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WORT ZUM SONNTAG

© Joachim Krause 2003


Lebenszeichen

Joachim Krause, Schönberg

Ich war unterwegs, hastete auf dem Feldweg über die kahle Höhe. Meine Mütze musste ich festhalten. Ich stemmte mich gegen den Wind. Einzelne Regentropfen peitschten ins Gesicht. Blätter trieben vorbei. November eben, trüb und grau. Das schlägt auf die Stimmung. Auch der Horizont war wolkenverhangen, als ich dort die vertrauten Pyramiden erblickte: schwarze spitze Kegel, jeder einzelne Berg größer als die Vorbilder in Ägypten. Es sind Halden, die der Uran-Bergbau der WISMUT in unserer Region hinterlassen hat. Sie passten ins Bild meiner November-Stimmung: als Sinnbilder, als Mahnmale für den Machtwahn und die Maßlosigkeit des Menschen. Den Frieden sichern durch Atomwaffen, unerschöpfliche Energien haben durch die Kraft der Kernspaltung - wir haben schmerzlich erfahren, welch hoher Preis dafür gezahlt worden ist: verwüstete Heimat, geschädigte Menschen, gefährdete Umwelt.
Aber das gewohnte Bild stimmte nicht mehr. Da war etwas in Bewegung gekommen. Weiß schimmernd drehte sich neben der Halde ein großes Windrad. Es fing mit seinen Flügeln die Kraft des Novembersturms ein, der seit Jahrtausenden ungenutzt vorbeigeweht war (ich habe nachgefragt: ganzjährig fängt die Windmühle eine Energiemenge ein, die ausreicht, um 300 Haushalte mit Strom zu versorgen).
Mich hat dieser Kontrast nachdenklich gemacht. Die starren dunklen Zeugen der Vergangenheit und daneben nun Bewegung - Zeichen für Aufbruch, für Veränderung, für Leben... Ähnlich fröhlich war mir damals als Kind zumute, als ich ein buntes Rädchen in die Luft hielt und staunte, dass ohne mein Zutun etwas geschah (das ging ohne Batterie und Fernsteuerung), das Spielzeug scheinbar lebendig wurde.
Eine Reaktion da draußen im Novembersturm war Dankbarkeit. Diese Welt hält viele Schätze für uns bereit, die wir entdecken und mit Augenmaß auch nutzen dürfen. Es ist für uns gesorgt. Unsere Märchen wissen es: auch der Wind ist ein himmlisches Kind... Und an Bescheidenheit habe ich denken müssen: Unter dem Windrad wird nicht das Schlaraffenland sein, nicht alle unsere Blütenträume werden reifen. Aber es könnte genug sein für ein erfülltes menschenwürdiges Dasein. Vielleicht wäre es gut, wenn wir für die Zukunft lernen, mit dem zu leben, was uns die Schöpfung auf Dauer zuverlässig zur Verfügung stellt: wie den Wind, das Licht und die Wärme der Sonne, das Wasser, die klare Luft und das tägliche Brot, das wir zum Leben brauchen.

Wort zum Sonntag für 10.11.96


Ankommen

Joachim Krause, Schönberg

Morgen ist der vierte Sonntag im "Advent". Advent - das heißt "Ankunft". Die Advents-Zeit ist eine Zeit der Erwartung: da kommt etwas auf uns zu.
Ganz klar, werden Sie sagen. Weihnachten naht. Kein Fest sonst im Jahr kündigt sich so lange vorher an: schrill, grell, laut. Seit Oktober locken Schokoladen-Weihnachtsmänner und Lebkuchen im Supermarkt, süßliche Festmusik begleitet den Einkauf unter Flitter und Glaskugeln. Seit Ende November erstrahlen jede Nacht in übergroßer Helligkeit elektrisch bestückte Weihnachts-Bäumchen in Vorgärten und Lichterbögen in den Fenstern. Das Trommelfeuer der Fernseh-Werbung wird dichter, je näher das Fest rückt. Weihnachtsmänner hasten von Feier zu Feier, Probeläufe für das große Fest. Mancher erlebt die Zeit vor Weihnachten regelrecht als bedrohlich, getrieben vom hektischen Wettlauf um Geschenke oder von der Sorge um das Gelingen des traditionellen Festmahles.
Heißt das Advent: mit aller Macht rein ins Vergnügen? Ist da nicht etwas ver-rückt, der Sinn für wesentliches verstellt? Strample ich vielleicht mit viel Hektik und Einsatz und Aufregung und Machen und Organisieren im Laufrad, ohne je richtig bei Weihnachten anzukommen?
Die Adventszeit eröffnet mir die Möglichkeit, aus dem Kreisel meines hektischen Alltags auszusteigen, innezuhalten, zur Besinnung zu kommen. Kann ich das überhaupt noch: in mich hineinhören, aufmerksam sein, empfänglich auch für die leisen Töne? Advent ist für mich die Chance, bei mir selbst anzukommen, Bilanz zu ziehen. Wo stehe ich? Was ist mir in letzter Zeit gut gelungen, was ist daneben gegangen? Wohin treiben wir - ich, meine Familie, unsere Gesellschaft, unsere Welt? Und welche Ziele habe ich selbst, was im Leben ist mir wichtig, in welcher Zukunft möchte ich ankommen?
Zu mir selbst finden - das gibt mir auch Kraft, auf andere zuzugehen, mit Blick auf die Hoffnung von Weihnachten: Freundlichkeit unter den Menschen, das Warten und Vertrauen auf eine gute Zukunft und mein Einsatz dafür. Aufmerksam werden für das Kleine und Leise, für die Armen und Schwachen. Mit jedem Kind, das neu geboren wird, bekommt die Welt eine neue Chance, schon ein kleines Licht kann in großer Dunkelheit einen Hoffnungsschimmer bringen, beim Schein von zwei und drei Kerzen wächst die Zuversicht...
Noch ist Advent, Zeit, anzukommen. Zeit dafür, die vierte Kerze am Leuchter im Kreis der Familie anzuzünden, miteinander zu reden, mit den Kindern zu spielen, vielleicht ein weihnachtliches Lied nicht perfekt von der Schallplatte zu konsumieren, sondern eine Strophe mal wieder selbst zu versuchen, endlich einen lange aufgeschobenen Brief schreiben ...
Manchmal bin ich unseren Vorvätern dankbar, dass sie die Adventszeit weise so eingerichtet haben, dass mir vier Wochen lang Zeit bleibt, anzukommen - bei mir selbst und bei Weihnachten.

Wort zum Sonntag für 20./21.12.97



 

Nichts gelernt ?

Die Angst geht um. Eine neue Abkürzung haben wir in den letzten Wochen fürchten gelernt: BSE für Rinderwahnsinn. Oder ist es Menschenwahnsinn, der in der Gier nach dem schnellen Geld dazu verleitet hat, pflanzenfressende Rinder mit tierischen Schlacht-Abfällen zu mästen? Ist England nicht weit weg? Es rückt uns heute so unbequem nahe wie vor exakt zehn Jahren ein unbekannter Ort in der Ukraine. Damals loderte ein Höllenfeuer auf im Atomreaktor von Tschernobyl, der Mensch verbrannte sich die Finger am Feuer des Prometheus (1986 war übrigens auch das Jahr, in dem mit der US-Raumfähre Challenger die hochfliegenden Raumfahrtträume der Weltmacht USA in eine tiefe Krise stürzten; das Leben im Rhein wurde im gleichen Jahr durch die Folgen eines verheerenden Brandes in einer Schweizer Chemiefirma massiv geschädigt). Damals funktionierten die gleichen Mechanismen wie heute: Die Gefahren waren längst bekannt, wurden aber bis zum Tag der Katastrophe von vielen Verantwortlichen verdrängt, verharmlost, totgeschwiegen. Dann hatten die "Spinner" von gestern doch recht gehabt, hektischer Aktionismus brach aus, alle waren so aktiv, hatten es schon immer gewusst... Teure Notmaßnahmen. Aber gab es auch wirkliches Umdenken? Heute hören wir wieder lauter, dass Atomenergie unverzichtbar ist, damit in den reichen Ländern an der gewohnten Energieverschwendung festhalten werden kann, der üppige jährliche Fleischverzehr von fast zwei Zentnern pro Mensch in Deutschland wird wohl nur kurzfristige Einbrüche erleiden. Immer wieder und gern fallen wir auf neue Heilsversprechen herein und verschließen die Augen vor unseren schlechten Erfahrungen. Wir möchten ein erfülltes Leben haben. Aber was braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Wie wollen wir in Zukunft leben, und welche hoffnungsvollen Wege führen dorthin? Das ist eine spannende Frage, über die dringend geredet und gestritten werden müsste in unserer weithin orientierungslosen Gesellschaft. Manche bisherigen Maßstäbe haben sich als frag-würdig erwiesen: ist unser Handeln wirklich schon dadurch gerechtfertigt und wertvoll, wenn es schnell hohe Gewinne erbringt (wie die "Entdeckung" von Schafhirnen als Rinder-Futter), wenn es uns politische und wirtschaftliche Macht verleiht (wie die Nutzung der gewaltigen Kräfte der Kernspaltung)? Wenn wir nicht lernen, uns rücksichtsvoll in die Netze des Lebens einzufügen, beharrlich fragen, welcher Fortschritt notwendig ist (welche Not wird abgewendet?) und welche Mittel wir nach reiflicher Prüfung nutzen "dürfen" - dann werden uns in den nächsten zehn Jahren wohl neue Schrecknisse nicht erspart bleiben.

Wort zum Sonntag für den 14.4.96



 

Leben in Gottes guter Schöpfung

Joachim Krause, Schönberg

Ein Blick in den Kalender mahnt: Welt-Umwelt-Tag! Das ruft bei vielen sicher zuerst Schlagzeilen ins Gedächtnis zu "großen" Problemen, etwa zur Gefährdung des Welt-Klimas oder zu den aktuellen Sorgen mit Atom-Müll-Transporten.
Mir ist das Thema Umwelt in letzter Zeit in ganz anderer Weise begegnet. Es begann vor einigen Wochen. Eine neugierig-lärmende Kinderschar stieg aus dem Bus. Sie starteten zu einer Exkursion mit dem Thema "Unterwegs in Gottes Schöpfung". Die Bande stürmte als erstes zum Dorfteich, und entdeckte - gleich am Ufer hinter Margeriten und Glockenblumen im trüben Wasser - ein quirliges Leben. Das schwarz-braune Gewusel wurde mit dem Schrei "Kaulquappen!" identifiziert: wir standen vor der Kinderstube von Kröten und Fröschen. Für die meisten war das Staunen groß, hier gab es das wirklich "live", was sie nur aus Tierbüchern kannten oder im Unterricht hatten lernen müssen! Aufgeregt lagen bald die ersten jugendlichen Entdecker auf dem Bauch und teilten den anderen mit, was sich ihnen im flachen Wasser in immer größerer Vielfalt krabbelnd und schlängelnd und rudernd zeigte.
Meine Tochter hat mit mir noch am gleichen Abend ein altes Aquarium mit Steinen und Sand gefüllt und es wohnlich mit Wasserpflanzen eingerichtet. Dann wurden ein paar von den "Froschkindern" vorsichtig eingefangen und zusammen mit Schnecken, Wasserkäfern und weiteren Krabbeltieren in die neue Heimat umquartiert. Als Ehrengäste - und ziemlich mühsam zu fangen - nahmen wir noch ein Pärchen Teich-Molche mit. Das Männchen entpuppte sich als ein kampflustiger kleiner Drache mit gespreiztem Kamm, schwarz-weiß-gestreiftem Gesicht und einem himmelblau-orangenen Bauch. In den nächsten Tagen drückten neugierige Kinder sich die Nasen an der Glasscheibe platt. Eines Tages ein Schrei: das erste Froschbaby stützte sich auf zwei zarten Hinterbeinchen ab, die ihm über Nacht gewachsen waren. Wir haben im Familienkreis immer neu gestaunt, genauer hingesehen, schlaue Bücher gewälzt. Dann quakten - wie zur Mahnung - jede Nacht die Laubfrösche vom Teich herüber, lange und laut. Da haben wir alle unsere "Untermieter auf Zeit" wieder zurückgebracht, dorthin, wo sie leben, unbemerkt, unscheinbar, selten geworden, schützenswert. Bald werden die kleinen Frösche an Land klettern, um erst im nächsten Jahr wieder in das Gewässer ihrer Kindheit zurückzukehren.
Als die Kinder damals zum Teich gingen, standen an der Dorfstraße Schilder mit dem Hinweis "Kröten-Wanderung". Sie haben gewusst, was das bedeutet: dass wir Menschen Rücksicht nehmen müssen auf andere Lebewesen, dass uns die Bewahrung der Schöpfung aufgetragen ist.
Einmal im Jahr Welt-Umwelt-Tag? Jeder Tag ist ein Tag in Gottes guter Schöpfung. Um-Welt - das ist die vielfarbige, lebenspralle Welt um uns herum, in der und von der wir leben dürfen, Anlass zum Staunen, Anlass zu Dankbarkeit. Offene Sinne sind nötig: wertvoll und bewahrenswert ist uns wohl nur das, was wir auch selbst kennen, was wir bewundern und vielleicht sogar ein Stück lieben gelernt haben. Vielleicht lassen Sie sich demnächst auch von einem fragenden Kind neu die Augen öffnen, liegen zusammen mit ihm auf dem Bauch auf einer Wiese und spüren Käfern nach oder necken eine Eidechse, die sich auf einer Mauer sonnt.

"Wort zum Sonntag" für den 7.6.98



 

Überkommene Werte - unzeitgemäß ?

Joachim Krause, Schönberg
 

Sommerszeit. Urlaubszeit. Zeit zum zurücklehnen, entspannen, losgehen. Gottes gute Schöpfung genießen, mit offenen Sinnen Neues entdecken. Vielleicht haben auch Sie in den letzten Wochen vor einer majestätischen Gebirgskette gestanden, beeindruckt von ihrer gewaltigen Wucht und Schönheit. Vor mir liegt eine ganzseitige Werbe-Anzeige. Da ist eben solch ein Gebirgszug abgebildet, als schwarz-weiß-gezacktes Gipfelpanorama vor rotem Hintergrund. Und als Unterschrift steht da: "Wer hier eine Umsatzkurve sieht, denkt ein bisschen wie wir." Mich hat das erschreckt (und ich sollte ja wohl auch provoziert werden). Können mehr und mehr Mitmenschen die Welt wirklich nur noch so wahrnehmen, als Wirtschaftsstandort, als Quelle für Rohstoffe und Umsätze? Ist diese Welt nicht viel mehr? Ein vielgestaltiges Haus, prall gefüllt mit Leben, eine gute Heimat auch für uns Menschen. Ein tolles Geschenk, uns als Leihgabe anvertraut. Nach dem Verständnis der Bibel ist die Erde ein Garten, den der Mensch bebauen darf, den er aber zugleich als Garten bewahren soll, damit auch neue Generationen nach uns "gut leben" können. Mir scheint es eine gefährlich eindimensionale und kurzsichtige Perspektive, wenn der Wert dieses Gartens sich reduziert auf den Nutzen, den maximalen Profit, den wir kurzfristig daraus ziehen könnten. Bedeutet das nicht in der Konsequenz rücksichtslose Ausbeutung, die den Garten zur Wüste macht? Nach uns die Sintflut? Wollen wir das wirklich?
Mir jedenfalls geht beim Anblick der Alpen mehr und anderes durch den Kopf und durchs Gemüt als Umsatzkurven. Mir tun die Werbe-Macher leid, weil ihre Welt doch recht arm geworden ist. Aber auch um die Welt wird mir angst. Für mich zeigt sich eine gefährliche Verschiebung der Werte, auf denen bisher das Zusammenleben unserer Gesellschaft ruht. Wir geraten auf eine schiefe Bahn.
Die gleiche Firma wirbt in ihrer Anzeigen-Serie mit einem zweiten Bild. Es zeigt zwei eisenbewehrte Ritter im tödlichen Kampf mit der Lanze, dazu als Kommentar die Unterschrift: "Du sollst begehren deines Nächsten Marktanteil." Ganz offenkundig eine Anspielung auf die Zehn Gebote in der Bibel, von denen einige mit den Worten beginnen: "Du sollst nicht begehren..." Uralte Spielregeln, die das Zusammenleben von Menschen sozial erträglich machen. Die Zivilisation Mitteleuropas hat ihre bisherige Stabilität auch daraus gewonnen, dass eine Mehrheit sich an solche Regeln gebunden fühlt. Treiben wir jetzt in eine Gesellschaft, in der mit Hauen und Stechen Platz gemacht wird für die Sieger, die Starken, die Schnellen? Wo Gewinner sind, gibt es immer auch Verlierer. Das sind die Schwächeren, die heute schon durchs soziale Netz fallen, das sind die nach uns kommenden Generationen, das ist die stumme Natur, in der und von der wir leben. Und um ihretwillen bleibt für mich sehr zeitgemäß, was die Bibel uns an Wegweisung fürs Leben vermitteln will (nachzulesen im 1.Buch Mose, 2. Kapitel, und im 2.Buch Mose, 20. Kapitel).

Wort zum Sonntag 17.8.97


Zu Besuch bei Erna

Joachim Krause, Schönberg

Ein Brett knarrte. Irgend jemand kam die steile Treppe herauf. Erna war aufgeregt. Mit Besuch hatte sie nicht gerechnet. Zu dem mit Holz verkleideten Verschlag, in dem sie sich auf dem Kirchturm eingerichtet hatte, verirrte sich höchst selten jemand. Mißtrauisch richtete sie ihre dunklen Augen auf den Spalt, hinter dem plötzlich ein neugieriges Kindergesicht auftauchte. Begeistertes Flüstern: „Guck mal: sie sind ausgeschlüpft, ... drei, vier, fünf!“ Tatsächlich: Fünf Turmfalken-Kücken reckten als graue Flaum-Bällchen neugierig hinter ihrer Mama die Hälse. Der Aufstieg mit meiner Familie hatte sich diesmal endlich gelohnt, nun konnten wir alle vorsichtig und staunend das neue Leben besichtigen.
Die Geschichte mit „Erna“ hatte ein paar Monate vorher begonnen. Auf unserem alten Kirchturm herrschten ärgerliche Zustände. Tauben hatten sich auf dem Glockenboden breit gemacht, überall Dreck, Federn, Gestank. Die einfachste Lösung wäre gewesen, alle Öffnungen zu verrammeln und zu vernageln. Aber dann hätten die Turmfalken und die Schleiereulen - die seit vielen Jahren auf dem Turm ansässigen stillen „Untermieter“ der Kirchgemeinde - auch hier noch ihre Schlaf- und Brut-Plätze verloren. In unseren Dörfern sind den letzten Jahrzehnten, teils aus Gedankenlosigkeit und manchmal aus übertriebener Ordnungsliebe, viele Einflugöffnungen in alten Scheunen und Dachböden mit Fenstern verschlossen oder einfach zugemauert worden. Dabei werden nicht nur die gefiederten nützlichen „Gäste“ heimatlos; mit ihnen geht jedes Mal auch ein Stück der Fülle des Lebens um uns Menschen herum verloren. Albert Schweizer hat einmal gesagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Wir Menschen sind nur eine Faser im Netz des Lebens, und unser Dasein ist trotz allen technischen Fortschritts auch weiterhin davon abhängig, daß grundlegende Lebens-Beziehungen nicht zerstört werden. Und manchmal ist dabei auch unsere Solidarität mit den schwächeren Mitgeschöpfen gefordert. Was konnte das ganz konkret und praktisch in unserem Fall bedeuten?
Wir haben erst mal im Frühjahr einen erfahrenen Vogelkundler befragt, welche Ansprüche unsere möglichen „Untermieter“ wohl haben würden. Dann wurden alte Bretter passend zurecht geschnitten, daraus zwei geräumige Kisten zusammen genagelt und hinter den (inzwischen gegen die Tauben abgedichteten) Fensterläden aufgehängt. Mieter-Werbung war unnötig! Schon am zweiten Tag saß ein Turmfalken-Männchen in der Fensternische vor dem Kasten und bewachte seine neue Wohnung eifersüchtig. Ein paar Wochen später lag das erste braun-gesprenkelte Ei im Kasten, einfach so auf dem nackten Boden, und wenig später hockte Frau Turmfalke breit und behäbig auf dem Nest - anzusehen wie ein Huhn, was ihr den Namen „Erna“ einbrachte.
Der Blick auf das graue Kücken-Gewusel in Ernas Kiste auf dem Kirchturm macht mich dankbar und gibt mir Hoffnung. Neues Leben, das den Schutz der alten Mauern braucht... Wir werden in einigen Wochen noch einmal auf den alten Kirchturm steigen. Noch eine Etage höher, ganz oben im Turmkopf, hat Mutter Schleiereule ein Ei nach dem anderen gelegt. Stück für Stück Wille zum Leben.
 

Wort zum Sonntag für den 5./6.6.99


Alles Gute ?

Joachim Krause, Schönberg

Erst wenige Wochen ist es her, zum Jahreswechsel war die Welt voller guter Wünsche. Andere haben sie uns über die Straße zugerufen, wir haben Freunden die Hände gedrückt: „Alles Gute!“
Was haben wir da eigentlich gemeint? Manchmal vielleicht Bestärkung: Möge dir das gelingen, was du anstrebst. Manchmal sind es wohl unerfüllte Sehnsüchte, die Ahnung davon, dass umfassendes Lebensglück immer ein unerreichbares Ziel am Horizont bleibt, unsere Wünsche als Richtungsanzeige.
Neulich saßen wir in einer gesprächigen Runde zusammen, und einer fragte: Was heißt das eigentlich für mich, für dich ganz konkret, gut leben, was macht ein gutes Leben, ein sinn-erfülltes Dasein aus? Einige benannten ganz spontan Erfahrungen und Momentaufnahmen aus ihrem Leben, andere packten langsamer, zum Teil aus tiefer Nachdenklichkeit heraus, ihre Bilder und Träume dazu: Gesundheit, Geborgenheit und Gemeinschaft in der Familie und bei Freunden, Gebrauchtwerden am Arbeitsplatz, ein sinnvoll gefüllter Tageslauf, Sich-satt-essen-können... Lag es an der Fragestellung, dass der anstehende Autokauf oder die neue Kücheneinrichtung nicht vorkamen? Wenn man in sich hineinhorcht auf die Frage: wann bist du eigentlich glücklich, was brauchst du zu allererst zum „guten Leben“, dann wird plötzlich Lebens-Qualität wichtig, Werte und Beziehungen kommen in den Blick, die man nicht haben, nicht kaufen und organisieren kann.
Natürlich war uns in der Runde klar: zum guten Leben gehören auch „Güter“, materielle Dinge, die unsere Existenz sichern, etwa eine intakte lebenswerte Umwelt mit sauberer Luft und klarem Wasser, das tägliche Brot, ein dichtes Dach überm Kopf, Kleidung, auch arbeits-erleichternde Technik. Aber vielleicht kommt uns in den reichen Ländern immer mehr das Gespür dafür abhanden, welch ein Geschenk es ist, das alles jeden Tag und oft im Überfluß zu haben. „Gutes Leben“ hat auch etwas mit „Güte“ zu tun: mir wird geschenkt und ich darf weiter-geben.
Aber Sich-begnügen, genug-haben erscheinen vielen doch als veraltete Tugenden. Bedeutet es nicht gerade ein gutes Leben, wenn ich immer mehr habe, schneller-höher-weiter wie im Sport? Aber wenn dann mein Kontostand, die Dax-Kurve im Fernsehen oder das Brutto-Sozialprodukt des Landes auf das Doppelte geklettert ist, bin ich dann auch wirklich doppelt so glücklich? Zerstört nicht gerade auch meine Gier, immer mehr von den Schätzen dieser Welt zu besitzen, die Lebensgrundlagen und die Zukunftschancen meiner eigenen Kinder?
Ich möchte kein Hamster im Laufrad sein, dem in der Hast des Alltags nach und nach die eigentlich wesentlichen Ziele seines Lebens abhanden kommen. Arbeit, Geld und Güter sind unverzichtbar, aber sie haben dienende Funktion - das gute Leben ist das Ziel.
Und davon möchte ich jeden Tag ein Stück mehr gewinnen.

Wort zum Sonntag für die FREIE PRESSE vom 6.2.2000


„Die Schwalben sind weg!“

Joachim Krause, Schönberg
 

„Haben Sie´s auch gemerkt: die Schwalben sind schon weg - das wird ein kalter Winter“, so begrüßte mich neulich eine alte Bäuerin. Ich hatte den Abflug der Schwalben nach Süden nicht bemerkt. Es macht mich schon nachdenklich, wie unaufmerksam, fast taub und blind, ich oft durch diese Welt eile. Es ist also schon wieder Herbst. Der frühe Einbruch der Dunkelheit erinnert daran, der lästige Regen, die letzten Äpfel, die noch gepflückt werden wollen, die Netze der Spinnen in jedem erreichbaren Winkel. Für manche eine graue, dunkle Jahreszeit. Aber sie hat auch andere Facetten: Es ist die Zeit der Ernte, der Bilanz. Vielleicht kennen Sie das gute Gefühl, endlich die eigenen Kartoffelknollen aus der Gartenerde zu graben, einen armdicken Strauß farbenprächtiger Blumen ins Haus zu tragen, die Sie selbst monatelang gehegt und gepflegt haben. Um „meine“ Äpfel habe ich mich gar nicht gekümmert - und trotzdem ist die Ernte überreich ausgefallen. Das war ein richtiges kleines Fest, in der Herbstsonne auf einer Kiste sitzend in den ersten knackigen Apfel zu beißen! Ich war in diesem Moment dankbar, einfach da zu sein, leben zu dürfen als Geschöpf unter anderen Geschöpfen. Mir ist bewußt geworden, wie sehr ich abhängig bin. Ich kann nichts dazu tun, daß die Jahreszeiten zuverlässig wechseln, daß Regentage und Sonnenglut in eine sinnvolle Balance gebracht werden; aber ich kann darüber staunen. Saubere Luft zum Atmen, klares, gutes Wasser zum Trinken, gedeihliches Klima, in dem unser tägliches Brot wachsen kann - das alles ist da, vielleicht zu selbstverständlich, als daß ich mir bewußt mache: das alles ist ein Geschenk. Christen feiern in dieser Einsicht im Herbst das Erntedankfest, dankbar dafür, daß menschliches Mühen nicht umsonst war, und daß der Wille Gottes dazukam, diese Welt und das Leben auf ihr weiter zu erhalten. Im Kreislauf des Jahres, des Lebens hat alles seinen Sinn, auch der Herbst als die Zeit der Fülle, aber auch der Vergänglichkeit und des Übergangs in die Ruhe des Winters. Der Boden braucht den Regen, der mich manchmal stört, und speichert ihn. Auch die unscheinbaren Spinnen, die jetzt mit tausend Wunderwerken die Welt schmücken, haben ihren Platz und ihre Aufgabe im großen Netz des Lebens - und sie sind Leben mit eigener Würde und eigenem Wert. Auch die letzten Äpfel in meinem Garten werde ich noch pflücken und in die Mosterei bringen; mich schmerzt es, wenn jetzt mancherorts diese Geschenke achtlos unter den Bäumen verkommen.
Die Schwalben werden im Frühjahr zurückkehren. Die Apfelbäume werden blühen und wieder Früchte bringen. Es wird manchmal regnen, und Spinnen werden ihre Netze bauen. Beweisen kann ich das nicht. Aber ich habe Vertrauen und Hoffnung, daß die Zusage Gottes für unsere Welt weiter gilt: „...es soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Wort zum Sonntag Freie Presse Glauchau 3./4.10.1998


Leben braucht viele Farben

von Joachim Krause, Schönberg

Manche Lebensgeschichte macht einem ganz schön zu schaffen! Da kommt ein Junge zur Welt. Schon frühzeitig entdecken die Eltern, daß sich ihr Kind nicht normal entwickelt. Bald stellen die Ärzte eine erschreckende Diagnose. Der Junge leidet an der sogenannten Glasknochenkrankheit, einer Erbkrankheit, die seine Knochen immer wieder brechen läßt. Er bleibt ein Zwerg, wird nicht einmal einen Meter groß. Wegen seiner Behinderung kann er nur selten die Schule besuchen. Immer ist er auf Prothesen und die Hilfe anderer angewiesen. Schließlich endet sein beschwerliches Dasein früh, im 36. Lebensjahr: er stirbt an einer schweren Lungenentzündung.
Ein schweres Schicksal. Und sinnlos dazu, sagt mir der Zeitgeist: Zum Glück kann die moderne Medizin solche schweren Erbleiden heute schon vor der Geburt feststellen; die Schwangerschaft kann abgebrochen werden, um dem Betroffenen und seiner Familie solches Leid zu ersparen...
Wir lesen die Lebensgeschichte dieses Menschen noch einmal. Zu der Biographie gehört ein Gesicht. Und dazu gehört ein Name. Michel Petrucciani wurde 1962 in Frankreich als Sohn eines sizilianischen Jazzmusikers geboren. Bereits mit vier Jahren entdeckte der Junge seine Liebe zum Klavierspiel. Obwohl er in seiner körperlichen Entwicklung zurückgeblieben war, bestand er hartnäckig darauf, daß seine Eltern ihm ein richtiges großes Klavier kauften. Und fortan übte Michel hartnäckig, bis zu acht Stunden täglich. Sein Körper machte es ihm dabei nicht leicht. Michel Petrucciani war schwer behindert. Er litt an der „Glasknochenkrankheit“, die er in seinem Erbgut trug. Die Krankheit machte ihn zum Zwerg. Aber er kompensierte seine körperlichen Probleme und den Spott der Nachbarskinder, indem er zu Hause lernte, mit einem eisernem Willen. Und er stürzte sich in seine Musik. Dabei hatte Petrucciani es für einen Pianisten eigentlich viel zu schwer. Aber seine Hände und Arme hatten glücklicherweise fast das übliche Maß, so daß er die 88 schwarzen und weißen Tasten spielend erreichen konnte. Um an die Pedale zu gelangen, brauchte er eine Spezialmechanik. Aber er wollte spielen, und da ging es auch irgendwie. Sein erstes Konzert gab Michel mit 13 Jahren. Er hatte eine klassische Klavierausbildung genossen, aber bald wurde ihm klar: seine eigentliche musikalische Welt war der Jazz, und als er 18 Jahre alt war, ging er nach New York. Er beherrschte sein Piano so meisterhaft, daß er bald mit den tollsten amerikanischen Jazz-Musikern auftreten konnte. Sie wußten seine Leidenschaft und Virtuosität zu schätzen, seine phantasievollen Improvisationen, seinen mitreißenden Swing. Wenn Michel Petrucciani auf seinem erhöhten Hocker saß und sich weit nach links oder rechts strecken mußte, um die tiefen oder hohen Tasten zu erreichen, bangten seine Zuhörer oft, ob er den ständigen Kampf gegen seine Behinderung gewinnen könnte. Aber seine Glasknochenkrankheit hatte ihn zwar zerbrechlich, aber gleichzeitig auch stark gemacht.
Michel Petrucciani war neugierig auf das Leben. Er hat Spaß gesucht und Freude ausgestrahlt. Er hat sich wohlgefühlt in der multikulturellen Gemeinschaft seiner Künstlerkollegen, gerade weil sie alle so verschieden waren, hat mit ihnen gern auch ein Glas seines geliebten französischen Rotweins getrunken. Er war verheiratet und hat mit seiner Frau ein Kind gehabt.
Vor einem Monat ist Michel Petrucciani gestorben. Viele Menschen, die seine Musik hören durften, die ihn im Fernsehen erlebt haben, sind dankbar: dafür, daß er leben durfte und mit seinen Begabungen unsere Welt ein Stück farbiger gemacht hat.

Wort zum Sonntag für FREIE PRESSE 6./7.2.1999
 


Lebens-Fragen

Joachim Krause, Schönberg

Urlaub. Hitze. Eisdiele. Das 12-jährige Töchterchen saugt nachdenklich an seinem Trinkhalm und fragt so nebenbei: „Papa, was ist das eigentlich - Gentechnik?“. Ein bißchen schwergewichtig, diese Frage, und hier in versandeter Badekleidung nicht angemessen zu klären. Aber 14 Tage später, zu Hause auf dem Sofa, versuchen wir beide es doch. Wir blättern in Büchern, Skizzen werden gekritzelt. Wir staunen über die Einsichten von Wissenschaftlern, die in den letzten hundert Jahren das Geheimnis des Lebens Stück für Stück enträtselt haben. Der Körper eines Menschen besteht aus etwa hundert Billionen Zellen (eine 100 mit zwölf Nullen!). Jede Zelle enthält einen Zellkern, in dem jeweils die gesamte „Bibliothek des Lebens“ zusammengepackt ist, verteilt auf 46 Chromosomen (wir stellen sie uns als Bücherregale vor). Sie geben, wenn man sie aufdröselt, die Erbsubstanz frei - eine Art endlose Perlenschnur aus vier verschiedenfarbigen Bausteinen, auf der in der „Sprache“ chemischer Moleküle eine Bauanleitung an die andere gefügt ist, Anweisungen, die festlegen, wie unser Organismus aufgebaut ist und wie sein Stoffwechsel funktioniert. „Gene“ - so nennt man die einzelnen Baupläne in der Erbsubstanz von Lebewesen. Sie steuern in erstaunlicher Genauigkeit und Ausgewogenheit alle Lebens-Prozesse.
Seit Biologen ergründet haben, wie das Leben in der Natur auf der Stufe seiner kleinsten Bausteine funktioniert, eröffneten sich atemberaubende Möglichkeiten: zielgenau in Lebensprozesse einzugreifen, sie zum Wohle des Menschen zu nutzen und zu verändern. „Gentechnik" ist eine Werkzeugkiste - damit könnte man zum Beispiel ein „fehlerhaftes“ Stück Erbsubstanz aus der Perlenkette ausschneiden oder an anderer Stelle ein „fremdes“ Gen mit neuen erwünschten Eigenschaften zusätzlich einfügen. „Ist das gefährlich?“, fragt die Tochter. Eine einfache Antwort gibt es nicht. Wir sprechen über einen schwerst zuckerkranken Jungen aus ihrer Klasse, der sich mehrmals täglich INSULIN spritzt, ein lebensrettendes Medikament, hergestellt mit Hilfe von gentechnisch veränderten Bakterien. Wir lesen in der Zeitung, daß man vielleicht bald Menschen züchten kann, deren Erbanlagen „verbessert“ wurden- da ist uns beiden auf dem Sofa doch ziemlich bange zumute. Ich habe später noch in der Bibel geblättert. Ist Gentechnik als „Eingriff in die Schöpfung“ eindeutig verboten? Entdeckt habe ich unterschiedliche Anstöße zum Nachdenken: Mahnung zu Ehrfurcht und Zurückhaltung angesichts der wundervollen Gabe des Lebens, Ermutigung für den Menschen, seine geschenkten Begabungen zu nutzen und die Welt zu gestalten (als Garten bebauen und bewahren), aber auch Warnung vor Überschätzung oder Mißbrauch der eigenen Fähigkeiten. Zwischen Chancen und Gefahren beim Umgang mit den neuen Techniken müssen wir wohl selbst lernen uns in Verantwortung zurecht zu finden. Es geht immerhin um Lebens-Fragen.

„Das Geistliche Wort“ Freie Presse Glauchau 2./3.9.2000
 
 
 


Loslassen

Joachim Krause, Schönberg
 

Neulich bin ich nachts gegen 4 Uhr aufgewacht. Und dann habe ich gewartet auf das, was immer um diese Zeit passiert: daß der alte Trabi vorfährt, daß später in der Wohnung die Türen klappen, geschäftiges Teller-Klappern in der Küche einsetzt. Ich wollte mich wie immer kurz ärgern - aber es ist diesmal still geblieben.
Eigentlich hatten wir uns schon fast damit abgefunden, mit den Turbulenzen, die das Zusammenleben mit erwachsen werdenden Kindern bringt. Manchmal kann einen das schon nerven, diese Zeit des Selbstständig-Werdens, die quälend langen Monate zwischen Schule und Bundeswehr und Beruf und Studium. Wenn die groß gewordenen „Kinder“ zwar noch im elterlichen Hause sind, aber so ganz anders leben, ihren völlig eigenen Rhythmus haben, nachts spät oder gar nicht nach Hause kommen, dafür mittags noch im Bett liegen. Computer-Parties, Disco, Sport - immer unterwegs, nie richtig zu greifen, für häusliche Pflichten schon gar nicht zu begeistern. Manchmal kommen wir Eltern uns ein wenig vor wie Verpflegungsstelle und Hotel und Wäsche-Service: alles organisieren, aber ja keine Fragen stellen oder Ratschläge geben! Die bange Frage taucht auf: Haben wir was falsch gemacht? Und dann wünscht man den Kindern (und sich selbst): Flieg doch endlich aus, bloß raus aus dem Nest, mach endlich alleine, was dir Spaß macht...!
Und eines Tages ist es dann wirklich so weit. Der Termin für den Studienbeginn oder die Aufnahme einer „richtigen“ Arbeit ist da. Umzug, ein eigenes Zimmer ist gemietet. Im bisherigen Kinderzimmer wird sortiert und ausgemistet. Wäsche und andere nützliche Dinge wandern päckchenweise aus dem Haus. Anderes nimmt seinen Weg auf den Dachboden, dorthin, wo schon das alte Spielzeug aus Kindertagen liegt, wo die Schulhefte verstauben - Erinnerungen an frühere Abschiede.
Elterliche Augen verfolgen aufmerksam jeden Schritt (sie dürfen sich´s nur nicht anmerken lassen!). Bange Fragen: Was erwartet unsere Kinder da draußen? Haben wir sie genügend darauf vorbereitet, nun auf eigenen Füßen zu stehen, wirklich für sich selbst verantwortlich zu sein?
Und was wird aus uns Zurückbleibenden? Der Abschied war ersehnt und doch ist er schmerzlich. Bedeutet der frei gewordene Platz am Tisch mehr Erleichterung und Freiheit, oder ziehen auch Leere und Einsamkeit ein?
Abschied nehmen, loslassen, Neues beginnen - das gehört zum Kreislauf des Lebens.
Mach´s gut, „Kind“, du darfst gehen, du wirst ankommen, unsere Gedanken begleiten dich und gute Wünsche sowieso.
Wir halten erst einmal ein Zimmer und ein Bett frei. Vielleicht schreckt uns demnächst nachts wieder das Trabi-Geräusch hoch. Dann wird auf jeden Fall vieles anders sein.

Wort zum Sonntag für den 9./10.10.99


Mir geht’s gut

Joachim Krause, Schönberg

Treffen mit alten Freunden nach vielen Jahren. Einer kommt auf mich zu. Die übliche Frage: „Na – wie geht’s?“ Und meine Antwort: „Danke. Mir geht’s richtig gut!“ Dann erschrecke ich über mich selbst. Darf ich das überhaupt noch so fröhlich sagen, seit sich die Rauchschwaden von Manhattan als dunkler Schleier über die Welt gelegt haben?
Aber vielleicht wird mir ja erst in solchen schlimmen Erfahrungen richtig bewusst, welchen Wert der ganz normale Alltag hat. Welches Glück es bedeutet, abends satt ins Bett zu gehen, morgens gesund aufzuwachen, sich mit Kindern und Nachbarn einigermaßen gut zu verstehen...
Was brauche ich eigentlich, um ein menschenwürdiges, sinnerfülltes, glückliches Dasein zu führen? Ich schlage bei einem „christlichen Weisen“ nach, bei Martin Luther. Er hat vor einem halben Jahrtausend seine Einsichten niedergeschrieben, was zum „täglichen Brot“, zur Grundausstattung gehört, was „not tut“ für ein gelungenes Leben. Er benennt zunächst handfeste Dinge wie „Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut“, weiß aber darüber hinaus auch vom Wert guter Beziehungen zu „Eheleuten, Kindern, Gehilfen“, vom Segen einer „guten Regierung“, und er nennt weiter: „gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn...“
Wenn ich meinen Lebens-Alltag damit vergleiche, darf ich wohl einfach nur dankbar sein, denn das meiste davon erlebe ich ganz selbstverständlich, jeden Tag. Mir geht’s wirklich gut. Und bei näherem Hinsehen entdecke ich: Vieles davon ist ein unverdientes Geschenk. Es ist nicht mein Verdienst, dass ich vor 50 Jahren in Deutschland zur Welt kam und nicht in einem palästinensischen Flüchtlingslager geboren wurde. Dass es für mich immer genug zu essen gab, ein dichtes Dach über dem Kopf, Chancen auf Bildung und einen Arbeitsplatz. Dass ich an einem sonnigen Oktobertag oben auf der Leiter stehe und in einen saftigen Apfel beiße, abends mit Freunden beim Rotwein sitze.
Dankbarkeit – und zugleich Schmerz, der herausfordert: Da ist das Foto mit dem verzweifelten Vater in Afghanistan, der sein verhungerndes Kind im Arm hält. Ihnen geht’s überhaupt nicht gut, ihre alltägliche Erfahrung sind Armut, Terror, Krieg. Bin ich, sind wir in einem der reichsten Länder der Welt da nicht aufgefordert, unseren Überfluss mit anderen zu teilen, uns nicht hinter militärischen Schutzschilden auf unseren Inseln des Wohlstands zu verschanzen, sondern unseren Nachbarn auf dem klein gewordenen Planeten Erde „den Frieden zu erklären“, auch für uns bisher fremde Menschen „gute Nachbarn“ zu sein?

„Geistliches Wort“ für die FREIE PRESSE Glauchau vom 6./7.10.2001


Schwein gehabt ?

Joachim Krause, Schönberg

„Wir haben wieder mal Schwein gehabt!“, so meinte vor Jahren ein Freund. Wir standen fröstelnd am Gartenzaun und staunten über die ersten Blüten, die sich der März-Sonne entgegen streckten. Das Leben, monatelang erstarrt und scheinbar erstorben in der winterlichen Kälte, nun war es doch wieder erwacht. Der Rhythmus des Jahres stimmte auch in diesem Frühling wieder. Das machte uns dankbar.
In den vergangenen Jahren haben die Haselnusssträucher immer schon im Januar geblüht, die letzten echten Blüten des 2000er Jahres waren noch im Dezember in den Gärten zu bestaunen. Eisblumen an den Fensterscheiben dagegen hat´s lange nicht mehr gegeben. „2000 war das wärmste Jahr des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland“, „Sächsische Störche fliegen im Winter nur noch bis Spanien“. Solche Schlagzeilen machen mich unruhig. Kommt der Rhythmus des Lebens aus dem Tritt? Sind die schneearmen Winter, die trockenen heißen Sommer die ersten spürbaren Anzeichen dafür, dass unser Klima sich verändern könnte? Das Klima, dieser große weite Rahmen des Naturgeschehens, der unsere Lebensbedingungen bestimmt. Die unerlässliche Voraussetzung dafür, dass unsere empfindsamen Getreidepflanzen zum täglichen Brot heranwachsen können, dass unsere Wälder grün bleiben. Tiere haben sich eingerichtet in diesem Rahmen, sie überstehen unwirtliche dunkle Zeiten im Winterschlaf oder fliehen ins Wärme-Exil nach Süden. Kommen jetzt die großen Gleichgewichte ins Wanken, von denen letztlich nicht nur die Natur um uns herum, sondern auch unser Leben abhängt?
Wissenschaftler mahnen schon länger. Es ist nicht mehr zu übersehen: Der Mensch nimmt messbar Einfluss auf das Klima-Geschehen. Die Ursache liegt vor allem in unserem Umgang mit Energie. Auf der Suche nach einem Leben mit immer mehr Komfort und im Streben nach kurzfristigem Gewinn greifen wir Menschen tief in Naturzusammenhänge ein. Und wir erleben immer öfter, dass die Natur aus dem Tritt kommt, dass Fehlentwicklungen auf uns selbst zurückschlagen (auch das Erschrecken über BSE ist eine solche schmerzliche späte Einsicht). Muss es erst richtig weh tun, ehe wir begreifen und unser Leben ändern? Können wir uns immer so selbstverständlich darauf verlassen, dass wir schon „Schwein haben“ werden? Als Martin Luther vor 500 Jahren darüber nachgedacht hat, was ein Mensch als „tägliches Brot“ braucht, um „gut leben“ zu können, nannte er - neben Essen und Trinken, einem dichten Dach über dem Kopf und getreuen Nachbarn - auch „gut Wetter“. Da steckt die Einsicht drin, dass wir abhängig sind und bleiben davon, dass die Rahmenbedingungen für Leben einfach „da sind“, und Dankbarkeit, wenn uns das überraschend immer neu geschenkt wird. Und auch eine Mahnung gehört wohl dazu: dass wir Menschen nicht gewalttätig in die Rhythmen und Ordnungen des Lebens eingreifen sollen.

„Geistliches Wort“ für die FREIE PRESSE vom 28.1.2001


Neugierig bleiben

von Joachim Krause, Schönberg

Jahreswechsel. Die Familie ist wie jedes Jahr hinaufgestiegen in das Gebälk des Kirchturms zum Glockenboden. Mitternacht. Zwölf Mal dröhnt der schwere metallene Stundenschlag. Aus Gestern wird Morgen. Und dann ziehen wir an den alten Seilen, das Töchterchen und ich, und bringen die Glocken zum Schwingen und Singen. Wir begrüßen das „Neue“ - noch liegt die Zukunft, jenes „unentdeckte Land“, im Dunkel...
Kindern ist diese Situation vertraut. Sie sind ständig auf Entdeckungsreise, möchten mehr von der Welt verstehen, sich zurechtfinden, ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen erkunden. Warum? Wie? Was? Ihre Welt besteht aus Fragen. Aber finden sie immer jemanden, der auch zuhört, bereit ist, sich mit ihnen auf die Suche zu begeben? Wie oft habe ich gerade keine Zeit für solche nervenden Kinder-Fragen. Oder ich weiß sie zu schnell, die perfekte Antwort, die die kindliche Neugier tötet. Dabei hat mancher unscheinbare Schatz an Lebenserfahrung, den ich als Kind selbst entdecken durfte und mühsam ausgegraben habe, viel mehr Wert für mich als die vielen klugen Patentrezepte, die andere mir lebenslang überstülpen wollen. Und für solche Erfahrungen bleibt sie wichtig, die elterliche oder großelterliche geschenkte Zeit: Für Gespräche über Gott und die Welt in der Kuschelecke auf dem Sofa oder draußen unter dem Sternenhimmel. Für das gemeinsame Stöbern im alten Lexikon oder im Internet, um wichtigen und halbwichtigen Dingen auf den Grund zu gehen. Oder wenn da in den Fernseh-Nachrichten ein Begriff vorkommt, den wir nicht zuordnen können – Alarm, Neugier-Alarm! Es macht einfach einen großen Unterschied, ob ich etwas aus eigenem Antrieb wissen will, oder ob ich etwas wissen muss. Lernen, die Welt und das Leben begreifen - das kann Spaß machen. Auch in der Schule. Aber dort wie in der Familie brauchen meine Kinder erwachsene Begleiter, die nicht verlernt haben, selbst neugierig zu sein. Die erwartungsvoll in jeden neuen Tag hineingehen, die keine fertigen und endgültigen Antworten haben, die bereit sind, auch an fremde Türen zu klopfen, immer auf der Suche, in ihrem Leben noch eine neue Saite zum Schwingen zu bringen. Wenn wir Alten aber zu satt und bequem geworden sind, Fragen uns nur noch beunruhigen und den gewohnten Trott stören, dann geht der Kontakt zum quirligen Leben da draußen mit seinen vielen Überraschungen verloren. Erstickte Phantasie im Spielzeug-verstopften Kinderzimmer, erstorbene Gespräche in der Fernseh-Familie, „Null-Bock“-Stimmung als Gruppennorm schon in der Schule – das macht nicht fit für die Zukunft. Es braucht offene Türen und offene Sinne, wenn wir erfahren wollen, was in uns selbst steckt und was die Welt für uns bereit hält und von uns erwartet...
Die Glocken über uns schwingen aus, Umarmungen, Glückwünsche. Alles Gute, Kind. Bleib neugierig. Lebenslänglich. Das ist keine Strafe, sondern ein Geschenk.

„Geistliches Wort“ in der FREIEN PRESSE Glauchau 19./20.1.2002