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Joachim Krause, Hauptstr. 46, 08393 Schönberg, Tel. 03764-3140 (27.6.2002)

© Joachim Krause 2002

Hier geblieben –
Vierzig spannende Jahre

Die 50er – Feinde, Druck und Terror

Wetterleuchten
Es waren heiße Tage in einem Kindersommer. Gedrückte Stimmung, die auch uns Kindern nicht verborgen blieb. Vater drehte öfter als sonst an dem schwarzen Radiokasten und lauschte den von Pfeifen und Quietschen (Störsender!) verzerrten Nachrichtensendungen des „Feindsenders“ RIAS („Radio Im Amerikanischen Sektor“ – von Westberlin). Irgendwo – noch weit weg - war die Welt aufregend und gefährlich in Bewegung gekommen. Aber dann plärrten auch die rostig-grauen Lautsprecher-Trichter los, die überall in den Straßen unserer Kleinstadt hingen. Eine blecherne Männerstimme verlas immer wieder einen kurzen Text mit Meldungen und Befehlen, der dann wenig später auch in gedruckter Form an die Häuserfassaden geklebt wurde. Ausnahmezustand, Verbot der Zusammenrottung, abendliche Ausgangssperre, sofortiger Schusswaffengebrauch. Gesenkte Stimmen auf Treppenfluren, immer neue Nachrichten und Gerüchte: von Arbeiter-Aufstand, von Konterrevolution, von Terror und von Toten. Angst stand in den Gesichtern der Erwachsenen, Angst, die auch in mich hineinkroch. Weglaufen ging nicht. Aber Verkriechen unter Vaters Schreibtisch. Wenige Tage später war alles vorbei, wie ein schlimmes Gewitter abzieht, aber es blieb ein Schatten auf dem Alltag, der Staat DDR hatte in meinem Kindergemüt einen ersten deutlichen Ein-Druck hinterlassen.
Dieser 17. Juni des Jahres 1953 war meine früheste Erfahrung mit Politik. Ein paar Wochen später kam ich in die Schule, wir zogen um aufs Dorf. All das Neue ließ schnell die dunklen Tage vergessen.

„Pfarrer Krause lehnt den Frieden ab“
Ein Jahr später, im Juni 1954, fand in der DDR eine „Volksbefragung“ statt. „Hinweg mit Adenauer und dem EVG-Vertrag!“ - 93,5 Prozent der Bevölkerung stimmten dafür. Mein Vater war nicht zu dieser Abstimmung gegangen (wie zu allen späteren „Wahlen“ in der DDR). Und schon stand sein Name in der Überschrift der regionalen Zeitung: „Das deutsche Volk entschied sich für den Frieden – Pfarrer Krause lehnt den Frieden ab“. Anders als „jeder anständige Deutsche“ wolle er „tatenlos zusehen, wenn sein Volk von gewissenlosen Verbrechern hingemordet werden“ solle. „Was würde er einmal seinen drei Kindern antworten?“ Die Eltern saßen nachdenklich vor der Zeitung. Da war er wieder, dieser Druck. Was würde jetzt kommen? Drohte Verhaftung? Oder war das nur die Überreaktion dieses Herrn Rudolph („politischer Leiter“) oder eine deutliche Warnung?
(Ich habe das Original dieses Zeitungsartikels aus dem Jahre 1954 nach der Wende in meiner – des Sohnes - Stasiakte wieder gefunden, abgeheftet als Beleg dafür, wie Sippenhaft aussehen kann.)
Telefongespräche wurden in jenen Jahren erkennbar „mitgehört“. Wichtige und politisch vielleicht brisante Post vertraute mein Vater nicht dem Briefkasten an, sondern dafür es gab es (kirchliche) Kuriere. In den sonntäglichen Gottesdiensten saßen Fremde, die mit spitzen Ohren Staatsgefährdendes erlauschen sollten.

Stalinismus hautnah
Unten in unserem Haus wohnte Kantor Kirbach mit seiner Frau. Er war jahrzehntelang Dorfschullehrer gewesen und ein gestrenger Mann. Nun genoss er seinen Ruhestand. Bis er eines Tages fassungslos meinen Vater zu sich ins Wohnzimmer rief. Ich schlich neugierig hinterher. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Auf dem Titelblatt stand in dicken Lettern: „Mörder von 10000 Schweinen!“ und daneben war ein Bild von Kirbachs Sohn. Der war damals (1954) leitender Tierarzt irgendwo im Thüringischen. Und er war politisch unbequem. Das brachte ihm das Misstrauen der Staatsorgane ein, er wurde intensiv beobachtet. Und dann schlug das System unbarmherzig zu. In einem Schauprozess wurde er angeklagt, die Impfung von Tausenden Schweinen unterlassen (es ging wohl um die Schweinepest) und dadurch der Volkswirtschaft der DDR wissentlich geschadet zu haben. Das Urteil lautete auf 12 Jahre Zuchthaus. Seine Ehe ging in die Brüche, und seine beiden minderjährigen Söhne mussten von den Großeltern aufgenommen, unterhalten und erzogen werden und lebten dann mehrere Jahre in unserem Hause. Der inhaftierte Tierarzt kam nach 8 Jahren wieder frei, aber er war ein gebrochener Mann und starb wenige Jahre später.
Auch im Haus gleich gegenüber geschah Mitte der 50er Jahre Bedrückendes. Der Adoptivsohn der Nachbarsleute, damals vielleicht 25 Jahre alt, kehrte eines Tages – gesundheitlich schwer gezeichnet - nach Hause zurück. Nur verhalten wurde getuschelt und gemutmaßt. Er war nach dem Krieg in den „Westen“ gegangen, hatte dort einige Jahre gelebt. Aber dann wollte er seinen Vater besuchen, der aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, und überschritt illegal die Zonengrenze. Die Russen holten ihn wenige Tage nach seiner Heimkehr zu Hause ab, er kam vor ein Schnellgericht – und wurde als „West-Spion“ zum Tode verurteilt! Später wurde das Urteil gemildert, aber er saß vier schlimme Jahre im berüchtigten Zuchthaus in Bautzen ab. Wie dieser Mann jeden Tag stundenlang rastlos in seinem kleinen gepflasterten Hof auf und ab ging, hat mich als Kind tief beeindruckt.
Zwei solche Schicksale schon in unserem kleinen Dorf – es hat ihn schon wirklich gegeben, den Terror der 50er Jahre.

Flugblätter
Flugblätter hießen nicht nur so, sie kamen wirklich geflogen. Aller paar Monate geschah es. Entweder waren sie in der Nacht gekommen und lagen als bunte Aufregung auf Wiesen und Feldern. Oder sie flatterten – erst ganz winzige Pünktchen am Himmel, später als Zettel erkennbar – in die Nachmittags-Langeweile. Ihr Erscheinen löste hektische Betriebsamkeit aus. Zum einen bei uns Kindern, weil es einen Wettbewerb gab: wer findet die meisten? Zum anderen bei den Staatsorganen (das war manchmal der Parteisekretär der LPG, manchmal der Bürgermeister, manchmal der Dorfpolizist). Die mussten sich von Amts wegen kümmern. Die Zettel kamen nämlich vom „Klassenfeind“ aus dem bösen Westen. In Bündeln aufgelassen mit großen Ballons trieben sie zu uns in den bösen Osten, und irgendwo – manchmal im Himmel über uns – setzten sie ihre Last frei. Die Zettel waren meist bunt, und die Parolen waren heftig. Es war kalter Krieg, und die Sprache war entsprechend (Sowjetzone, Sklaverei, Terrorherrschaft usw.). Die „Staats-Organe“ waren alarmiert und gingen auf Suche. Aber ein Großteil der Zettel befand sich längst in der Hand sammelwütiger Kinder (und interessierter Erwachsener) – und nun begann das immer gleiche Spiel. Hochnotpeinliche Befragung durch den Dorfpolizisten in den einzelnen Häusern dorfauf und dorfab: Hat hier jemand solche Zettel gefunden? Die seien abzuliefern. Bei Strafandrohung. Viele Zettel wurden trotzdem versteckt und heimlich gelesen. Ein paar Tage Partisanen-Stimmung, Hase-und-Igel-Spiel. Dann war wieder Alltag.

Kartoffelkäfer und Klassenkampf
Der Klassenfeind im Westen schmiss noch mehr Bösartigkeiten vom Himmel. Als Feind des Sozialismus entpuppten sich Kartoffelkäfer. Die hatten die Amerikaner (so wurde jedenfalls amtlich informiert) aus Flugzeugen abgeworfen, um uns wieder zu unterjochen. Wir Schulkinder wurden an die Kartoffel-Front geschickt. Mal freiwillig und mal zwangsweise in Klassenstärke marschierten wir auf die Felder, wurden über Aussehen und Tarnungen des gelb-schwarz gestreiften käferlichen Feindes belehrt, mit Fanggläsern ausgerüstet und schwärmten dann über die Felder aus für den Sieg des Sozialismus. Pro Käfer gab es sage und schreibe EINE MARK, für ein Glas Larven 50 Pfennige. Da machte Klassenkampf sogar Spaß. Bloß – es gab gar nicht so viele Käfer, ich habe 25 Jahre später viel mehr von ihnen überall auf Kartoffelfeldern gesehen, aber da gab es leider kein Geld mehr.

Friedensfahrt-Patriotismus
Jedes Jahr im Mai war für zwei Wochen Ausnahmezustand. Im Radio erklang eine Fanfare, die viele Menschen elektrisierte. Friedensfahrt! Stundenlang ließ ich Tag für Tag das Radio nicht aus dem Blick und verfolgte jeden der Streckenberichte, dramatisch geschildert von Heinz-Florian Oertel & Co. Wir fieberten mit unseren Helden, mit Täve, Bernhard Eckstein und wie sie hießen. Stürze brachten Bestürzung, und Siege erfüllten uns mit unbändigem Stolz: Es waren „unsere“, die da gewannen, da wuchs irgendwo auch etwas Stolz auf diese DDR (wenigstens im Sport waren wir wer!). Wenn die Friedensfahrt bei uns vorbei kam, radelten wir zur Hohen Straße oder an die „Steile Wand“ von Meerane, um unseren Helden zuzusehen und zuzujubeln. Und wir fuhren tagelang selbst Radrennen auf den Dorfstraßen, und wir träumten davon, auch mal Friedensfahrer zu werden. Oder Skispringer, wie Helmut Recknagel oder Harry Glass.
Stolz war ich auch (auf wen eigentlich richtig?), als 1957 der erste sowjetische SPUTNIK die Erde umkreist hatte.

LPG Typ I
Das Jahr 1960 brachte neue Unruhe ins Dorf. Der kalte Wind der sozialistischen Kollektivierung wehte durch die DDR. Die Zeitung erklärte tagtäglich, in welch glorreichen Zeiten wir lebten: die Bauern wandelten ganz freiwillig ihr Privateigentum in genossenschaftlichen Besitz um. Viele Bauern sahen das überhaupt nicht so positiv. Ich sehe sie noch vor mir, gestandene Männer, wie sie geduckt, ratlos und mit feuchten Augen im Arbeitszimmer meines Vaters saßen. Was sollten sie tun gegen den wochenlang andauernden Druck? Jeden Abend saßen die Agitatoren aus der Stadt bei ihnen in den Bauernküchen und lockten und drohten. Bis einer nach dem anderen seinen Beitritt zur LPG beantragte.

Der Druck dieser Jahre lastete permanent auch auf dem Familienleben. Aber Sommerbad und Kirschen-Klauen und Indianer-Spielen waren am Ende für meinen Kinder-Alltag doch die stärkeren Eindrücke. Heimat, zu Hause – das war hier.
Und doch gab es da irgendwo eine ganz andere Welt, den WESTEN. Da lockten Kaugummis, Zündplättchenpistolen, hochglanzgestylte Autokataloge. Und da drohten Schreckfiguren, deren Namen uns in der Schule immer wieder eingebläut wurden, die Ollenhauer, Aden(h)auer, Eisenhauer hießen und Krieg wollten...
Anfang 1960 war ich mit meinen Eltern für einige Tage „drüben“, in Westberlin. Kudamm-Kino, Eiscola, Hula-Hoop. Die Frage, ob es eine Alternative sei, in den Westen zu gehen, beantwortete die DDR brutal einige Monate später mit dem Bau der Mauer. Jetzt war klar, wo wir hingehörten! Und den „Westen“ gab es – physisch erlebbar – nicht mehr. Nur noch in Form von Paketen. Und im Fernsehen.
 

Die 60er – der Spielraum wird etwas weiter

Westfernsehen
Ab Herbst 1961 besuchte ich die „Erweitere Oberschule“ (der DDR-Weg zum Abitur) in der benachbarten Kleinstadt. Neue Gesichter, neue Eindrücke – und neuer „Klassenkampf“. Eine Kampagne gegen das Sehen und Hören von „Westsendern“ lief an. Agitationsgruppen sägten „Westantennen“ von den Dächern, in der Schule wurde eine Unterschriftensammlung gestartet, in der sich alle Schüler freiwillig verpflichten sollten, keine „Westsender“ mehr zu nutzen. Die Listen füllten sich. Ich unterschrieb nicht. Gerade erst hatte ich bei Radio Luxemburg neue musikalische Welten entdeckt, die mir wichtig waren, und die abendliche „Tagesschau“ oder Werner Höfers sonntäglichen „Frühschoppen“ wollte ich auch nicht lassen. Am nächsten Tag hing am Schwarzen Brett ein großer Zettel, auf dem drei oder vier Namen von Schülern (darunter meiner) bekannt gemacht wurden, weil sie Handlanger des Klassenfeindes seien und eigentlich an dieser sozialistischen Schule nichts zu suchen hätten. Verunsicherung, Bockigkeit, Angst, elterliche Gespräche. Ein paar Tage später habe ich auch auf der Liste unterschrieben. Opportunismus, Anpassung, Unterwerfung? Getröstet hat mich immerhin die anerkennende Bemerkung eines drei Jahre älteren Schülers, der vor dem Schwarzen Brett meinte, so viel Mut wie ich habe er nicht gehabt. Mut? Ein ganz kleines bisschen Stolz blieb auch in der Niederlage – ich hatte, wenn auch nur für einige Tage, eine eigene Meinung gehabt und vertreten, war nicht gleich mit geschwommen im allgemeinen Strom der Unterwerfung...
Und Westfernsehen – das gab es weiterhin in fast jedem Haushalt.

Öffnung
Aber in die DDR kam  Bewegung. In den 60er Jahren erschienen Platten von den Beatles (Arbeiterjungen!) und von Bob Dylan. Ich gründete selbst eine Beat-Band, wir sangen natürlich (und ohne verboten zu werden) englisch-sprachige Titel. Gemeinsam mit einem Freund aus der Beat-Szene schrieb ich damals einen Titel für den „Schlagerwettbewerb“ der DDR, der überraschend in den Endausscheid gelangte. Daraufhin wurden wir ermutigt, selbst weiter eigene Titel für die DDR-Beatmusik zu schreiben. Was den textlichen Inhalt solcher Stücke anlangte, war manchmal fast alles möglich und manchmal schwang die Kulturpolitik den großen Hammer der Verbote.
Nach und nach wuchsen meine Haare bis auf die Schultern hinunter, in der Studienzeit kam ein Bart dazu. Das war auch ein Stück Protest, Anderssein – und es wurde immerhin toleriert.

Prager Frühling
Inzwischen war ich Student. Auch für die DDR brachte das 68er Jahr eine politisch aufregende Phase. Auch bei uns und in uns gärte es. Prag war von Dresden nur zwei Zugstunden entfernt. Der Prager Frühling steckte an. Mit Freunden bin ich 1968 drei Mal in die Goldene Stadt gefahren (die Grenzüberfahrt brachte auch eine interessante Erfahrung: ich war zum ersten Mal „draußen“ aus dieser DDR...).
An der Moldau hatten wir nächtelange Diskussionen mit tschechischen Studenten, genossen die überall spürbare Aufbruchsstimmung, auf den Straßen erlebten wir erstaunt offene politische Diskussionen, sahen in neugierige und erwartungsvolle Gesichter. Das alles musste doch auch bei uns möglich sein!
Und dann standen sowjetische Panzer auf dem Prager Wenzelsplatz! Wut, Trauer, ohnmächtiger Protest: Ich trug fortan einen gestrickten Schlips in den tschechischen Nationalfarben, Manschettenknöpfe am Hemd, gelötet aus tschechischen Kronen-Münzen... Einen verzweifelten Solidaritätsbrief an meinen Prager Freund Jindra heftete die Stasi später in meine Akte...

Blinde Flecken
Mein Vater fuhr, als ich noch zur Schule ging, jedes Jahr im Winter mit mir für eine Woche ins Erzgebirge zum Skiurlaub. Die Reise nach Johanngeorgenstadt mit der Eisenbahn war auch in den 60er Jahren noch ein Abenteuer. Schon in Zwickau stiegen in jeden Waggon zwei Uniformierte ein. Die Ausweispapiere aller Mitreisenden wurden intensiv kontrolliert, wir wurden nach unserem Reiseziel befragt. Wir waren in einem exterritorialen Gebiet der DDR unterwegs. Hier im Erzgebirge gewann die Sowjetunion seit 1946 Uran, das Metall, mit dem man Atomwaffen baut und Atomkraftwerke betreiben kann. WISMUT hieß die Firma zur Tarnung, und auch der formal souveräne Staat DDR hatte hier nichts zu sagen. Ganze Landstriche wurden durch hektischen Raubbau verwüstet, Tausende von Bergleuten opferten ihr Leben dem Umgang mit dem strahlenden Material. Aber darüber wurde nicht geredet. Man wusste – und schwieg mit den anderen. Am Ende der DDR-Zeiten hatte sich der Uranbergbau bis nach Thüringen ausgebreitet. Von meiner Wohnung aus waren am Horizont deutlich die WISMUT-Halden zu sehen, höher als die Pyramiden von Ägypten – aber ich habe sie damals einfach nicht wahrgenommen. Unbequem. Unheimlich. Einfach ausgeblendet.
 

Die 70er – das Erlernen des aufrechten Ganges und das Ausloten der Grenzen

ABC des Lebens
An einem Wintertag Anfang des Jahres 1973 betrat ich eine kleine Baracke und saß dann zusammen mit 20 doch recht abenteuerlichen Gestalten auf Tischen und alten Polstermöbeln, und wir diskutierten und diskutierten... Ich war in der „offenen Jugendarbeit“ der Weinbergskirche in Dresden gelandet, und was ich hier erlebte, hat mich geprägt, hat mich verändert, hat mich viele Jahre fest gehalten. Manchmal 15 und später auch manchmal 150 junge Leute trafen sich dort einmal in der Woche. Sie kamen aus sehr unterschiedlichen sozialen Milieus, aber sie hatten eines gemeinsam: sie wollten das „ABC des Lebens“ buchstabieren, nachdenken über Sinn und Ziel ihres eigenen Daseins, und sie wollten dieses andere Leben auch wirklich ausprobieren. Da wurde erregt debattiert über (antiautoritäre) Erziehung, Generationsfragen, den Sinn des Soldatseins, Gewalt und Protest, Musik (von Bob Dylan und Wolf Biermann), Literatur (selbstgemachte und verbotene). Da wurden Pläne geschmiedet für die Gründung von „Kommunen“ auf dem Lande (zum Test wurde erst einmal unser Trabant von drei Familien gemeinsam genutzt).
In diesen Jahren lernte ich die DDR noch einmal ganz neu kennen. Es gab Willkür und brutale Macht immer noch, ich hatte das bloß nicht erlebt bisher. Plötzlich hatte ich Freunde aus dem Arbeitermilieu, die im Knast gewesen waren, die als „asozial“ galten und vom Staat auch so behandelt wurden, ich erlebte Verhaftungen aus nichtigem Anlass. Ich begegnete Künstlern aus einem ganzen „Untergrund“-Netzwerk. Ich lernte „Tramper“ kennen, die mit Schlafsack auf dem Rücken und ein paar Adressen in der Tasche unterwegs waren, einziges Ziel: das nächste Konzert „ihrer“ Bluesband.

„Über mich“
(Text für die Rock-Gruppe PANTA RHEI (später KARAT); auf Schallplatte veröffentlicht 1973)
Hab viel gesehen, manches nicht verstanden,
doch weiß ich täglich mehr.
Stand an vielen Türen, hatte keinen Mut,
doch ging ich wieder hin.
Hab viel gesprochen, manches nicht gehalten,
jetzt denk ich vor dem Wort.
Hab viel genommen, wenig nur gegeben,
doch fing ich grad erst an.
Kannte viele Worte, die andre gerne hören,
jetzt sag ich, wer ich bin.
Hab viel begonnen, manches nicht beendet,
doch ich hab was getan.

Feindberührung
Für den 12. November 1973 hatte mich ein Termin per Postkarte ereilt. Zur „Klärung eines Sachverhalts“ sollte ich im Volkspolizeikreisamt erscheinen. Der Termin passte mir gar nicht. Die Geburt unseres zweiten Kindes stand unmittelbar bevor, ich hatte unterwegs einen neuen Kinderwagen erworben, unten drin im Wagen-Korb lag ein gerollter Bettvorleger. So ausgerüstet meldete ich mich im Polizeigebäude an der Information. Meine Frage nach „Zimmer 211“ löste merkwürdige Reaktionen aus: Hektische Betriebsamkeit, Getuschel, klappende Türen, Telefongespräche. Dann endlich der Verweis, nach oben zu gehen. Dort saß ich wieder lange vor einer verschlossenen Tür. Irgendwann wurde ich hineingebeten. Halbdunkel, zwei Herren in Zivil, Ausweise vor meiner Nase. Stasi. Panik. Aber zunächst waren sie ganz freundlich. Fragten nach Persönlichem, nach Beruf und Freunden. Ich habe doch gute Kontakte zu Musikern aus der Rock-Szene. Es wurde härter, bedrohlicher: Ich wüsste doch sicher, dass da mit den Steuern getrickst würde, dass die Verstärkertechnik illegal aus dem Westen käme. Und um klar zu beweisen, dass ich damit nichts zu tun habe – was ich denn so wüsste... Ich wusste zwar einiges, wollte aber nichts gegen meine Kumpels sagen, wollte aber auch die Herren nicht unnötig verärgern. Eiertanz, Angstschweiß. Ein zarter Hinweis, dass ich irgendwann nach Hause müsste, wurde abschlägig beschieden: Dieses Gespräch würde so lange gehen, wie es eben gehen müsste. Passendes Detail: die Tür hatte innen und außen keine Klinke. Die Zahl der Herren nahm zu, sie waren austauschbar, betraten und verließen nach irgendeiner Regie das Zimmer, waren mal verständnisvoll und dann mal sehr aufgeregt und in Drohpose. Was ich für Freunde hätte. Ob ich denn dies und jenes von dem und jenem wüsste. Dass ich natürlich nicht verdächtig wäre, aber dass ich vielleicht was aufklären könnte, eigentlich gehe es durchweg um Verstehen und Helfen... Konzentrationsübung. Fluchtreflexe. Ich wollte hier raus. Aber da war diese Tür ohne Klinke. Nach zwei oder drei Stunden war endlich Schluss. Vorläufig, wie sie sagten. Im Aufstehen wurde mir ein Zettel vor die Nase gelegt, den ich doch bitte unterschreiben möge. Reine Routine: dass das heute Gefragte und Gesagte unter uns bliebe und dass ich bereit sei, das Gespräch demnächst fortzuführen. Fast hätte ich unterschrieben, nur um hier endlich wegzukommen. Da ging im Hinterkopf eine rote Lampe an. Nein, sagte ich, mit meiner Frau werde ich drüber reden. Die Herren waren böse, aber gerade ihre Unsicherheit bestärkte mich. Der Zettel blieb ohne Unterschrift.
Zu Hause folgten stundenlange Gespräche, mit meiner Frau, mit Freunden, zu denen ich befragt worden war. Schlaflose Nächte. Dann schrieb ich einen Brief, Eilsendung und Einschreiben, mangels Namenskenntnis adressiert an „Zimmer 211“ im VPKA Dresden. Und sagte endgültig ab: Konspirative Gespräche mit mir allein und über Dritte würde es nicht geben.
Erst zwanzig Jahre später ist mir richtig klar geworden, dass diese kleine Unterschrift mein Leben vielleicht völlig verändert hätte. Meine Stasiakte beginnt mit einem dünnen Hefter, in dem ich als „IM-Vorlauf“, als potenzieller Mitarbeiter der „Organe“ geführt werde. Dort ist nach dem geschilderten Gespräch auch ordentlich ein Umschlag abgeheftet worden, auf dem „Verpflichtung“ stand. Und dieser Umschlag war leer geblieben. Damit war mein potenzielles „IM“-Dasein schlagartig beendet. Es gab im Denken der Stasi aber nur Freund oder Feind, und so wurde im Abschlussprotokoll festgelegt, „die Bearbeitung des Kandidaten in einem IM-Vorlauf einzustellen und ihn im Namen der OpV-Bearbeitung unter Operative Personenkontrolle zu nehmen.“ In den nächsten 17 Jahren war ich Staatsfeind unter intensiver Betreuung, und die Konzeptionen sahen nun vor, die Gruppierungen, in denen ich lebte, „systematisch zu zersetzen und zu liquidieren.“
Auch ich zog konkrete Schlussfolgerungen aus dem Stasi-„Gespräch“, in das ich doch ziemlich unvorbereitet geschlittert war. Ich sprach in der Folgezeit mit Freundinnen und Freunden, die schon ähnliche Erfahrungen auf Ämtern oder mit überraschenden Besuchern zu Hause gemacht hatten, und bot für die Jugendlichen in unserer offenen kirchlichen Jugendarbeit regelrechte Schulungs- und Trainingsabende an: Wie verhalte ich mich, wenn ich eine Vorladung erhalte, wenn unerwartet fremder Besuch klingelt? Was habe ich für Rechte, wie kann ich „die“ ärgern, verunsichern?

Gefährliche Offenheit
An einer Stelle war das System DDR besonders verletzlich: Offenheit, Öffentlichkeit waren nicht vorgesehen. Vieles geschah im Verborgenen, ohne öffentliche Kontrolle, Strukturen waren immer vorgegeben (und damit auch geschlossen), alles nicht offiziell Organisierte und Gesagte war eigentlich verboten...
Und nun kamen da Leute und machten „offene“ Jugendarbeit. Zu der einfach jeder kommen konnte, bei der jeder sagen durfte, was ihm wichtig war (und die verborgenen Zuhörer, die in „dienstlichem“ Auftrag dabei waren, auch noch direkt aufgefordert wurden, kritische Botschaften doch weiter zu transportieren!).
Ich habe immer sehr freizügig (und ganz offen) schriftliche Kontakte Richtung Westen gesucht, zunächst einfach deswegen, weil man per Postkarte so die Chance hatte, an wichtige fachliche Informationen (Sonderdrucke aus Fachzeitschriften) oder andere lesenswerte Druckerzeugnisse heranzukommen („Bettelbriefe“ an Autoren und Verlage). Der Rücklauf klappte recht gut (wurde also nicht unterbunden), aber die Vorgesetzten und manche Behörden hatten schon erhebliche Schwierigkeiten mit derlei „Westkontakten“, die es eigentlich gar nicht geben sollte.
Und für die Stasi war De-Konspiration, also das (öffentliche) Reden über Kontakte zu diesem „Organ“ oder über dort gehabte Gespräche die schrecklichste Sache überhaupt. Also lautete die Regel Nummer 1 im Schulungsprogramm: Rede mit allen möglichen Leuten darüber und sag das auch den Schlapphüten!

Alternative Konzepte?
Unser Nachdenken über alternative Gesellschaftskonzeptionen war intensiv und nahm konkretere Gestalt an. Ende der 70er Jahre habe ich an einem Manuskript geschrieben mit dem Titel: „Die andere Hälfte“. Da wollte ich aufzeigen, was diesem Sozialismus fehlte, die Kluft deutlich machen zwischen dem schönen Anspruch und der ganz anderen Wirklichkeit unseres Alltags. Ich wollte das System DDR messen an seinen eigenen hohen Zielvorgaben. Ich habe Rosa Luxemburg, auch Marx und Engels gelesen – und mit deren Zitaten argumentieren gelernt.
Das unfertige Manuskript ist irgendwann mit in den Ofen geraten, als wieder einmal jemand verhaftet wurde und die Wohnung „sauber“ sein musste.

Knast als reale Möglichkeit
Im Spätsommer 1980 wurde ein guter Freund von mir verhaftet. Er hatte gemeinsam mit anderen in Leipzig politische Literatur aus dem Westen gezielt in die DDR eingeführt und verbreitet. Auch bei mir standen Bücher wie „Die Alternative“ von Bahro oder Werke von Solschenizyn aus diesen dunklen Kanälen in Schrank, und ich hatte auch öfter Schallplatten- und Bücher-Pakete zur Post gebracht, aus deren Erlös im Westen der Bücherkauf finanziert wurde. Nun schlug der Blitz ganz in meiner Nähe ein: Verhaftungen, Haussuchungen, Beschlagnahmungen. Panik. Belastendes Material wurde im Stubenofen verbrannt. Angstschweiß bei jedem parkenden Auto – kommen sie jetzt auch zu uns? Sie kamen nicht. Aber ich wusste: sie hatten auch Bücher beschlagnahmt, die mir gehörten. Mein Selbstbewusstsein kehrte wieder, und ich schrieb einen Brief an den Staatsanwalt in Leipzig, in dem ich ihn aufforderte, mir mein – doch wohl irrtümlich und rechtswidrig konfisziertes - Eigentum (Westbuch um Westbuch genau aufgelistet) wieder auszuhändigen. Und Frechheit siegte: wenige Wochen später übergab mir ein Kurier irgendwelcher Staatsorgane ein Päckchen mit meinen beschlagnahmten Büchern und Briefen. Erkenntnis: Man hat auch in der DDR Rechte, und (aber nur:) wenn man die einklagt, kriegt man (manchmal) auch Recht. Da war offenbar Spielraum im System DDR, und diese Grenzen galt es auszuloten!
Als (erst viele Monate später) der Gerichtsprozess gegen Harald W. stattfand, haben wir die Staatsmacht erneut getestet und verunsichert. Grundsätzlich waren (auch politische) Verfahren vor Gericht öffentlich. Also: genauen Ort und Termin erkunden (mühsam), Freunde und Bekannte zum Kommen ermutigen, Klopfen und Klingeln an lange verschlossen bleibender Tür des Untersuchungsgefängnisses, entschlossenes Vorbeischreiten an den verdutzten und verunsicherten Beamten, hektische Betriebsamkeit im Verhandlungsraum (der weder von den vorhandenen Stühlen her noch seitens der Richter und Anwälte auf Öffentlichkeit vorbereitet war), solidarischer Blickkontakt zu den bereits herangeführten Beschuldigten, stolze Teilnahme an der verspäteten und nervös zelebrierten Eröffnung der Verhandlung, dann amtlicher „Ausschluss der Öffentlichkeit“. Aber wir gingen erhobenen Hauptes. Wir hatten es uns selbst und „denen da“ gezeigt: Wir lassen uns nicht (mehr) alles so einfach gefallen!
Trotzdem waren solche Erfahrungen mit Gefängnisnähe Anlass, sich in der Familie nüchtern die Frage zu stellen: Wie viele Jahre Knast kommen in Frage, und wann ist Ausreise angesagt? Schön theoretisch war sie schon, diese Frage. Ich glaube, die Verständigung mit meiner Frau war: höchstens ein Jahr. Bei einer längeren Haftstrafe hätten wir einen Ausreiseantrag gestellt. Makaber, aber der Westen war in dieser Sicht immer eine Rettungsmöglichkeit, mit der wir für den Krisenfall pokerten.

Der ganz alltägliche Widerstand
Ich habe viele Menschen gekannt, die überhaupt keine Widerstandkämpfer sein, einfach nur in Ruhe in der DDR leben wollten - und die trotzdem Mutiges taten. So haben zwei Kolleginnen aus meinem Institut den gesamten Text von Rainer Kunzes Buch „Die wunderbaren Jahre“ mühsam mit Schreibmaschine auf Matrize geschrieben, weil nur so dieses Buch vervielfältigt und auch von anderen gelesen werden konnte. Der Instituts-Fotograf hat für mich Fotokopien ganzer Bücher angefertigt (z.B. „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome), die dann im Kollegen-Kreis und anderswo in Dresden kursierten. Ein Exemplar des Buches „Die Alternative“ von Rudolph Bahro hat mein Gruppenleiter von mir für vier Pfund Westkaffee erworben und in seinem Umfeld in Lese-Umlauf gebracht.
Solche Mit-Menschen zu haben, machte das Weiterleben in der DDR leichter (und den Gedanken an Weggehen schwerer).
 

Die 80er – Frechheit und der (Irr-) Glaube an echten Wettstreit und an die Veränderbarkeit der DDR

Postkontrolle
Anfang der 80er Jahre wurde unsere Post aus dem Westen intensiv „gefilzt“. Briefe verschwanden, jedes Weihnachtspäckchen war erkennbar durchwühlt. Manchmal konnten einem die Kontrolleure aber auch richtig leid tun! Eines Tages nahm mich ein Abteilungsleiter in meinem Institut auf die Seite und berichtete, dass eben zwei Herren bei unserem Direktor gewesen seien und sich bitter über meine Provokationen beklagt hätten. Ich hatte (ganz ehrlich) keine Ahnung, was ich angestellt haben sollte. Was war passiert? Die beiden Herren waren mit der Kontrolle meiner Post beauftragt. Kürzlich war ein großes Paket mit 20 Rollen Klopapier aus dem Westen gekommen. Welche Bösartigkeit war da zu vermuten? Die Herren bekamen den Auftrag, das Papier von einer Rolle nach der anderen komplett abzuwickeln (vielleicht war da drin ja eine konspirative Botschaft versteckt) und danach natürlich wieder ordentlich aufzurollen. 20 Mal! Und nichts gefunden! Ich konnte verstehen, dass sie sauer waren. Des Rätsels Lösung war banal: Ein Freund aus dem Westen war bei uns zu Besuch gewesen. Wie so oft zu DDR-Zeiten gab es gerade kein Klopapier, und er hatte sich auf unserer Toilette mit zerrissenen Zeitungen herumplagen müssen. Und da wollte er uns eben mit 20 Rollen Westpapier was Gutes tun.
Über solche Geschichten (die natürlich genüsslich weiter erzählt wurden!) konnte als Real-Satire gelacht werden (wie über die schönen DDR-Witze), und das tröstete über den bitteren Ernst mancher Lage ganz gut hinweg.

Tschernobyl und die Folgen
An einem strahlenden Apriltag des Jahres 1986 explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Bis dahin hatte es eine breitere oder gar öffentliche Debatte über Pro und Kontra der Kernenergie in der DDR nicht gegeben. Der Informationsbedarf war riesig: wie arbeitet eigentlich so ein Atomkraftwerk, was kann bei einem Unfall passieren, welche Gefahren bestehen für die Bevölkerung, ist die Kernenergie unverzichtbar oder gibt es Alternativen? Ich schrieb in den Folgemonaten den Text für eine Broschüre, die interessierten Mitmenschen helfen sollte, sich in der Debatte zurechtzufinden und selbst eine Meinung zu bilden. Vervielfältigt (1000 Exemplare, das war für DDR-Verhältnisse eine hohe Auflage) wurde das Heft im „Kirchlichen Forschungsheim“ in Wittenberg, einer Schaltstelle für die (systemkritische) Umweltarbeit in der DDR. Wir gaben dem Heft etwas schlitzohrig den Titel „...Nicht das letzte Wort“ (Kernenergie in der Diskussion). Das war ein Honecker-Zitat, mit dem er in einem Interview nach den Ereignissen von Tschernobyl einer endgültigen Bewertung ausgewichen war. Und da unser Heft ohnehin illegal erschien (natürlich stand wie immer darauf „Nur für den innerkirchlichen Gebrauch!“) und wir grundsätzlich mit offenen Karten spielen wollten, und natürlich auch gespannt waren, was passieren würde, war es nur folgerichtig, dass ein Exemplar direkt per Post an Erich Honecker geschickt wurde.
Interessant der weitere Vorgang (das haben wir aber erst nach der Wende aus staatlichen Archiven erfahren): Honecker hat unser Begleitschreiben tatsächlich in die Hand bekommen und persönlich abgezeichnet. Und er hat die Angelegenheit nicht etwa an die Stasi weitergeleitet, sondern um Prüfung durch Fachleute gebeten. Wenige Tage später lag eine Expertise über Herausgeber und Verfasser vor (mit dem Etikett „oppositionell und staatsfeindlich“). Wenige Wochen später waren wir aber nicht etwa im Knast, sondern erhielten eine Einladung in das zuständige „Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz“.
So etwas machte durchaus Mut, weitere „staatsfeindliche Aktionen“ dieser Art ins Auge zu fassen.

Umwelt-Spionage
Die DDR hatte seit 1970 ihr „Landeskulturgesetz“, einen der ersten Umweltminister in Europa, Umweltschutz war schon früh in die Verfassung geschrieben worden – aber in Wirklichkeit war die DDR an vielen Stellen ein Saustall. Ich war seit 1982 (inoffiziell) auch Umweltbeauftragter bei der Kirche in Sachsen. In dieser Tätigkeit begegnete ich zwangsläufig vielen Dingen, über die offiziell geschwiegen wurde. Da litten Hunderte von Kindern in Dohna an Umweltschäden, die durch eine örtliche Chemiefabrik verursacht waren. Da berichteten mir staatliche Bedienstete (bei heimlichen Treffen zu Hause) über die tatsächlichen Ursachen und das Ausmaß des Waldsterbens im Erzgebirge, da druckte eine Apotheker(!)-Zeitschrift aus Versehen konkrete Daten zu Schwermetallbelastungen in Nahrungsmitteln im Raum Freiberg. Um solche Sachen kümmerte ich mich. Fakten sammeln, Verlässlichkeit der Informationen prüfen, Informationen in die Öffentlichkeit bringen. Die „Organe“ diffamierten das zwar als „staatsfeindlich“, aber angesichts der genau recherchierten und belegbaren Fakten waren sie hilflos. Irgendwie war das ja auch peinlich, wenn öffentlich vorgerechnet werden konnte, dass sogar Daten im Statistischen Jahrbuch der DDR gefälscht waren (z.B. zur Luftbelastung).

Die Macht der Eingaben und der Zitate
In diesem Land gab es kaum einklagbare Rechte, aber es gab eine Macht des kleinen Mannes, die in den so genannten Eingaben steckte. Man durfte und konnte sich beschweren, wenn einem etwas nicht passte, und die staatlichen Stellen waren verbindlich verpflichtet, innerhalb von vier Wochen die Angelegenheit zu bearbeiten und zu klären. Und so beschwerte auch ich mich: weil ich keinen Ersatzreifen für mein Auto bekam, weil aus einem Westpaket Schallplatten beschlagnahmt worden waren, weil ein Dresdner Kraftwerk zu sehr qualmte. Einmal schrieb ich an den Genossen Modrow, damals Bezirkssekretär der Partei in Dresden, weil plötzlich einige Dutzend Militärmaschinen auf den Dresdner Zivilflughafen standen und von morgens 6 Uhr an pausenlos über die Stadt donnerten. Unerträglicher Lärm, schlaflose Kinder, genervte Nachbarn. Keine Antwort. Ich wartete genüsslich den Ablauf der ominösen Vier-Wochen-Frist ab, dann rief ich in der Bezirksleitung der SED an. Und löste das erhoffte Beben aus. Hektische Betriebsamkeit, Entschuldigungen, ein schriftlicher Zwischenbescheid schon am nächsten Tag. Und eine Woche später erhielten wir in unserer Wohnung amtlichen Besuch. Zwei hoch dekorierte Offiziere der NVA (in voller Uniform) breiteten auf dem Tisch geheime Karten aus, erläuterten uns die militärische Lage in der Dresdner Luft – und sie sagten zu, dass die morgendlichen Flüge ab sofort erst eine Stunde später starten würden, und ohnehin würden die Maschinen kurzfristig wieder verlegt.
Als wirksam erwies sich auch das Zitieren von Stimmen und Zeugnissen, die die DDR zu ihren Heiligtümern erklärt hatte, auf die sie stolz war und auf die sie sich selbst immer wieder berief. Marx und Engels, Honecker und die Schlussakte von Helsinki, die Menschrechtskonventionen der UNO oder die Umweltgesetze der DDR, Parteitagsbeschlüsse oder veröffentlichte Zahlen – darauf konnte man sich berufen, und man hatte damit gute Trumpfkarten für die Diskussion mit amtlichen Stellen.

Westkontakt
1987 durfte ich ganz privat zu Besuch in den Westen reisen. Das kam überraschend, weil der Anlass eigentlich keine zulässige Begründung für einen „Antrag“ war. Ich hatte angegeben, dass ich zum 50. Geburtstag des Paten(!)-Onkels meines Sohnes eingeladen war. Und durfte überraschend „raus“. Ob man hoffte, dass ich drüben bleiben würde?
Dann stand ich in der größten Münchner Buchhandlung (für einen lesebesessenen DDRler schlichtweg das Paradies!), knüllte meinen Merkzettel in der Hand mit der Notierung der wichtigen Bücher, die ich suchen wollte – und es war schrecklich: es gab nicht nur die von mir gesuchten Bücher, sondern ringsum in den Regalen standen Dutzende andere, deren Titel genauso verlockend klangen. Ich habe nach zwei Stunden entnervt, verstört und ohne Buch dieses Haus verlassen. Das Schlaraffenland Westen brachte ganz unerwartete Probleme. Es war schön dort, es gab gute menschliche Begegnungen und irritierende, es gab viel Staunenswertes (die Funktionsweise einer Ölheizung, der Besuch bei einem Ethik-Leistungskurs in einem Gymnasium, Angebot wie Preise im Delikatessen-Tempel), das für uns im Osten so wertvolle Westgeld wurde im Westen ganz schön schnell alle, zur Wirklichkeit gehörten auch Arbeitslose und Obdachlose...
Irgendwann saß ich – den Kopf voller Eindrücke und die Plastetüten voller Mitbringsel – im Zug nach Hause. Das war für mich völlig klar: es ging wieder nach Hause, dort gehörte ich hin. Und diese Fahrt zurück in die DDR hatte eine ganz besondere Bedeutung für mein Selbstverständnis. Ich kam freiwillig wieder, ich hätte mich auch anders entscheiden können. Ab jetzt galt endgültig: gleiche Augenhöhe!