in Gruppen einteilen
oder Abgrenzungen nach außen schaffen. Diese Freiheit des Göttlichen lässt mir
meinen kritischen Verstand, verlangt nicht nach Ausblendung von Weltrealitäten.
…
(158ff.) Man kann diese religiösen Erfahrungen allerorten
machen, auch im Rahmen der Kirche, vorausgesetzt man bleibt darin unabhängig
und traut seinen eigenen Wahrnehmungen und Überzeugungen. Deshalb würde ich
Menschen auch nicht zwangsläufig raten, die Kirche zu verlassen, ihre bisherige
Mitgliedschaft aufzugeben. Wenn jemand die Gemeinschaft religiös denkender
Menschen sucht, wenn er dort andere findet, mit denen er über seine eigenen
religiösen Erfahrungen auch außerhalb kirchlicher Glaubensprägungen reden kann,
ohne in die Ketzerecke gestellt zu werden, dann mag er sich in seiner
Ortsgemeinde umtun und, wenn möglich, Heimat finden.
Für mich selbst habe ich festgestellt, dass ich diesen
Rahmen nicht mehr brauche, vielleicht auch nie gebraucht habe. Vielmehr hat er
mich zumeist eingeengt, bevormundet und mich immer wieder dazu herausgefordert,
mich abzugrenzen, fernzuhalten, mich nicht für die eine oder andere Richtung
vereinnahmen zu lassen. Das Abenteuer Religion, die Erfahrung besonderer
Wirklichkeiten im normalen Leben wie auch im außergewöhnlichen Erleben findet
für mich besser ohne den Rahmen einer religiösen Gemeinschaft statt, erfordert
aber als Voraussetzung nicht unbedingt eine Trennung von der Kirche. Für viele
Menschen ist ja mit der Kirchenzugehörigkeit mehr verbunden als nur Lehre,
Richtungsweisung, Glaubensvorgaben auf Grund der Interpretation biblischer
Schriften. Hinzu kommt das Gefühl von Gemeinschaft überhaupt, wie wir das auch
in allen Vereinen und Verbänden finden, die ebenfalls die gegenseitige Versicherung,
nicht allein sein zu müssen mit seinen Lebensfragen, ermöglichen.
Ich bin oft gefragt worden, besonders im Hinblick auf meine
religiösen Grundgedanken, ob es nicht ehrlicher und konsequenter wäre, aus der
Kirche auszutreten. Meine Antwort darauf lautet: Wenn du nichts mit dem
Gottesdienst, den biblischen Gottesvorstellungen, den Lehren der Kirche
anfangen kannst, dann halte dich besser fern davon. Der Austritt muss dennoch
nicht eine zwangsläufige Folgerung daraus sein. Betrachte deine Kirchensteuer
als eine Art Kultursteuer, damit beispielsweise die vielen schönen alten
Kirchen erhalten werden können mit ihren wertvollen Orgeln. Auch wenn du nicht
zu den »Gläubigen« gehörst, kann es dir nicht gleichgültig sein, was damit
geschieht. Der Verlust dieser Gebäude und Instrumente, das Verschwinden der
großen Bachschen Oratorien aus dieser Art
Öffentlichkeit wäre eine kaum zu überschätzende Verarmung einer Gesellschaft,
die ohnehin durch die Überbetonung von Konsum und Genuss in ihrem Zusammenhalt
gefährdet ist.
Leuten, denen besonders das soziale Engagement der Kirchen
am Herzen liegt, können ihren Beitrag ebenso gut in erster Linie als
Sozialsteuer betrachten. Es ist unumstritten, dass die Kirchen auf diesem
Gebiet bis heute Beachtliches leisten (Telefonseelsorge, Krankenhausseelsorge,
Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt, als Träger von Krankenhäusern,
Kindergärten, Alten- und Pflegeheimen etc).
Wer also die Kirchensteuer nicht unbedingt als Beitrag zu
den ideologischen Inhalten der Kirche betrachten will – weil er nicht mehr
damit einverstanden ist oder es noch nie war und es daher als konsequent
ansehen müsste auszutreten, es aber aus irgendwelchen Gründen noch nicht getan
hat – der mag die Organisation Kirche auch weiterhin in dieser Weise unterstützen.
Mit Religion hat das natürlich nichts zu tun, muss es ja auch nicht. Soziales
Engagement aus humanistischen Beweggründen heraus unterscheidet sich nicht
wesentlich von kirchlich motiviertem Handeln.
(161ff.) Für die Unbeweglichkeit und Trägheit, sich den
Herausforderungen der Zeit und den dringlichen Anfragen aus einer Welt der
Wissenschaft und Technik zu stellen, gibt es natürlich ebenfalls Jahrhunderte
alte Begründungen. Mit dem Satz: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe
auch in Ewigkeit« bin ich jeder beschwerlichen Bemühung, mir selbst Gedanken
machen zu müssen über den Fortbestand des Religiösen, enthoben. Wenn mir
dagegen meine eigene Wahrnehmung von Welt jeden Tag, jede Stunde deutlich
macht, dass nichts, aber auch gar nichts auf der Welt so bleibt, wie es ist,
sondern sich ständig wandelt, dann stellt sich doch umso dringender die Frage,
warum das nicht auch für die Religion gelten sollte.
Wenn uns also heute die biblischen Gottesbilder fremd und
archaisch erscheinen, dann sind sie es natürlich auch nach einer Geschichte von
zweitausend Jahren Menschheitsentwicklung, des Fortschreitens der Kenntnisse
auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, der Technik, der Zivilisation.
Dementsprechend müssen andere Vorstellungsweisen von Religion, ein anderes
Reden vom Göttlichen einer Wahrnehmung von Welt entsprechen, die nicht im
Widerspruch dazu oder im Leugnen des bisher Erkannten stehen dürfen. Die
Trennung zwischen realer Welterfahrung und religiösem Weltverständnis ist
keinesfalls gesetzmäßig. Im Gegenteil. Viele Forschungsergebnisse aus dem
Bereich der Astrophysik, der Teilchenphysik, der Medizin stehen keinesfalls im
Widerspruch zu einer religiösen Betrachtung des Lebens und seiner Bedingungen
in dieser Welt. Es ist nur erforderlich, andere Paradigmen, also andere
Vorstellungsmöglichkeiten für das Göttliche zu entwickeln, Möglichkeiten, die
eine durch die Naturwissenschaften geschärfte Sichtweise unserer
Lebensbedingungen nicht außer Acht lassen oder gar missachten dürfen. …
um den Menschen, die sich mit ihrer Erfahrung von
haarsträubenden Zumutungen auf dem Gebiet der biblisch geprägten
Gottesvorstellungen und in der Art und Weise, wie sie selbst – bewusst oder
unbewusst – in der Kirche unmündig gehalten werden, nicht abfinden mögen, neue
Denk- und Vorstellungsweisen an die Hand zu geben, Menschen, denen daran liegt,
gemäß ihrer Wirklichkeitserfahrung Religion integrieren zu können, ohne auf
antike Vorstellungsmuster zurückgreifen zu müssen.
Wenn es allgemein anerkannt ist, dass die Bibel das Dokument
menschlicher Gotteserfahrungen ist, dass Menschen zu jeder Zeit und an
unterschiedlichen Orten auch verschiedene Erfahrungen mit dem Göttlichen
gemacht und zu Protokoll gegeben haben, dann fragt man sich, warum das heute
nicht auch mit gleicher Berechtigung und gleichem Anspruch möglich sein sollte.
…
(164ff.) Warum ist es nicht möglich, weite Teile der Bibel
nicht auch als bloßes historisches Dokument mit sehr zeitbedingtem Inhalt zu
betrachten? Oder warum sollte die jüdisch-christliche Geschichte nicht mit
gleichem Anspruch auf authentisches Erleben und individuelle Wahrheitserfahrung
fortgeschrieben werden? Ansatzweise ist das ja auch in der Literatur durch die
Jahrhunderte hindurch hier und da geschehen und geschieht noch heute in unserer
modernen Literatur zum Teil auf eindrucksvolle Weise. Das Angebot ist also
groß. Es geht mir nicht darum, daraus nun wiederum einen Kanon verbindlicher,
das heißt, zu glaubender Schriften zu entwickeln. Aber es wäre gewiss
hilfreich, unter dem Aspekt: Auf dem Weg zu einer Religion für mündige Menschen
auf Bücher, Essays, Abhandlungen etc. aufmerksam zu machen, die andere auf
diesem Weg ermutigen und mit neuen Sicht- und Vorstellungsweisen unterstützen
könnten.
Im Zentrum einer solchen neuen Religiosität, denn eigentlich
ist es weniger eine neue Religion, die ja schon wieder den Anspruch eines
umfassenden Systems in sich bergen würde, stünde vor allem ein anderes
Gottesverständnis als das christlich-jüdische oder islamische, die jeweils von
einem persönlichen, in erster Linie männlich geprägten Gottesbild ausgehen. Es
mag sogar sein, dass dieses neue Gottesverständnis in einem weitherzig
gefassten christlichen Gottesbild mit enthalten sein kann. Es wird nur immer
wieder überdeckt durch die überwiegend alttestamentlichen Gottesbilder mit
ihren nicht selten unerträglichen Zumutungen. …
ist mir diese Beschreibung des großen Lichts noch am
sympathischsten, wenn man vom Göttlichen oder gar von Gott reden möchte: Eine
Liebe, die stets und überall da ist, die nicht eingreift, nicht herrscht,
belohnt oder bestraft, die sich nicht als allmächtig ausgibt und dennoch die
ganze Welt, das ganze Universum durchscheint, die möglicherweise Ausgangs- und
Zielpunkt alles Seienden ist, eine solche Rede von Gott scheint mir gerade noch
erträglich, ist dem Heiligen vielleicht gerade noch angemessen. Alles Weitere
ist Spekulation, Eintragung eigener Wunschvorstellungen, unzulässige
Instrumentalisierung eines Bereichs, auf den wir keinen, aber auch gar keinen
Einfluss, geschweige denn Zugriff haben. …
(171ff.) (Bezug auf
Bibeltext 2. Mose 33,17ff.)
Zum dritten Mal ist dieser Text für mich Grundlage einer
Predigt. Und für heute habe ich ihn ganz bewusst gewählt. Nicht weil ich
glaube, dass diese Geschichte wirklich geschehen wäre. Mythen ereignen sich nie
so buchstäblich, wie sie erzählt werden. Das haben sie gemein mit Märchen. Aber
Mythen und Märchen erzählen uns tiefe, immer gültige Wahrheiten über unser
Leben, über das menschliche Wesen und die Bedingungen unter denen wir leben. So
auch dieser kleine Mythos von Mose und seinem Gott Jahwe. Für mich persönlich
sehe ich darin eine ganze Wegstrecke meines Lebens widergespiegelt. …
Was hier in so schönen, klaren, kräftigen Bildern
beschrieben wird, steckt mehr oder minder stark ausgeprägt, in uns allen. Es
ist das unersättliche Verlangen nach Wahrheit. Es ist die tiefe Sehnsucht,
einmal wenigstens die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen. Und es ist die
antreibende Neugier, zu erforschen, wie alles gekommen ist, warum es so ist,
wie es ist, und was die Zukunft sein wird, was mit der Welt und was auch mit
uns ganz persönlich geschieht. Sehnsucht und Neugier kommen aber nicht von
selbst. Wir bestimmen darüber auch nicht mit unserem Willen. Sie sind die
Auswirkung der wundervollen, manchmal auch fürchterlichen Welt auf unsere
Seele, unser Gemüt. Sie verhelfen uns zum eigentlichen Menschsein, das in uns
gelegt wurde bei unserer Geburt wie eine noch ganz geschlossene Knospe, die auf
Entfaltung wartet. Ich bin der Überzeugung, dass es unsere Lebensaufgabe ist,
diese Menschlichkeit wie eine leuchtende Blume zum Blühen zu bringen. Das
bedeutet, mit allen Sinnen zu leben, die Welt um uns, die Menschen und alle
Wesen so umfassend wahrzunehmen, wie es nur möglich ist. Die Folge davon ist
noch nicht Gotteserkenntnis oder die Erkenntnis der Wahrheit an sich, aber es
bringt mich auf den Weg. Wenn ich alle meine Seelenfäden wehen lasse, so
verbinden sie sich mit der Welt: mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Meer und Wind
und sie fangen an zu klingen. Und diese noch tastenden Töne sind voller
Sehnsucht nach dem ganz großen Weltklang, von dem wir ahnen, manchmal auch
wissen, dass es ihn gibt. Und die Seelentöne bringen fast wie von selbst
Religiosität hervor, indem sie erzählen von dem einen großen Ton, in dem alle
anderen aufgehoben sind. Schließlich begannen die Menschen diesen großen,
vollendeten Ton Gott zu nennen. Er wurde mit Eigenschaften ausgestattet, die
die Menschen an sich selbst wahrnahmen und auf ihren Gott übertrugen. Und so
mischten sie ihre kleinen Klänge, vor allem auch die Missklänge, aufdringlich
in den großen Ton, und was nun daraus wurde, war nicht selten schrill und
schreiend, manchmal andere zu Boden brüllend. …
Das ist der Eros der Naturwissenschaftler, der Glaube der
Gläubigen, die letzte Frage all derer, die das Fragen nicht schon als Kind
verlernten oder verboten bekamen. Wer bist du? Lass dich sehen! Und wiederum
gibt ER oder ES sich nicht zurückweisend, nicht schroff, nicht überheblich,
sondern zeigt sehr viel Verständnis für den Ungestümen: »Ich will all meine
gute Segensfülle an dir vorüberziehen lassen ...« Dass diese Welt eine
unglaubliche Fülle für uns bereithält, ist ganz offensichtlich. Wie wir damit
umgehen, steht auf einem anderen Blatt. Aber in dieser Fülle liegt der
geheimnisvolle Schlüssel: »Ich werde zum Klingen bringen vor die meinen Namen
...« In der Fülle des Daseins klingt der große Ton, in der Fülle der Welt
klingt das Göttliche rein und klar.
Aber nun kommt die Grenze doch noch: »Mein Antlitz jedoch
vermagst du nicht zu schauen!« Du müsstest sterben, du
kannst das letzte Warum nicht begreifen. Dein Verstand ist nicht dafür gemacht,
es ist zu gefährlich für dich. Das Heilige an sich ist nichts für deine Sinne,
für deine Augen schon gar nicht. Du verstehst es nicht, ertrügst es nicht. Einen
Hinweis dafür, für die Unmöglichkeit das Ganze sinnlich zu begreifen, erhalten
wir tagtäglich: der dunkle Name dafür ist Tod. Der gewaltsame, der natürliche,
das Verblühen auch der schönsten Rose, die Vergänglichkeit in allem, die jeder
Mensch so schmerzhaft an sich spürt, die uns in Trauer stürzt und manchmal in
Verzweiflung. Weil es scheinbar keine Gründe gibt dafür, dass Kinder sterben
müssen oder der mir liebste Mensch, dass gemordet und vergewaltigt wird, dass
verheerende Naturkatastrophen ganze Dörfer und Städte auslöschen. Der Schrecken
darüber hat sich in Tausenden Geschichten der Menschheit niedergeschlagen.
Biblisch sicherlich am eindringlichsten in der Geschichte von der Sintflut. Die
Erzähler dieser Geschichte konnten das Schweigen über den tödlichen Wassern
nicht ertragen und zwangen so dem Urton ein Gesicht
auf. Eine Götzenfratze wurde daraus, indem man sich erzählte, Gott selbst habe
in voller Absicht alles ausgerottet und zerstört, wegen der Bosheit der
Menschen.
Wir wissen heute, dass solche Erklärungen für große
Katastrophen völlig unmöglich und so grausam sind wie das Unglück selbst. Es
gibt zwar Erklärungen für die Entstehung von Erdbeben und Überschwemmungen,
aber nicht dafür, wer und warum jemand darin umkommt. …