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"Gehirnforscher sind doch keine Unmenschen" -
"Aber vielleicht leiden sie an Schizophrenie?"
Ein Streitgespräch zwischen dem Hirnforscher Wolf
Singer und dem Philosophen Julian Nida-Rümelin
Ist der freie Wille bloß eine Illusion? Sind unsere Vorstellungen von
Verantwortung und Schuld überholt? Warum kommt es so selten vor, dass
Naturwissenschaftler und Philosophen wirklich miteinander reden?
Frankfurter Rundschau 3.4.2004 -
(URL: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/magazin/das_gespraech/?em_cnt=415464)
Herr Singer, was hat Ihre Frau gesagt, als Sie ihr
erklärt haben, dass sie keinen freien Willen hat?
WS: So habe ich ihr das nicht erklärt. Meine Forschungen haben ja nicht mein
ganzes Alltagsempfinden umgekrempelt. Natürlich haben wir unsere Kinder zur
Rechenschaft gezogen, bestraft und belohnt.
Aber schimpft Ihre Frau nicht mit Ihnen, wenn Sie zu Hause Ihre berüchtigten
Forschungsergebnisse präsentieren, zum Beispiel, dass Willensfreiheit eine
Illusion ist?
WS: Mit meinen Ergebnissen hat sie überhaupt kein Problem. Wie übrigens viele
damit kein Problem haben.
Wer hat denn ein Problem damit?
WS: Menschen, die sich nie recht Gedanken darüber gemacht haben, was sie
eigentlich meinen, wenn sie behaupten, der Wille sei frei. Oft ist da die
Vorstellung, es gäbe etwas, was den neuronalen Prozessen im Gehirn übergeordnet
ist, eine von diesen unabhängige Instanz, die entscheidet und dann das
Nervensystem zur Ausführung veranlasst. Dann wären wir wirklich fremdbestimmt.
So ein "freier Wille" wäre etwas, was von draußen meinem Gehirn sagt,
was es zu tun hat.
Und Ihnen ist es lieber, wenn Ihr Gehirn Ihnen sagt, was Sie zu tun haben?
WS: Es geht nicht darum, was mir lieber ist. Das ist der Stand von heute: Wir
glauben, dass alle Leistungen von Gehirnen, die mentalen Prozesse
eingeschlossen, auf neuronalen Vorgängen beruhen. Das heißt: sie gehorchen
physiko-chemischen Gesetzen. Diese Einsicht, die wir Neurobiologen zur Zeit
verteidigen müssen, zwingt natürlich zu dem Schluss, dass ein Gehirn, sprich
die Person ...
Ein Gehirn, sprich die Person? Das klingt aber kühn.
WS: Die Person ist der Organismus, die Gesamtheit von Körper und Nervensystem.
Und wenn das zutrifft, dann folgt daraus, dass jedweder Entscheidung neuronale
Prozesse vorgängig sind und nicht die Entscheidung dem neuronalen Prozess
vorausgeht.
Sie formulieren Ihre Absage an den freien Willen einmal in den Satz:
"Eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht
anders konnte, sonst hätte sie anders gehandelt." Der vorausgehende
Zustand des Gehirns verursacht die Handlung?
WS: Genau.
Dürften wir das einmal etwas brutal in den Alltag übertragen? Ein Mann wird
von seiner Frau beim Ehebruch ertappt und sagt ihr: "Ich tat, was ich tat,
weil ich im fraglichen Augenblick nicht anders konnte. Mein Gehirn war halt in
diesem Zustand." Diese Erklärung würde doch keine Frau akzeptieren, Herr
Singer.
WS: Doch, die kann das ohne weiteres akzeptieren. Aber dann hinzufügen:
"Lieber Mann, jemand, der so angelegt ist wie du, der unter solchen
Bedingungen so handelt wie du, ist nicht der, mit dem ich auf Dauer
zusammenleben kann. Entweder du änderst jetzt dein Verhalten, oder ..."
Nach Ihrer Theorie müsste die Frau sagen: "Du änderst jetzt sofort dein
Gehirn, denn mein Gehirn will sonst mit deinem nicht mehr zusammenleben."
WS: Natürlich, das ist doch dasselbe. Die Argumente und Drohungen ändern in dem
Gehirn des Ehebrechers eine ganze Menge. Sie bilden plötzlich neue Attraktoren
aus, neue Gesichtspunkte kommen ins Spiel: "Ich verliere möglicherweise
meine Partnerin, wenn ich so weitermache." Dadurch hat sich der
Gehirnzustand des Mannes vielleicht so verändert, dass er das nächste Mal
anders handeln wird.
Aber die Frau wird natürlich der Meinung sein, dass er das vorher hätte
wissen können.
WS: Das ist doch aber die Frage, ob sie dieser Meinung sein sollte. Schauen Sie
mal: Dieser Mann sitzt an der Bar und ist von der Dame neben ihm in Bann
gezogen. Aufgrund dieser fokussierten Aufmerksamkeitslage gelangen nur ganz
bestimmte Inhalte in sein Bewusstsein und andere nicht. Über diesen
Auswahlprozess, der unbewusst abläuft, hat er schon gar keine Kontrolle.
Finden Sie?
WS: Natürlich, sonst käme ja etwas anderes in sein Bewusstsein. Diese im
Bewusstsein aufscheinenden Variablen und die vielen unbewussten Motive führen
dann dazu, dass sein Gehirn entscheidet: "Ja, ich tue es." Hätte er
vorher einen Spaziergang gemacht, hätte er sich kurz ernüchtert, wären
vielleicht auch die Variablen in sein Bewusstsein gedrungen, die Gegenkräfte
entfaltet hätten. Die Entscheidung wäre anders ausgefallen.
Dann müsste also auch die Ehefrau einsehen, dass er nichts dafür konnte?
WS: Richtig. Er ist eben nicht ins Freie gegangen. Warum nicht? Weil der
Gesamtzustand seines Gehirns, die Motivationslage so eindeutig war, dass ihm nicht
einmal die Idee dazu kam.
Wie praktisch.
WS: Moment, natürlich dürfen wir nicht sagen: "Es steht ja alles fest,
deshalb muss man sich mit allem abfinden." Natürlich gibt es
Entscheidungen, die wir nicht tolerieren können. Und wir wissen auch, wie wir
diese beeinflussen können: Indem wir andere Attraktorräume aufspannen, indem
wir belohnen, bestrafen, bedrohen, argumentieren.
Herr Nida-Rümelin, überzeugt Sie diese naturwissenschaftliche Erklärung von
Willensfreiheit, Schuld und Verantwortung?
JNR: Nein. Und Ihr Alltagsbeispiel zeigt das Problem des Naturalismus sehr gut.
Herr Singer, Sie verfehlen das, was ich den humanistischen Kern unserer
Lebenswelt nenne. Dass wir verantwortlich sind für unsere Handlungen, dass wir
deshalb auch begründen müssen, warum wir etwas getan haben. Das akzeptieren wir
alle, Sie auch, und Sie haben ja auch schon eingeräumt, dass Sie das auch in
Ihrer Familie so praktizieren. Und das Ganze erscheint uns nur sinnvoll, wenn
Personen nicht von vorneherein festgelegt sind, das eine zu tun oder das andere
zu lassen. Genau das bezeichnen wir als Freiheit.
Herr Singer, Sie lachen da?
WS: Nein, das würde ich nie wagen.
JNR: Sie behaupten, dieser Kern unserer Lebenswelt beruht auf einer Illusion,
weil alles, was mental vor sich geht, eine neurophysiologische Basis hat. Und
jetzt folgern Sie sofort: "Aha, damit haben wir gezeigt, dass es
Willensfreiheit nicht gibt." Aber wo ist das Argument? Natürlich wäre es
möglich, dass wir auf unsere Freiheitsintuition nicht verzichten können, obwohl
sie auf einer Illusion beruht. Aber die Tatsache, dass mentale Prozesse eine
neurophysiologische Basis haben, zeigt nicht, dass es sich tatsächlich um eine
Illusion handelt. Wir denken, wir sind frei, aber wir irren uns. Ich weiß
nicht, ob das Ihre Position wiedergibt?
WS: Doch, das ist meine Position. Und ich beginne auch genau wie Sie bei den
Gründen, die uns im Alltag so wichtig erscheinen. Es gibt damit nämlich ein
Problem: Wenn ich einen Menschen frage, warum er etwas getan hat, wird er mir
Begründungen liefern. Daraus muss ich schließen, dass die Gründe seiner
Handlung vorgängig waren. Und weil ich diesen Gründen keine materiell
verursachenden Prozesse zuordnen kann, muss ich zu dem Schluss kommen, dass
sich unter dem Druck der Gründe etwas konstituiert, was zu der Handlung führt.
Mir erscheinen die Begründungen als vorgängig und immateriell, denn ich kann
die Vorgänge im Gehirn des anderen nicht erfassen und ich habe auch über die
vorbereitenden Akte meines eigenen Gehirns keine Empfindung. Aber als
Neurobiologe muss ich natürlich darauf bestehen, dass sich der Grund
artikuliert hat aufgrund von ganz bestimmten Vorgängen im Gehirn. Etwas tritt
erst ins Bewusstsein, wenn es hinreichend konsistent geworden ist, um als Grund
zu wirken. Das Ins-Bewusstsein-Treten von Argumenten ist die Folge neuronaler
Prozesse, die der Bewusstwerdung vorangehen. Uns erscheint es aber anders.
Deshalb erfanden wir das Konstrukt des freien Willens, das als Regulativ sehr
gut funktioniert.
JNR: Prüfen wir mal, ob das wirklich so harmlos ist. Ihre These lautet:
Natürlich erscheinen uns unsere Entscheidungen als von Gründen gesteuert, aber
in Wirklichkeit irren wir uns da. Weil es immer nachgängig ist, der Prozess ist
schon abgeschlossen, wenn er ins Bewusstsein tritt. Und deshalb spielen Gründe
in Wirklichkeit keine Rolle.
WS: Doch, Gründe spielen eine Rolle. Die Aktivität der an Entscheidungen
beteiligten Nervennetze ist durch Gründe beeinflussbar. Wenn Sie mir etwas
sagen, wird Ihr Argument in neuronale Aktivität übersetzt. Die
Neuronenpopulationen beginnen, nach konsistenten Zuständen zu suchen. Das
Gehirn möchte konsistente Zustände.
JNR: Konsistenz? Dies Wort darf ein Logiker benutzen. Für einen materiellen
Prozess ist das kein gutes Prädikat.
WS: Ich kann das leicht herunterdeklinieren. Wenn ein Gehirn eine Voraussage
machen will, also Variablen, die sich allesamt in nichts anderem niederschlagen
als in neuronalen Aktivitätszuständen...
JNR: Jetzt sage ich: Na und?
WS: ...dann muss das Gehirn unterscheiden ...
JNR: Das Gehirn kann nicht unterscheiden.
WS: Doch. Das tut es ununterbrochen.
JNR: Sie benutzen eine falsche Begrifflichkeit.
WS: Gut, dann sage ich: Das Gehirn sucht ...
JNR: Es sucht auch nicht.
WS: Ich will versuchen, ohne diese intentionalen Begriffe auszukommen: Das
System ist so aufgebaut, dass es - das kann ich jetzt aber sagen? - danach
strebt ...
JNR: Eigentlich auch nicht.
WS: Also gut, dann sage ich, dass das System bestimmte dynamische Zustände
begünstigt, die sich durch Widerspruchsfreiheit auszeichnen, die stabiler sind
als andere. Stellt sich ein solcher Zustand ein, wird er als Ergebnis
empfunden: "Aha, ich habe die Lösung."
JNR: Bringen wir es noch mal auf den Punkt: Nur wenn Gründe keine Rolle
spielen, haben wir ein Problem mit dem humanistischen Kern unserer Lebenswelt.
WS: Ja.
JNR: Einen Moment, jetzt müssen wir präzise sein: Nur wenn das Ergebnis im
Gehirn feststeht, bevor die Gründe überhaupt abgewogen werden, haben wir ein
Problem. Wenn das nicht gilt, und das ist jetzt wirklich saubere Wissenschaft,
dann spielen Gründe eine kausale Rolle.
WS: Aber natürlich spielen Gründe eine kausale Rolle. Wenn ich jetzt nachdenke,
wie ich weiter argumentieren will, dann sucht mein Gehirn, suche ich, nach
widerspruchsfreien Argumenten. Diesen Prozess können Sie fortwährend
beeinflussen: Schauen Sie mich finster oder zweifelnd an, dann fügen Sie damit
dem Prozess weitere Variablen hinzu, die dazu führen können, dass er eine
andere Richtung nimmt.
JNR: Jetzt sind wir knapp dran. Aber bei gegebenen Umständen, einschließlich
aller Variablen, müssten Sie vorhersagen können, wie das Ergebnis der Abwägung
aussieht.
WS: Ja. Der je nächste Zustand des Gehirns ist durch den vorhergehenden in
hohem Maße determiniert. Falls zwei Folgezustände gleich wahrscheinlich sind,
kann dann auch einmal thermisches Rauschen den einen oder anderen begünstigen.
JNR: Dann liegt hier jetzt tatsächlich unser Konflikt: Das humanistische
Weltbild geht davon aus, dass das Ergebnis nicht feststeht, sondern erst eine
Folge des Abwägens ist.
WS:
Interessanterweise stört es Sie nicht, dass neuronale Prozesse, die auf der
nichtbewussten Ebene verhandelt werden, determiniert sind. Damit haben Sie kein
Problem. Aber sobald Gründe ins Spiel kommen, dann ist das auf einmal ein ganz
anderer neuronaler Prozess. Der ist dann plötzlich frei. Damit habe ich als
Neurophysiologe Probleme.
JNR: Aber davon habe ich doch kein Wort gesagt.
WS: Wo wird denn Ihr Grund verhandelt?
JNR: Im Hirn.
WS: Ein Grund ist nichts anderes als ein Attraktor, den sich das Gehirn aus
seinen Speichern selbst setzt. Oder er kommt von außen, weil die Sekretärin
anruft und sagt: "Du hast einen Termin vergessen, komm schnell." Wenn
die Attraktor-Lage klar ist, dann wird sich der einzigmögliche Zustand
einstellen. Und das ist sie dann, die Handlungsentscheidung.
JNR: Aber ein Grund ist kein Attraktor.
WS: Aber wo sind denn Ihre Gründe? Wie äußert sich das Abwägen?
JNR: Selbstverständlich äußert sich das Abwägen in neuronalen Prozessen.
WS: Wo ist denn der Grund, bevor er wirksam wird? Wo ist er denn? Sie müssen
doch eine klare Vorstellung davon haben, wie Ihr Grund verursachend auf die
Hirnprozesse einwirkt. Wo ist der Grund, bevor er mit neuronaler Aktivität
korreliert?
JNR: Gründe sind nichts Mentales, aber das Abwägen von Gründen ist ein mentaler
Vorgang,. Er realisiert sich in neuronaler Aktivität.
WS: Nein, neuronale Prozesse führen zu mentalen Vorgängen.
JNR: Woher wissen Sie, dass das so rum ist?
WS: Wie sollte es anders sein? Zudem gibt es Experimente, die das zeigen. Sie
können einer Person, genauer: ihrer nichtsprachfähigen Hirnhälfte, einen Befehl
in Form von Bildern geben. Die Person wird sich dieser Anweisung nicht bewusst
und wenn dem Auftrag nichts entgegensteht, dann führt die Person den Befehl
auch aus. Fragt man später nach der Handlungsbegründung, nennt uns diese Person
meist Gründe, die mit den wirklichen Ursachen nicht das geringste zu tun haben.
JNR: Das Beispiel zeigt sehr schön, wie weit Sie gehen müssten. Um den freien
Willen auszuschalten, müssten Sie sagen: "Die Rolle von Gründen ist immer
von dieser Art." Und jetzt stelle ich Ihnen eine Frage: Sind Ihre
Forschungsergebnisse geeignet, eine solch starke These zu stützen?
WS: Ich denke ja. Aber gleichzeitig glaube ich, wir können uns trotzdem sehr
komfortabel in der Alltags-Welt einrichten. So wie wir ja auch weiter sagen:
Die Sonne geht auf und die Sonne geht unter, obwohl wir wissen, dass es falsch
ist.
JNR: Das ist aber ein schlechtes Beispiel.
WS: Warum? Ein Sonnenuntergang ist wunderbar für Gedichte und das Bild reicht
für einen Großteil der Beschreibungen unserer Lebenswelt auch völlig aus. Es
wird erst dann problematisch, wenn ich Raketen bauen will, die treffen sollen.
Dann bricht das Sonnenuntergangs-Konzept zusammen, weil die Wirklichkeit anders
ist. Ich glaube, wir haben jetzt ein ganz ähnliches Problem beim Thema
Willensfreiheit. Sie sagen, das ist für unsere Lebenswelt unverzichtbar. Gut,
sagen wir: Es ist unverzichtbar. Jetzt kommt meine Disziplin und muss erkennen,
dass alles, was bislang mit den Worten "Argument", "Sinn",
"Bedeutung" und auch "Bewertung" versehen worden ist, in
Gehirnen verhandelt wird, die mit elektrischen Impulsen kommunizieren.
JNR: Unser strittiger Punkt ist doch jetzt die Frage: Wo verorten wir Argumente?
WS: Stimmt. Nehmen wir an, Sie liefern mir ein Argument. Dann wird dieses in
neuronale Aktivität verwandelt und mir anschließend bewusst - ich sage jetzt
einmal "ich", stellvertretend für mein Gehirn. Von dem Moment an, wo
das Argument zu einem gehirninternen Prozess geworden ist, von diesem Moment an
ist es für mich eine Determinante geworden.
JNR: Bis dahin habe ich damit kein Problem. Dass meine Argumente sich in
Hirnprozessen abbilden, ist doch keine große Überraschung.
WS: Moment mal. Sie beruhen auf Hirnprozessen.
JNR: Ich sage, sie realisieren sich darin. Zum Beispiel könnte es sein, dass
die Logik unsere Abbildungsprozesse beeinflusst.
WS: Ich möchte jetzt von Ihnen wissen, wo die logischen Gesetze sind. Sind Sie
heimlich doch Dualist und meinen, die schwebten irgendwo über der dinglichen
Welt. Ja wie denn?
JNR: Sie fallen wieder in den schlichten Materialismus zurück. Es macht keinen
Sinn, von neuronalen Prozessen zu sagen sie seien traurig. Traurig ist ein
mentales Prädikat und keine Aussage über einen Gehirnzustand.
WS: Aber das ist doch zerebrale Gymnastik.
JNR: Überhaupt nicht. Ich warne Sie lediglich davor, die großen Töne zu wagen:
"Wir haben bewiesen, dass es Willensfreiheit nicht gibt." Warum sagen
Sie nicht ein bisschen bescheidener: "Wir haben bewiesen, dass bestimmte
überzogene Selbstbilder des Menschen erschüttert sind."? Natürlich gibt es
einen graduellen Übergang zwischen Vorbewusstem und Bewusstem, zwischen durch
Gründe gesteuertem Tun und arationalem Verhalten. Das würde ich sofort
zuerkennen. Aber Ihre harte These geht in die Irre.
WS: Ich tue mich halt schwer mit diesem "ein bisschen". Ein bisschen
frei. Was soll das sein? Wieso ist das, was wir mit Argumenten verhandeln ein
bisschen freier, als das, was wir auf der gefühlsmäßigen unbewussten Ebene
verhandeln? Es sind nachweisbar die gleichen neuronalen Prozesse, und diese
sind gleichermaßen determiniert.
Herr Singer, was haben Sie für ein Selbstbild? Sehen Sie sich als
naturalistischen Angreifer oder als den Aufklärer und Humanisten, der die
Menschen von ihren Illusionen befreit?
WS: Am Anfang habe ich mir nur gewünscht, dass in der Rechtsprechung etwas mehr
Realismus einzieht. Im Gegensatz zu diesen willkürlichen Unterscheidungen
zwischen freien und nicht-freien Handlungen.
Sie meinen, wir sollten demnächst nicht mit unserem
Anwalt vor Gericht erscheinen, sondern jeder hat seinen Neurophysiologen dabei?
"Herr Richter, fragen Sie doch ihn. Ich konnte gar nicht anders."
WS: Wie wird es denn heute gemacht? Es gibt große Unsicherheiten, aber diese
werden auf dem Rücken von Psychiatern ausgetragen, die entscheiden sollen:
Dieser war frei, jener war nicht frei, der konnte, der konnte nicht. Das ist im
höchsten Grade willkürlich. Wenn Sie bei einem Verbrecher im Präfrontalhirn
einen Tumor finden, dann wird Ihnen jeder sagen: Ja, der arme Kerl, der hat die
Leitungsbahnen unterbrochen, die er braucht, um die Inhalte, die er im Gewissen
gespeichert hat als Argument in seine bewusste Abwägung hineinzuführen. Deshalb
bekommt er mildernde Umstände. Finden Sie in einem Gehirn keinen Tumor, dann
wird der Übeltäter voll zur Verantwortung gezogen. Aber ich kann Ihnen ein
Dutzend von Gründen aufzählen, warum auch dieser Täter nicht anders konnte -
"Gründe", ich trau mich fast nicht mehr, das Wort zu benutzen.
JNR: Das hat schon seinen guten Grund, Herr Singer. Sie kommen halt auch nicht
ohne aus.
WS: Dieser Mensch auf der Anklagebank ist möglicherweise nicht richtig geprägt
und erzogen worden, sein Gehirn ist anders verschaltet als unsere Normen das
fordern. Ich will sagen, es hat immer hirnphysiologische Hintergründe, warum
einer dies oder jenes getan hat. Deshalb muss ich die beiden Angeklagten gleich
beurteilen.
JNR: Niemand ist verantwortlich für alle Folgen der Thesen, die er aufstellt.
Aber ich will Sie nur darauf hinweisen, dass es schon die ersten Philosophen
gibt, die wie folgt argumentieren: "Die Neurophysiologen haben gezeigt,
dass unsere ganze Begrifflichkeit von Verantwortung nicht trägt, wir tun immer
das, was wir tun müssen, und deswegen haben wir den großen Vorzug, dass wir uns
jetzt endlich gegenseitig entspannter sehen können. Wir müssen uns nicht mehr
tadeln, das Leben wird viel leichter, da wir endlich wissen, wie wir eigentlich
sind."
WS: Das ist ja die völlig falsche Schlussfolgerung. Dass wir erziehen müssen,
bewerten, bestrafen, belohnen steht ganz außer Frage, weil das die einzigen
Techniken sind, mit denen man Hirnabläufe beeinflussen kann.
JNR: Ich mache Sie nicht dafür verantwortlich. Ich sage nur: Man zündelt nicht
ohne Folgen an zentralen Begriffen.
WS: Die Einsichten der Hirnforschung beeinträchtigen doch überhaupt nicht unser
narzisstisches Selbstbild. Nur weil wir der Meinung sind, dass Willensfreiheit
eine Illusion ist, werden meine Kollegen und ich doch nicht auf einmal zu
gewissenlosen Unmenschen. Wir bleiben offen für Argumente, solange sie sich auf
Fakten stützen. Auch für philosophische Gründe.
JNR: Aber Sie könnten ja an einer Schizophrenie leiden und sagen: Gut, als
Privatperson glaube ich weiterhin an Gewissen, Schuld und Verantwortung. Als
Forscher sehe ich das aber anders und sage: "Was wir Moral nennen, ist der
Versuch, das Verhalten von anderen Menschen zu steuern, zu beeinflussen, sagen
wir ruhig, zu manipulieren."
WS: Warum diese bösen Worte?
JNR: Gut, lassen Sie "manipulieren" weg. Aber mir geht es darum zu
zeigen, dass Ihre instrumentelle Vorstellung von Moral nicht mit unserem
Selbstbild übereinstimmt. Wenn ich jemandem Vorwürfe mache, dann will ich diese
Person gerade nicht beeinflussen, sondern ich nehme sie ernst. Typischerweise
beeinflussen wir nur die Menschen, die wir nicht ganz für voll nehmen, etwa
weil sie Alzheimer haben. Bei allen anderen Menschen - und jetzt können Sie
ruhig das Beispiel von dem Ehebrecher wieder nehmen - ist das unangemessen. Da
ist die Ehefrau wirklich ernsthaft verärgert, dass ihr Mann nicht den besseren
Gründen gefolgt ist. Auch dann, wenn sie weiß, das hat nur negative Folgen für
sie und für ihn.
WS: Wenn mein Handeln moralisch ist, dann habe ich ein Gehirn, das so gut
programmiert ist, dass es sich moralisch verhält. Und dann danke ich denen, die
mich erzogen haben. Und wenn ich's nicht bin, dann verwünsche ich die, die
dafür verantwortlich sind, ob das meine Gene sind, oder meine Erziehung oder
meine Umweltbedingungen, und versuche, das beste daraus zu machen.
Herr Singer, würden Sie auch im Falle des Holocaust bei Ihrer
naturalistischen Begrifflichkeit bleiben und sagen: "Die Gehirne der
Deutschen waren halt falsch verschaltet. Sie konnten nicht anders."?
Klingt das nicht völlig unangemessen?
WS: Aber um Himmels Willen! Warum soll denn zwischen dem, was sich im Hirn
ereignet und dem, was wir moralische Welt nennen, ein Widerspruch bestehen? Ich
sehe überhaupt nicht, wieso wir aufhören sollten, Massenmord zu verurteilen, zu
beurteilen, zu werten.
JNR: Aber warum verurteilen wir? Warum werten wir? Darauf muss Ihre Antwort
sein: Diese Mechanismen der Steuerung hat die Gesellschaft hervorgebracht und
das Ergebnis bin eben ich. Meine Gegenthese ist, dass Gene und Sozialisation
den Menschen eben nicht vollständig festlegen. Wir unterstellen Personen, die
wir ernst nehmen, dass sie anders hätten handeln können. Dass sie gerade nicht
vollständig gesteuert sind.
Herr Singer, bis jetzt sah es so aus, als ob unser Gehirn immer genau
wüsste, was für uns die richtige Entscheidung ist. Aber in Wirklichkeit sind
die Menschen doch häufig ratlos und fühlen sich von einer Fülle der
Wahlmöglichkeiten geradezu überwältigt. Was passiert genau, wenn Menschen
sagen: Ich muss jetzt mal "in mich" gehen?
WS: Oft verlassen sich Menschen sogar ganz auf diesen "inneren
Blick". Sie können nicht sagen warum, aber sie fühlen, etwas stimmt nicht.
Oft sind das nicht-bewusstseinsfähige Variablen, die sich in einem
Unstimmigkeitsgefühl ausdrücken. Das Gehirn muss dann unterscheiden zwischen
"es passt" und "es passt nicht". Besonders misslich sind
die Situationen, wo wir auf der Bewusstseinsebene nach expliziten Diskursregeln
zu einer Entscheidung kommen: "Du bleibst besser da, wo du bist."
Aber im Untergrund wirken die anderen Variablen, die vielleicht sogar auf frühe
Konflikte und Traumata zurückgehen. Die empfehlen jetzt: "Geh woanders
hin." Das ist ein typischer Entscheidungskonflikt: Was tun? Dann
entscheiden Sie manchmal gegen Ihr besseres Gefühl und für die Argumente. Aber
dann fühlen Sie sich schlecht. Meistens läuft es anders: Sie entscheiden nach
Gefühl, denn die passenden Argumente zur Rechtfertigung der intuitiv
getroffenen Entscheidung finden Sie schon noch im Nachhinein. Sie entscheiden
also wider besseres Wissen. Und dann heißt es Warten, bis sich das Gewissen
daran anpasst.
JNR: Auch wenn Sie jetzt den nicht-bewussten Variablen das größere Gewicht
einräumen, so verrät doch Ihre Redeweise vom Entscheiden, dass Sie den Freiheitsspielraum
mitdenken. Denn Entscheiden heißt immer Auswählen. Wer schon vorher weiß, was
er tut, der entscheidet sich nicht. Das führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass
die Deterministen Freiheit und Entscheidung in toto aus unserem Leben
herausschneiden müssen.
WS: Warum? Ich kann den Auswahlprozess doch auch als einen neuronalen Prozess
verstehen. Und genauso natürlich kann ich sagen: Wenn ich alle
entscheidungsrelevanten Variablen kenne, kann ich vorhersagen, wie ein Gehirn
entscheidet. Sie wollen immer darauf hinaus zu sagen: "Ein bissl frei sind
wir doch." Das geht nicht. Entweder sind Entscheidungen die Folge
neuronaler Wechselwirkungen oder sie kommen auf naturwissenschaftlich nicht
nachvollziehbare Weise zustande. Da müssen Sie sich schon entscheiden.
JNR: Ich glaube dagegen, dass diese strikte Gegenüberstellung zwischen absolut
frei und vollständig determiniert in die Irre führt.
Glauben Sie, dass dieses Gespräch unser Gehirn verändert hat?
WS: Und wie. Bei mir fühle ich es ganz deutlich. Die Argumente von Herrn
Nida-Rümelin lasten wie Mühlsteine auf mir. Ich muss heute Nacht gut schlafen,
um das wieder in Ordnung zu bringen. Oder ich schlage vor, dass er sich an
meinen Schreibtisch setzt und meine Forschungen weiterführt. Und ich fahre zum
Flughafen und nehme seinen Flieger.
JNR: Das ist eine gute Idee. Nur unsere Frauen werden ein bisschen überrascht
sein.
Interview: BARBARA MAUERSBERG UND CHRISTINE PRIES
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Copyright © FR online 2006
Dokument erstellt am 02.04.2004 um 15:04:01 Uhr
Letzte Änderung am 02.04.2004 um 17:03:50 Uhr
Erscheinungsdatum 03.04.2004
Das Gespräch
Julian Nida-Rümelin und Wolf
Singer
Geist contra Großhirn,
Frankfurt, Deutschland
In der Höhle des Löwen findet das Duell statt, im Frankfurter
Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Dessen Direktor Wolf Singer hat mit
seiner Streitschrift* gegen die Existenz des freien Willens einen Sturm
entfacht, der seit Monaten die Feuilletons in Atem hält. Doch der Revolutionär
streift sich zunächst einmal den Schafspelz über: "Verstehe ich nicht,
warum sich da jetzt plötzlich alle Philosophen Deutschlands drauf
stürzen." Der Hirnforscher blickt dabei harmlos in das Gesicht des Mannes,
der ihm gegenübersteht: Immerhin ist der Philosoph Julian Nida-Rümelin eigens
aus München angereist, um sich auf Singer zu stürzen. "Wir werden ja
gleich sehen, ob das so harmlos ist", kontert des Kanzlers ehemaliger
Kultur-Staatsminister und nimmt Platz auf Singers schwarzem Ledersofa.
Und dort bleiben die beiden Professoren in den nächsten zwei Stunden sitzen,
Auge in Auge, Hirn gegen Hirn, der Philosoph und der Naturwissenschaftler. Sie
ringen zäh um Begriffe, streiten hart und heftig über die Grenzen ihrer
Disziplinen hinweg. Und weil sie ja doch miteinander reden müssen, verschanzen
sie sich gar nicht erst in den üblichen Schützen-Gräben der "Hirn contra
Geist"-Debatte. Singer verzichtet auf Krawall-Theoreme, mit denen er oder
seine Kollegen Gerhard Roth und Wolfgang Prinz schon häufiger die
Öffentlichkeit verschreckt haben: Sind wir die Marionetten unserer Neuronen?
Nein, heute Nachmittag klingt Singer etwas zahmer. Erschaffen die
Neurophysiologen gerade ein neues Menschenbild? Nein, ganz so neu ist das alles
nicht. Gibt es gar keine Wirklichkeit "da draußen", ist die Welt
nichts als ein Konstrukt unserer Gehirne? Matrix lässt grüßen, aber auf einmal
erscheint alles halb so wild. Doch bei aller Vorsicht, in einem Punkt bleibt
Singer hart: Willensfreiheit ist eine Illusion. Unsere Hirnzustände entscheiden
über unsere Handlungen, nicht ein immaterieller freier Wille. Wir tun nicht,
was wir wollen, sondern wir wollen, war wir tun - und häufig legen wir uns die
Sache im Nachhinein passend zurecht.
Das sieht der Philosoph natürlich ganz anders. Nida-Rümelin versteckt die Angst
des Geisteswissenschaftlers vor dem Naturforscher nicht hinter schützendem
Begriffsbombast, sondern bleibt sachlich und fragt beharrlich nach: Ist die
Neurophysiologie wirklich schon weit genug für solch waghalsige Thesen?
Erlauben die Forschungsergebnisse seit den berühmten Libet-Experimenten von
1982 tatsächlich die Annahme, dass unser Hirn immer schon entschieden hat, wenn
unser Bewusstsein eine Entscheidung als frei erlebt? Und wie steht es mit
Schuld, Verantwortung und unserer alltäglichen Überzeugung, dass ein Mensch,
mit dem wir über sein Verhalten streiten, immer auch anders hätte handeln
können? Und meinen wir nicht genau das, wenn wir sagen, eine Person sei frei?
Und während die beiden Wissenschaftler noch darüber streiten, ob die
Hirnforschung dem Menschen nach Freuds Diktum "Das Ich ist nicht Herr im
eigenen Haus" noch eine weitere Kränkung hinzugefügt habe, hat
Magazin-Fotograf Bernd Roselieb eine ganz andere Idee: Ob Professor Singer für
das Foto vielleicht das Plastik-Modell eines Gehirns in die Hand nehmen könnte?
"Nein", sagt Singer entschieden. "Dann käme ich mir ja vor wie
der Doktor Faust." "Nein", sagt auch Nida-Rümelin. "Das
sähe ja aus, als hätte er die Sache im Griff."
* Der Aufsatz von Wolf Singer "Keiner kann anders als er ist.
Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu reden"
steht auf der Homepage des Frankfurter Max Planck-Instituts für Hirnforschung www.mpih-frankfurt.mpg.de/glo-bal/Np/Pubs/singeressays_d.htm