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WORT ZUM SONNTAG
© Joachim Krause 2003
Lebenszeichen
Joachim Krause, Schönberg
Ich war unterwegs, hastete auf dem Feldweg
über die kahle Höhe. Meine Mütze musste ich festhalten. Ich stemmte mich gegen
den Wind. Einzelne Regentropfen peitschten ins Gesicht. Blätter trieben vorbei.
November eben, trüb und grau. Das schlägt auf die Stimmung. Auch der Horizont
war wolkenverhangen, als ich dort die vertrauten Pyramiden erblickte: schwarze
spitze Kegel, jeder einzelne Berg größer als die Vorbilder in Ägypten. Es sind
Halden, die der Uran-Bergbau der WISMUT in unserer Region hinterlassen hat. Sie
passten ins Bild meiner November-Stimmung: als Sinnbilder, als Mahnmale für den
Machtwahn und die Maßlosigkeit des Menschen. Den Frieden sichern durch
Atomwaffen, unerschöpfliche Energien haben durch die Kraft der Kernspaltung -
wir haben schmerzlich erfahren, welch hoher Preis dafür gezahlt worden ist:
verwüstete Heimat, geschädigte Menschen, gefährdete Umwelt.
Aber das gewohnte Bild stimmte nicht mehr. Da
war etwas in Bewegung gekommen. Weiß schimmernd drehte sich neben der Halde ein
großes Windrad. Es fing mit seinen Flügeln die Kraft des Novembersturms ein,
der seit Jahrtausenden ungenutzt vorbeigeweht war (ich habe nachgefragt:
ganzjährig fängt die Windmühle eine Energiemenge ein, die ausreicht, um 300
Haushalte mit Strom zu versorgen).
Mich hat dieser Kontrast nachdenklich gemacht.
Die starren dunklen Zeugen der Vergangenheit und daneben nun Bewegung - Zeichen
für Aufbruch, für Veränderung, für Leben... Ähnlich fröhlich war mir damals als
Kind zumute, als ich ein buntes Rädchen in die Luft hielt und staunte, dass
ohne mein Zutun etwas geschah (das ging ohne Batterie und Fernsteuerung), das
Spielzeug scheinbar lebendig wurde.
Eine Reaktion da draußen im Novembersturm war
Dankbarkeit. Diese Welt hält viele Schätze für uns bereit, die wir entdecken
und mit Augenmaß auch nutzen dürfen. Es ist für uns gesorgt. Unsere Märchen
wissen es: auch der Wind ist ein himmlisches Kind... Und an Bescheidenheit habe
ich denken müssen: Unter dem Windrad wird nicht das Schlaraffenland sein, nicht
alle unsere Blütenträume werden reifen. Aber es könnte genug sein für ein
erfülltes menschenwürdiges Dasein. Vielleicht wäre es gut, wenn wir für die Zukunft
lernen, mit dem zu leben, was uns die Schöpfung auf Dauer zuverlässig zur
Verfügung stellt: wie den Wind, das Licht und die Wärme der Sonne, das Wasser,
die klare Luft und das tägliche Brot, das wir zum Leben brauchen.
Wort zum Sonntag für 10.11.96
Ankommen
Joachim Krause, Schönberg
Morgen ist der vierte Sonntag im
"Advent". Advent - das heißt "Ankunft". Die Advents-Zeit
ist eine Zeit der Erwartung: da kommt etwas auf uns zu.
Ganz klar, werden Sie sagen. Weihnachten naht.
Kein Fest sonst im Jahr kündigt sich so lange vorher an: schrill, grell, laut.
Seit Oktober locken Schokoladen-Weihnachtsmänner und Lebkuchen im Supermarkt,
süßliche Festmusik begleitet den Einkauf unter Flitter und Glaskugeln. Seit
Ende November erstrahlen jede Nacht in übergroßer Helligkeit elektrisch
bestückte Weihnachts-Bäumchen in Vorgärten und Lichterbögen in den Fenstern.
Das Trommelfeuer der Fernseh-Werbung wird dichter, je näher das Fest rückt.
Weihnachtsmänner hasten von Feier zu Feier, Probeläufe für das große Fest. Mancher
erlebt die Zeit vor Weihnachten regelrecht als bedrohlich, getrieben vom
hektischen Wettlauf um Geschenke oder von der Sorge um das Gelingen des
traditionellen Festmahles.
Heißt das Advent: mit aller Macht rein ins
Vergnügen? Ist da nicht etwas ver-rückt, der Sinn für wesentliches verstellt?
Strample ich vielleicht mit viel Hektik und Einsatz und Aufregung und Machen
und Organisieren im Laufrad, ohne je richtig bei Weihnachten anzukommen?
Die Adventszeit eröffnet mir die Möglichkeit,
aus dem Kreisel meines hektischen Alltags auszusteigen, innezuhalten, zur
Besinnung zu kommen. Kann ich das überhaupt noch: in mich hineinhören,
aufmerksam sein, empfänglich auch für die leisen Töne? Advent ist für mich die
Chance, bei mir selbst anzukommen, Bilanz zu ziehen. Wo stehe ich? Was ist mir
in letzter Zeit gut gelungen, was ist daneben gegangen? Wohin treiben wir -
ich, meine Familie, unsere Gesellschaft, unsere Welt? Und welche Ziele habe ich
selbst, was im Leben ist mir wichtig, in welcher Zukunft möchte ich ankommen?
Zu mir selbst finden - das gibt mir auch Kraft,
auf andere zuzugehen, mit Blick auf die Hoffnung von Weihnachten:
Freundlichkeit unter den Menschen, das Warten und Vertrauen auf eine gute
Zukunft und mein Einsatz dafür. Aufmerksam werden für das Kleine und Leise, für
die Armen und Schwachen. Mit jedem Kind, das neu geboren wird, bekommt die Welt
eine neue Chance, schon ein kleines Licht kann in großer Dunkelheit einen
Hoffnungsschimmer bringen, beim Schein von zwei und drei Kerzen wächst die Zuversicht...
Noch ist Advent, Zeit, anzukommen. Zeit dafür,
die vierte Kerze am Leuchter im Kreis der Familie anzuzünden, miteinander zu
reden, mit den Kindern zu spielen, vielleicht ein weihnachtliches Lied nicht
perfekt von der Schallplatte zu konsumieren, sondern eine Strophe mal wieder
selbst zu versuchen, endlich einen lange aufgeschobenen Brief schreiben ...
Manchmal bin ich unseren Vorvätern dankbar, dass
sie die Adventszeit weise so eingerichtet haben, dass mir vier Wochen lang Zeit
bleibt, anzukommen - bei mir selbst und bei Weihnachten.
Wort zum Sonntag für 20./21.12.97
Nichts gelernt ?
Die Angst geht um. Eine neue Abkürzung haben wir in den letzten Wochen fürchten gelernt: BSE für Rinderwahnsinn. Oder ist es Menschenwahnsinn, der in der Gier nach dem schnellen Geld dazu verleitet hat, pflanzenfressende Rinder mit tierischen Schlacht-Abfällen zu mästen? Ist England nicht weit weg? Es rückt uns heute so unbequem nahe wie vor exakt zehn Jahren ein unbekannter Ort in der Ukraine. Damals loderte ein Höllenfeuer auf im Atomreaktor von Tschernobyl, der Mensch verbrannte sich die Finger am Feuer des Prometheus (1986 war übrigens auch das Jahr, in dem mit der US-Raumfähre Challenger die hochfliegenden Raumfahrtträume der Weltmacht USA in eine tiefe Krise stürzten; das Leben im Rhein wurde im gleichen Jahr durch die Folgen eines verheerenden Brandes in einer Schweizer Chemiefirma massiv geschädigt). Damals funktionierten die gleichen Mechanismen wie heute: Die Gefahren waren längst bekannt, wurden aber bis zum Tag der Katastrophe von vielen Verantwortlichen verdrängt, verharmlost, totgeschwiegen. Dann hatten die "Spinner" von gestern doch recht gehabt, hektischer Aktionismus brach aus, alle waren so aktiv, hatten es schon immer gewusst... Teure Notmaßnahmen. Aber gab es auch wirkliches Umdenken? Heute hören wir wieder lauter, dass Atomenergie unverzichtbar ist, damit in den reichen Ländern an der gewohnten Energieverschwendung festhalten werden kann, der üppige jährliche Fleischverzehr von fast zwei Zentnern pro Mensch in Deutschland wird wohl nur kurzfristige Einbrüche erleiden. Immer wieder und gern fallen wir auf neue Heilsversprechen herein und verschließen die Augen vor unseren schlechten Erfahrungen. Wir möchten ein erfülltes Leben haben. Aber was braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Wie wollen wir in Zukunft leben, und welche hoffnungsvollen Wege führen dorthin? Das ist eine spannende Frage, über die dringend geredet und gestritten werden müsste in unserer weithin orientierungslosen Gesellschaft. Manche bisherigen Maßstäbe haben sich als frag-würdig erwiesen: ist unser Handeln wirklich schon dadurch gerechtfertigt und wertvoll, wenn es schnell hohe Gewinne erbringt (wie die "Entdeckung" von Schafhirnen als Rinder-Futter), wenn es uns politische und wirtschaftliche Macht verleiht (wie die Nutzung der gewaltigen Kräfte der Kernspaltung)? Wenn wir nicht lernen, uns rücksichtsvoll in die Netze des Lebens einzufügen, beharrlich fragen, welcher Fortschritt notwendig ist (welche Not wird abgewendet?) und welche Mittel wir nach reiflicher Prüfung nutzen "dürfen" - dann werden uns in den nächsten zehn Jahren wohl neue Schrecknisse nicht erspart bleiben.
Wort zum Sonntag für den 14.4.96
Leben in Gottes guter Schöpfung
Joachim Krause, Schönberg
Ein Blick in den Kalender mahnt:
Welt-Umwelt-Tag! Das ruft bei vielen sicher zuerst Schlagzeilen ins Gedächtnis
zu "großen" Problemen, etwa zur Gefährdung des Welt-Klimas oder zu
den aktuellen Sorgen mit Atom-Müll-Transporten.
Mir ist das Thema Umwelt in letzter Zeit in ganz
anderer Weise begegnet. Es begann vor einigen Wochen. Eine neugierig-lärmende
Kinderschar stieg aus dem Bus. Sie starteten zu einer Exkursion mit dem Thema
"Unterwegs in Gottes Schöpfung". Die Bande stürmte als erstes zum
Dorfteich, und entdeckte - gleich am Ufer hinter Margeriten und Glockenblumen
im trüben Wasser - ein quirliges Leben. Das schwarz-braune Gewusel wurde mit
dem Schrei "Kaulquappen!" identifiziert: wir standen vor der
Kinderstube von Kröten und Fröschen. Für die meisten war das Staunen groß, hier
gab es das wirklich "live", was sie nur aus Tierbüchern kannten oder
im Unterricht hatten lernen müssen! Aufgeregt lagen bald die ersten
jugendlichen Entdecker auf dem Bauch und teilten den anderen mit, was sich
ihnen im flachen Wasser in immer größerer Vielfalt krabbelnd und schlängelnd
und rudernd zeigte.
Meine Tochter hat mit mir noch am gleichen Abend
ein altes Aquarium mit Steinen und Sand gefüllt und es wohnlich mit
Wasserpflanzen eingerichtet. Dann wurden ein paar von den "Froschkindern"
vorsichtig eingefangen und zusammen mit Schnecken, Wasserkäfern und weiteren
Krabbeltieren in die neue Heimat umquartiert. Als Ehrengäste - und ziemlich
mühsam zu fangen - nahmen wir noch ein Pärchen Teich-Molche mit. Das Männchen
entpuppte sich als ein kampflustiger kleiner Drache mit gespreiztem Kamm,
schwarz-weiß-gestreiftem Gesicht und einem himmelblau-orangenen Bauch. In den
nächsten Tagen drückten neugierige Kinder sich die Nasen an der Glasscheibe
platt. Eines Tages ein Schrei: das erste Froschbaby stützte sich auf zwei
zarten Hinterbeinchen ab, die ihm über Nacht gewachsen waren. Wir haben im
Familienkreis immer neu gestaunt, genauer hingesehen, schlaue Bücher gewälzt.
Dann quakten - wie zur Mahnung - jede Nacht die Laubfrösche vom Teich herüber,
lange und laut. Da haben wir alle unsere "Untermieter auf Zeit"
wieder zurückgebracht, dorthin, wo sie leben, unbemerkt, unscheinbar, selten
geworden, schützenswert. Bald werden die kleinen Frösche an Land klettern, um
erst im nächsten Jahr wieder in das Gewässer ihrer Kindheit zurückzukehren.
Als die Kinder damals zum Teich gingen, standen
an der Dorfstraße Schilder mit dem Hinweis "Kröten-Wanderung". Sie
haben gewusst, was das bedeutet: dass wir Menschen Rücksicht nehmen müssen auf
andere Lebewesen, dass uns die Bewahrung der Schöpfung aufgetragen ist.
Einmal im Jahr Welt-Umwelt-Tag? Jeder Tag ist
ein Tag in Gottes guter Schöpfung. Um-Welt - das ist die vielfarbige,
lebenspralle Welt um uns herum, in der und von der wir leben dürfen, Anlass zum
Staunen, Anlass zu Dankbarkeit. Offene Sinne sind nötig: wertvoll und
bewahrenswert ist uns wohl nur das, was wir auch selbst kennen, was wir
bewundern und vielleicht sogar ein Stück lieben gelernt haben. Vielleicht
lassen Sie sich demnächst auch von einem fragenden Kind neu die Augen öffnen,
liegen zusammen mit ihm auf dem Bauch auf einer Wiese und spüren Käfern nach
oder necken eine Eidechse, die sich auf einer Mauer sonnt.
"Wort zum Sonntag" für den 7.6.98
Überkommene Werte - unzeitgemäß ?
Joachim Krause, Schönberg
Sommerszeit. Urlaubszeit. Zeit zum
zurücklehnen, entspannen, losgehen. Gottes gute Schöpfung genießen, mit offenen
Sinnen Neues entdecken. Vielleicht haben auch Sie in den letzten Wochen vor
einer majestätischen Gebirgskette gestanden, beeindruckt von ihrer gewaltigen
Wucht und Schönheit. Vor mir liegt eine ganzseitige Werbe-Anzeige. Da ist eben
solch ein Gebirgszug abgebildet, als schwarz-weiß-gezacktes Gipfelpanorama vor
rotem Hintergrund. Und als Unterschrift steht da: "Wer hier eine
Umsatzkurve sieht, denkt ein bisschen wie wir." Mich hat das erschreckt
(und ich sollte ja wohl auch provoziert werden). Können mehr und mehr
Mitmenschen die Welt wirklich nur noch so wahrnehmen, als Wirtschaftsstandort,
als Quelle für Rohstoffe und Umsätze? Ist diese Welt nicht viel mehr? Ein
vielgestaltiges Haus, prall gefüllt mit Leben, eine gute Heimat auch für uns
Menschen. Ein tolles Geschenk, uns als Leihgabe anvertraut. Nach dem
Verständnis der Bibel ist die Erde ein Garten, den der Mensch bebauen darf, den
er aber zugleich als Garten bewahren soll, damit auch neue Generationen nach
uns "gut leben" können. Mir scheint es eine gefährlich
eindimensionale und kurzsichtige Perspektive, wenn der Wert dieses Gartens sich
reduziert auf den Nutzen, den maximalen Profit, den wir kurzfristig daraus
ziehen könnten. Bedeutet das nicht in der Konsequenz rücksichtslose Ausbeutung,
die den Garten zur Wüste macht? Nach uns die Sintflut? Wollen wir das wirklich?
Mir jedenfalls geht beim Anblick der Alpen mehr
und anderes durch den Kopf und durchs Gemüt als Umsatzkurven. Mir tun die
Werbe-Macher leid, weil ihre Welt doch recht arm geworden ist. Aber auch um die
Welt wird mir angst. Für mich zeigt sich eine gefährliche Verschiebung der
Werte, auf denen bisher das Zusammenleben unserer Gesellschaft ruht. Wir
geraten auf eine schiefe Bahn.
Die gleiche Firma wirbt in ihrer Anzeigen-Serie
mit einem zweiten Bild. Es zeigt zwei eisenbewehrte Ritter im tödlichen Kampf
mit der Lanze, dazu als Kommentar die Unterschrift: "Du sollst begehren
deines Nächsten Marktanteil." Ganz offenkundig eine Anspielung auf die
Zehn Gebote in der Bibel, von denen einige mit den Worten beginnen: "Du
sollst nicht begehren..." Uralte Spielregeln, die das Zusammenleben von
Menschen sozial erträglich machen. Die Zivilisation Mitteleuropas hat ihre
bisherige Stabilität auch daraus gewonnen, dass eine Mehrheit sich an solche
Regeln gebunden fühlt. Treiben wir jetzt in eine Gesellschaft, in der mit Hauen
und Stechen Platz gemacht wird für die Sieger, die Starken, die Schnellen? Wo
Gewinner sind, gibt es immer auch Verlierer. Das sind die Schwächeren, die
heute schon durchs soziale Netz fallen, das sind die nach uns kommenden
Generationen, das ist die stumme Natur, in der und von der wir leben. Und um
ihretwillen bleibt für mich sehr zeitgemäß, was die Bibel uns an Wegweisung
fürs Leben vermitteln will (nachzulesen im 1.Buch Mose, 2. Kapitel, und im
2.Buch Mose, 20. Kapitel).
Wort zum Sonntag 17.8.97
Zu Besuch bei Erna
Joachim Krause, Schönberg
Ein Brett knarrte. Irgend jemand kam die
steile Treppe herauf. Erna war aufgeregt. Mit Besuch hatte sie nicht gerechnet.
Zu dem mit Holz verkleideten Verschlag, in dem sie sich auf dem Kirchturm eingerichtet
hatte, verirrte sich höchst selten jemand. Mißtrauisch richtete sie ihre
dunklen Augen auf den Spalt, hinter dem plötzlich ein neugieriges Kindergesicht
auftauchte. Begeistertes Flüstern: „Guck mal: sie sind ausgeschlüpft, ... drei,
vier, fünf!“ Tatsächlich: Fünf Turmfalken-Kücken reckten als graue
Flaum-Bällchen neugierig hinter ihrer Mama die Hälse. Der Aufstieg mit meiner
Familie hatte sich diesmal endlich gelohnt, nun konnten wir alle vorsichtig und
staunend das neue Leben besichtigen.
Die Geschichte mit „Erna“ hatte ein paar Monate
vorher begonnen. Auf unserem alten Kirchturm herrschten ärgerliche Zustände.
Tauben hatten sich auf dem Glockenboden breit gemacht, überall Dreck, Federn,
Gestank. Die einfachste Lösung wäre gewesen, alle Öffnungen zu verrammeln und
zu vernageln. Aber dann hätten die Turmfalken und die Schleiereulen - die seit
vielen Jahren auf dem Turm ansässigen stillen „Untermieter“ der Kirchgemeinde -
auch hier noch ihre Schlaf- und Brut-Plätze verloren. In unseren Dörfern sind
den letzten Jahrzehnten, teils aus Gedankenlosigkeit und manchmal aus
übertriebener Ordnungsliebe, viele Einflugöffnungen in alten Scheunen und
Dachböden mit Fenstern verschlossen oder einfach zugemauert worden. Dabei
werden nicht nur die gefiederten nützlichen „Gäste“ heimatlos; mit ihnen geht
jedes Mal auch ein Stück der Fülle des Lebens um uns Menschen herum verloren.
Albert Schweizer hat einmal gesagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten
von Leben, das leben will.“ Wir Menschen sind nur eine Faser im Netz des
Lebens, und unser Dasein ist trotz allen technischen Fortschritts auch
weiterhin davon abhängig, daß grundlegende Lebens-Beziehungen nicht zerstört
werden. Und manchmal ist dabei auch unsere Solidarität mit den schwächeren
Mitgeschöpfen gefordert. Was konnte das ganz konkret und praktisch in unserem
Fall bedeuten?
Wir haben erst mal im Frühjahr einen erfahrenen
Vogelkundler befragt, welche Ansprüche unsere möglichen „Untermieter“ wohl
haben würden. Dann wurden alte Bretter passend zurecht geschnitten, daraus zwei
geräumige Kisten zusammen genagelt und hinter den (inzwischen gegen die Tauben
abgedichteten) Fensterläden aufgehängt. Mieter-Werbung war unnötig! Schon am
zweiten Tag saß ein Turmfalken-Männchen in der Fensternische vor dem Kasten und
bewachte seine neue Wohnung eifersüchtig. Ein paar Wochen später lag das erste
braun-gesprenkelte Ei im Kasten, einfach so auf dem nackten Boden, und wenig
später hockte Frau Turmfalke breit und behäbig auf dem Nest - anzusehen wie ein
Huhn, was ihr den Namen „Erna“ einbrachte.
Der Blick auf das graue Kücken-Gewusel in Ernas
Kiste auf dem Kirchturm macht mich dankbar und gibt mir Hoffnung. Neues Leben,
das den Schutz der alten Mauern braucht... Wir werden in einigen Wochen noch
einmal auf den alten Kirchturm steigen. Noch eine Etage höher, ganz oben im
Turmkopf, hat Mutter Schleiereule ein Ei nach dem anderen gelegt. Stück für
Stück Wille zum Leben.
Wort zum Sonntag für den 5./6.6.99
Alles Gute ?
Joachim Krause, Schönberg
Erst wenige Wochen ist es her, zum
Jahreswechsel war die Welt voller guter Wünsche. Andere haben sie uns über die
Straße zugerufen, wir haben Freunden die Hände gedrückt: „Alles Gute!“
Was haben wir da eigentlich gemeint? Manchmal
vielleicht Bestärkung: Möge dir das gelingen, was du anstrebst. Manchmal sind
es wohl unerfüllte Sehnsüchte, die Ahnung davon, dass umfassendes Lebensglück
immer ein unerreichbares Ziel am Horizont bleibt, unsere Wünsche als
Richtungsanzeige.
Neulich saßen wir in einer gesprächigen Runde
zusammen, und einer fragte: Was heißt das eigentlich für mich, für dich ganz
konkret, gut leben, was macht ein gutes Leben, ein sinn-erfülltes Dasein aus?
Einige benannten ganz spontan Erfahrungen und Momentaufnahmen aus ihrem Leben,
andere packten langsamer, zum Teil aus tiefer Nachdenklichkeit heraus, ihre
Bilder und Träume dazu: Gesundheit, Geborgenheit und Gemeinschaft in der
Familie und bei Freunden, Gebrauchtwerden am Arbeitsplatz, ein sinnvoll
gefüllter Tageslauf, Sich-satt-essen-können... Lag es an der Fragestellung,
dass der anstehende Autokauf oder die neue Kücheneinrichtung nicht vorkamen?
Wenn man in sich hineinhorcht auf die Frage: wann bist du eigentlich glücklich,
was brauchst du zu allererst zum „guten Leben“, dann wird plötzlich
Lebens-Qualität wichtig, Werte und Beziehungen kommen in den Blick, die man
nicht haben, nicht kaufen und organisieren kann.
Natürlich war uns in der Runde klar: zum guten
Leben gehören auch „Güter“, materielle Dinge, die unsere Existenz sichern, etwa
eine intakte lebenswerte Umwelt mit sauberer Luft und klarem Wasser, das
tägliche Brot, ein dichtes Dach überm Kopf, Kleidung, auch
arbeits-erleichternde Technik. Aber vielleicht kommt uns in den reichen Ländern
immer mehr das Gespür dafür abhanden, welch ein Geschenk es ist, das alles
jeden Tag und oft im Überfluß zu haben. „Gutes Leben“ hat auch etwas mit „Güte“
zu tun: mir wird geschenkt und ich darf weiter-geben.
Aber Sich-begnügen, genug-haben erscheinen
vielen doch als veraltete Tugenden. Bedeutet es nicht gerade ein gutes Leben,
wenn ich immer mehr habe, schneller-höher-weiter wie im Sport? Aber wenn dann
mein Kontostand, die Dax-Kurve im Fernsehen oder das Brutto-Sozialprodukt des
Landes auf das Doppelte geklettert ist, bin ich dann auch wirklich doppelt so
glücklich? Zerstört nicht gerade auch meine Gier, immer mehr von den Schätzen
dieser Welt zu besitzen, die Lebensgrundlagen und die Zukunftschancen meiner
eigenen Kinder?
Ich möchte kein Hamster im Laufrad sein, dem in
der Hast des Alltags nach und nach die eigentlich wesentlichen Ziele seines
Lebens abhanden kommen. Arbeit, Geld und Güter sind unverzichtbar, aber sie
haben dienende Funktion - das gute Leben ist das Ziel.
Und davon möchte ich jeden Tag ein Stück mehr
gewinnen.
Wort zum Sonntag für die FREIE PRESSE vom 6.2.2000
„Die Schwalben sind weg!“
Joachim Krause, Schönberg
„Haben Sie´s auch gemerkt: die Schwalben sind
schon weg - das wird ein kalter Winter“, so begrüßte mich neulich eine alte
Bäuerin. Ich hatte den Abflug der Schwalben nach Süden nicht bemerkt. Es macht
mich schon nachdenklich, wie unaufmerksam, fast taub und blind, ich oft durch
diese Welt eile. Es ist also schon wieder Herbst. Der frühe Einbruch der
Dunkelheit erinnert daran, der lästige Regen, die letzten Äpfel, die noch
gepflückt werden wollen, die Netze der Spinnen in jedem erreichbaren Winkel.
Für manche eine graue, dunkle Jahreszeit. Aber sie hat auch andere Facetten: Es
ist die Zeit der Ernte, der Bilanz. Vielleicht kennen Sie das gute Gefühl,
endlich die eigenen Kartoffelknollen aus der Gartenerde zu graben, einen
armdicken Strauß farbenprächtiger Blumen ins Haus zu tragen, die Sie selbst
monatelang gehegt und gepflegt haben. Um „meine“ Äpfel habe ich mich gar nicht
gekümmert - und trotzdem ist die Ernte überreich ausgefallen. Das war ein richtiges
kleines Fest, in der Herbstsonne auf einer Kiste sitzend in den ersten
knackigen Apfel zu beißen! Ich war in diesem Moment dankbar, einfach da zu
sein, leben zu dürfen als Geschöpf unter anderen Geschöpfen. Mir ist bewußt
geworden, wie sehr ich abhängig bin. Ich kann nichts dazu tun, daß die
Jahreszeiten zuverlässig wechseln, daß Regentage und Sonnenglut in eine
sinnvolle Balance gebracht werden; aber ich kann darüber staunen. Saubere Luft
zum Atmen, klares, gutes Wasser zum Trinken, gedeihliches Klima, in dem unser
tägliches Brot wachsen kann - das alles ist da, vielleicht zu
selbstverständlich, als daß ich mir bewußt mache: das alles ist ein Geschenk.
Christen feiern in dieser Einsicht im Herbst das Erntedankfest, dankbar dafür,
daß menschliches Mühen nicht umsonst war, und daß der Wille Gottes dazukam,
diese Welt und das Leben auf ihr weiter zu erhalten. Im Kreislauf des Jahres,
des Lebens hat alles seinen Sinn, auch der Herbst als die Zeit der Fülle, aber
auch der Vergänglichkeit und des Übergangs in die Ruhe des Winters. Der Boden
braucht den Regen, der mich manchmal stört, und speichert ihn. Auch die
unscheinbaren Spinnen, die jetzt mit tausend Wunderwerken die Welt schmücken,
haben ihren Platz und ihre Aufgabe im großen Netz des Lebens - und sie sind
Leben mit eigener Würde und eigenem Wert. Auch die letzten Äpfel in meinem
Garten werde ich noch pflücken und in die Mosterei bringen; mich schmerzt es,
wenn jetzt mancherorts diese Geschenke achtlos unter den Bäumen verkommen.
Die Schwalben werden im Frühjahr zurückkehren.
Die Apfelbäume werden blühen und wieder Früchte bringen. Es wird manchmal
regnen, und Spinnen werden ihre Netze bauen. Beweisen kann ich das nicht. Aber
ich habe Vertrauen und Hoffnung, daß die Zusage Gottes für unsere Welt weiter
gilt: „...es soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und
Winter, Tag und Nacht.“
Wort zum Sonntag Freie Presse Glauchau 3./4.10.1998
Leben braucht viele Farben
von Joachim Krause, Schönberg
Manche Lebensgeschichte macht einem ganz
schön zu schaffen! Da kommt ein Junge zur Welt. Schon frühzeitig entdecken die
Eltern, daß sich ihr Kind nicht normal entwickelt. Bald stellen die Ärzte eine
erschreckende Diagnose. Der Junge leidet an der sogenannten
Glasknochenkrankheit, einer Erbkrankheit, die seine Knochen immer wieder
brechen läßt. Er bleibt ein Zwerg, wird nicht einmal einen Meter groß. Wegen
seiner Behinderung kann er nur selten die Schule besuchen. Immer ist er auf
Prothesen und die Hilfe anderer angewiesen. Schließlich endet sein
beschwerliches Dasein früh, im 36. Lebensjahr: er stirbt an einer schweren
Lungenentzündung.
Ein schweres Schicksal. Und sinnlos dazu, sagt
mir der Zeitgeist: Zum Glück kann die moderne Medizin solche schweren Erbleiden
heute schon vor der Geburt feststellen; die Schwangerschaft kann abgebrochen
werden, um dem Betroffenen und seiner Familie solches Leid zu ersparen...
Wir lesen die Lebensgeschichte dieses Menschen
noch einmal. Zu der Biographie gehört ein Gesicht. Und dazu gehört ein Name.
Michel Petrucciani wurde 1962 in Frankreich als Sohn eines sizilianischen
Jazzmusikers geboren. Bereits mit vier Jahren entdeckte der Junge seine Liebe
zum Klavierspiel. Obwohl er in seiner körperlichen Entwicklung zurückgeblieben
war, bestand er hartnäckig darauf, daß seine Eltern ihm ein richtiges großes
Klavier kauften. Und fortan übte Michel hartnäckig, bis zu acht Stunden
täglich. Sein Körper machte es ihm dabei nicht leicht. Michel Petrucciani war
schwer behindert. Er litt an der „Glasknochenkrankheit“, die er in seinem
Erbgut trug. Die Krankheit machte ihn zum Zwerg. Aber er kompensierte seine
körperlichen Probleme und den Spott der Nachbarskinder, indem er zu Hause
lernte, mit einem eisernem Willen. Und er stürzte sich in seine Musik. Dabei
hatte Petrucciani es für einen Pianisten eigentlich viel zu schwer. Aber seine
Hände und Arme hatten glücklicherweise fast das übliche Maß, so daß er die 88
schwarzen und weißen Tasten spielend erreichen konnte. Um an die Pedale zu
gelangen, brauchte er eine Spezialmechanik. Aber er wollte spielen, und da ging
es auch irgendwie. Sein erstes Konzert gab Michel mit 13 Jahren. Er hatte eine
klassische Klavierausbildung genossen, aber bald wurde ihm klar: seine
eigentliche musikalische Welt war der Jazz, und als er 18 Jahre alt war, ging
er nach New York. Er beherrschte sein Piano so meisterhaft, daß er bald mit den
tollsten amerikanischen Jazz-Musikern auftreten konnte. Sie wußten seine
Leidenschaft und Virtuosität zu schätzen, seine phantasievollen
Improvisationen, seinen mitreißenden Swing. Wenn Michel Petrucciani auf seinem
erhöhten Hocker saß und sich weit nach links oder rechts strecken mußte, um die
tiefen oder hohen Tasten zu erreichen, bangten seine Zuhörer oft, ob er den
ständigen Kampf gegen seine Behinderung gewinnen könnte. Aber seine
Glasknochenkrankheit hatte ihn zwar zerbrechlich, aber gleichzeitig auch stark
gemacht.
Michel Petrucciani war neugierig auf das Leben.
Er hat Spaß gesucht und Freude ausgestrahlt. Er hat sich wohlgefühlt in der
multikulturellen Gemeinschaft seiner Künstlerkollegen, gerade weil sie alle so
verschieden waren, hat mit ihnen gern auch ein Glas seines geliebten
französischen Rotweins getrunken. Er war verheiratet und hat mit seiner Frau
ein Kind gehabt.
Vor einem Monat ist Michel Petrucciani gestorben.
Viele Menschen, die seine Musik hören durften, die ihn im Fernsehen erlebt
haben, sind dankbar: dafür, daß er leben durfte und mit seinen Begabungen
unsere Welt ein Stück farbiger gemacht hat.
Wort zum Sonntag für FREIE PRESSE 6./7.2.1999
Lebens-Fragen
Joachim Krause, Schönberg
Urlaub. Hitze. Eisdiele. Das 12-jährige
Töchterchen saugt nachdenklich an seinem Trinkhalm und fragt so nebenbei:
„Papa, was ist das eigentlich - Gentechnik?“. Ein bißchen schwergewichtig,
diese Frage, und hier in versandeter Badekleidung nicht angemessen zu klären.
Aber 14 Tage später, zu Hause auf dem Sofa, versuchen wir beide es doch. Wir
blättern in Büchern, Skizzen werden gekritzelt. Wir staunen über die Einsichten
von Wissenschaftlern, die in den letzten hundert Jahren das Geheimnis des
Lebens Stück für Stück enträtselt haben. Der Körper eines Menschen besteht aus
etwa hundert Billionen Zellen (eine 100 mit zwölf Nullen!). Jede Zelle enthält
einen Zellkern, in dem jeweils die gesamte „Bibliothek des Lebens“ zusammengepackt
ist, verteilt auf 46 Chromosomen (wir stellen sie uns als Bücherregale vor).
Sie geben, wenn man sie aufdröselt, die Erbsubstanz frei - eine Art endlose
Perlenschnur aus vier verschiedenfarbigen Bausteinen, auf der in der „Sprache“
chemischer Moleküle eine Bauanleitung an die andere gefügt ist, Anweisungen,
die festlegen, wie unser Organismus aufgebaut ist und wie sein Stoffwechsel
funktioniert. „Gene“ - so nennt man die einzelnen Baupläne in der Erbsubstanz
von Lebewesen. Sie steuern in erstaunlicher Genauigkeit und Ausgewogenheit alle
Lebens-Prozesse.
Seit Biologen ergründet haben, wie das Leben in
der Natur auf der Stufe seiner kleinsten Bausteine funktioniert, eröffneten
sich atemberaubende Möglichkeiten: zielgenau in Lebensprozesse einzugreifen,
sie zum Wohle des Menschen zu nutzen und zu verändern. „Gentechnik" ist
eine Werkzeugkiste - damit könnte man zum Beispiel ein „fehlerhaftes“ Stück
Erbsubstanz aus der Perlenkette ausschneiden oder an anderer Stelle ein
„fremdes“ Gen mit neuen erwünschten Eigenschaften zusätzlich einfügen. „Ist das
gefährlich?“, fragt die Tochter. Eine einfache Antwort gibt es nicht. Wir
sprechen über einen schwerst zuckerkranken Jungen aus ihrer Klasse, der sich
mehrmals täglich INSULIN spritzt, ein lebensrettendes Medikament, hergestellt
mit Hilfe von gentechnisch veränderten Bakterien. Wir lesen in der Zeitung, daß
man vielleicht bald Menschen züchten kann, deren Erbanlagen „verbessert“
wurden- da ist uns beiden auf dem Sofa doch ziemlich bange zumute. Ich habe
später noch in der Bibel geblättert. Ist Gentechnik als „Eingriff in die
Schöpfung“ eindeutig verboten? Entdeckt habe ich unterschiedliche Anstöße zum
Nachdenken: Mahnung zu Ehrfurcht und Zurückhaltung angesichts der wundervollen
Gabe des Lebens, Ermutigung für den Menschen, seine geschenkten Begabungen zu
nutzen und die Welt zu gestalten (als Garten bebauen und bewahren), aber auch
Warnung vor Überschätzung oder Mißbrauch der eigenen Fähigkeiten. Zwischen
Chancen und Gefahren beim Umgang mit den neuen Techniken müssen wir wohl selbst
lernen uns in Verantwortung zurecht zu finden. Es geht immerhin um
Lebens-Fragen.
„Das Geistliche Wort“ Freie Presse Glauchau
2./3.9.2000
Loslassen
Joachim Krause, Schönberg
Neulich bin ich nachts gegen 4 Uhr aufgewacht.
Und dann habe ich gewartet auf das, was immer um diese Zeit passiert: daß der
alte Trabi vorfährt, daß später in der Wohnung die Türen klappen, geschäftiges
Teller-Klappern in der Küche einsetzt. Ich wollte mich wie immer kurz ärgern -
aber es ist diesmal still geblieben.
Eigentlich hatten wir uns schon fast damit
abgefunden, mit den Turbulenzen, die das Zusammenleben mit erwachsen werdenden
Kindern bringt. Manchmal kann einen das schon nerven, diese Zeit des
Selbstständig-Werdens, die quälend langen Monate zwischen Schule und Bundeswehr
und Beruf und Studium. Wenn die groß gewordenen „Kinder“ zwar noch im
elterlichen Hause sind, aber so ganz anders leben, ihren völlig eigenen
Rhythmus haben, nachts spät oder gar nicht nach Hause kommen, dafür mittags
noch im Bett liegen. Computer-Parties, Disco, Sport - immer unterwegs, nie
richtig zu greifen, für häusliche Pflichten schon gar nicht zu begeistern.
Manchmal kommen wir Eltern uns ein wenig vor wie Verpflegungsstelle und Hotel
und Wäsche-Service: alles organisieren, aber ja keine Fragen stellen oder
Ratschläge geben! Die bange Frage taucht auf: Haben wir was falsch gemacht? Und
dann wünscht man den Kindern (und sich selbst): Flieg doch endlich aus, bloß
raus aus dem Nest, mach endlich alleine, was dir Spaß macht...!
Und eines Tages ist es dann wirklich so weit.
Der Termin für den Studienbeginn oder die Aufnahme einer „richtigen“ Arbeit ist
da. Umzug, ein eigenes Zimmer ist gemietet. Im bisherigen Kinderzimmer wird
sortiert und ausgemistet. Wäsche und andere nützliche Dinge wandern
päckchenweise aus dem Haus. Anderes nimmt seinen Weg auf den Dachboden,
dorthin, wo schon das alte Spielzeug aus Kindertagen liegt, wo die Schulhefte
verstauben - Erinnerungen an frühere Abschiede.
Elterliche Augen verfolgen aufmerksam jeden
Schritt (sie dürfen sich´s nur nicht anmerken lassen!). Bange Fragen: Was
erwartet unsere Kinder da draußen? Haben wir sie genügend darauf vorbereitet,
nun auf eigenen Füßen zu stehen, wirklich für sich selbst verantwortlich zu
sein?
Und was wird aus uns Zurückbleibenden? Der
Abschied war ersehnt und doch ist er schmerzlich. Bedeutet der frei gewordene
Platz am Tisch mehr Erleichterung und Freiheit, oder ziehen auch Leere und
Einsamkeit ein?
Abschied nehmen, loslassen, Neues beginnen - das
gehört zum Kreislauf des Lebens.
Mach´s gut, „Kind“, du darfst gehen, du wirst
ankommen, unsere Gedanken begleiten dich und gute Wünsche sowieso.
Wir halten erst einmal ein Zimmer und ein Bett
frei. Vielleicht schreckt uns demnächst nachts wieder das Trabi-Geräusch hoch.
Dann wird auf jeden Fall vieles anders sein.
Wort zum Sonntag für den 9./10.10.99
Mir geht’s gut
Joachim Krause, Schönberg
Treffen mit alten Freunden nach vielen
Jahren. Einer kommt auf mich zu. Die übliche Frage: „Na – wie geht’s?“ Und
meine Antwort: „Danke. Mir geht’s richtig gut!“ Dann erschrecke ich über mich
selbst. Darf ich das überhaupt noch so fröhlich sagen, seit sich die
Rauchschwaden von Manhattan als dunkler Schleier über die Welt gelegt haben?
Aber vielleicht wird mir ja erst in solchen
schlimmen Erfahrungen richtig bewusst, welchen Wert der ganz normale Alltag
hat. Welches Glück es bedeutet, abends satt ins Bett zu gehen, morgens gesund
aufzuwachen, sich mit Kindern und Nachbarn einigermaßen gut zu verstehen...
Was brauche ich eigentlich, um ein
menschenwürdiges, sinnerfülltes, glückliches Dasein zu führen? Ich schlage bei
einem „christlichen Weisen“ nach, bei Martin Luther. Er hat vor einem halben
Jahrtausend seine Einsichten niedergeschrieben, was zum „täglichen Brot“, zur
Grundausstattung gehört, was „not tut“ für ein gelungenes Leben. Er benennt
zunächst handfeste Dinge wie „Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker,
Vieh, Geld, Gut“, weiß aber darüber hinaus auch vom Wert guter Beziehungen zu
„Eheleuten, Kindern, Gehilfen“, vom Segen einer „guten Regierung“, und er nennt
weiter: „gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue
Nachbarn...“
Wenn ich meinen Lebens-Alltag damit vergleiche,
darf ich wohl einfach nur dankbar sein, denn das meiste davon erlebe ich ganz
selbstverständlich, jeden Tag. Mir geht’s wirklich gut. Und bei näherem
Hinsehen entdecke ich: Vieles davon ist ein unverdientes Geschenk. Es ist nicht
mein Verdienst, dass ich vor 50 Jahren in Deutschland zur Welt kam und nicht in
einem palästinensischen Flüchtlingslager geboren wurde. Dass es für mich immer
genug zu essen gab, ein dichtes Dach über dem Kopf, Chancen auf Bildung und
einen Arbeitsplatz. Dass ich an einem sonnigen Oktobertag oben auf der Leiter
stehe und in einen saftigen Apfel beiße, abends mit Freunden beim Rotwein
sitze.
Dankbarkeit – und zugleich Schmerz, der
herausfordert: Da ist das Foto mit dem verzweifelten Vater in Afghanistan, der
sein verhungerndes Kind im Arm hält. Ihnen geht’s überhaupt nicht gut, ihre
alltägliche Erfahrung sind Armut, Terror, Krieg. Bin ich, sind wir in einem der
reichsten Länder der Welt da nicht aufgefordert, unseren Überfluss mit anderen
zu teilen, uns nicht hinter militärischen Schutzschilden auf unseren Inseln des
Wohlstands zu verschanzen, sondern unseren Nachbarn auf dem klein gewordenen
Planeten Erde „den Frieden zu erklären“, auch für uns bisher fremde Menschen
„gute Nachbarn“ zu sein?
„Geistliches Wort“ für die FREIE PRESSE Glauchau vom 6./7.10.2001
Schwein gehabt ?
Joachim Krause, Schönberg
„Wir haben wieder mal Schwein gehabt!“, so
meinte vor Jahren ein Freund. Wir standen fröstelnd am Gartenzaun und staunten
über die ersten Blüten, die sich der März-Sonne entgegen streckten. Das Leben,
monatelang erstarrt und scheinbar erstorben in der winterlichen Kälte, nun war
es doch wieder erwacht. Der Rhythmus des Jahres stimmte auch in diesem Frühling
wieder. Das machte uns dankbar.
In den vergangenen Jahren haben die
Haselnusssträucher immer schon im Januar geblüht, die letzten echten Blüten des
2000er Jahres waren noch im Dezember in den Gärten zu bestaunen. Eisblumen an
den Fensterscheiben dagegen hat´s lange nicht mehr gegeben. „2000 war das
wärmste Jahr des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland“, „Sächsische Störche
fliegen im Winter nur noch bis Spanien“. Solche Schlagzeilen machen mich
unruhig. Kommt der Rhythmus des Lebens aus dem Tritt? Sind die schneearmen
Winter, die trockenen heißen Sommer die ersten spürbaren Anzeichen dafür, dass
unser Klima sich verändern könnte? Das Klima, dieser große weite Rahmen des
Naturgeschehens, der unsere Lebensbedingungen bestimmt. Die unerlässliche
Voraussetzung dafür, dass unsere empfindsamen Getreidepflanzen zum täglichen
Brot heranwachsen können, dass unsere Wälder grün bleiben. Tiere haben sich
eingerichtet in diesem Rahmen, sie überstehen unwirtliche dunkle Zeiten im
Winterschlaf oder fliehen ins Wärme-Exil nach Süden. Kommen jetzt die großen
Gleichgewichte ins Wanken, von denen letztlich nicht nur die Natur um uns
herum, sondern auch unser Leben abhängt?
Wissenschaftler mahnen schon länger. Es ist
nicht mehr zu übersehen: Der Mensch nimmt messbar Einfluss auf das
Klima-Geschehen. Die Ursache liegt vor allem in unserem Umgang mit Energie. Auf
der Suche nach einem Leben mit immer mehr Komfort und im Streben nach
kurzfristigem Gewinn greifen wir Menschen tief in Naturzusammenhänge ein. Und
wir erleben immer öfter, dass die Natur aus dem Tritt kommt, dass
Fehlentwicklungen auf uns selbst zurückschlagen (auch das Erschrecken über BSE
ist eine solche schmerzliche späte Einsicht). Muss es erst richtig weh tun, ehe
wir begreifen und unser Leben ändern? Können wir uns immer so
selbstverständlich darauf verlassen, dass wir schon „Schwein haben“ werden? Als
Martin Luther vor 500 Jahren darüber nachgedacht hat, was ein Mensch als
„tägliches Brot“ braucht, um „gut leben“ zu können, nannte er - neben Essen und
Trinken, einem dichten Dach über dem Kopf und getreuen Nachbarn - auch „gut
Wetter“. Da steckt die Einsicht drin, dass wir abhängig sind und bleiben davon,
dass die Rahmenbedingungen für Leben einfach „da sind“, und Dankbarkeit, wenn
uns das überraschend immer neu geschenkt wird. Und auch eine Mahnung gehört
wohl dazu: dass wir Menschen nicht gewalttätig in die Rhythmen und Ordnungen
des Lebens eingreifen sollen.
„Geistliches Wort“ für die FREIE PRESSE vom 28.1.2001
Neugierig bleiben
von Joachim Krause, Schönberg
Jahreswechsel. Die Familie ist wie jedes Jahr
hinaufgestiegen in das Gebälk des Kirchturms zum Glockenboden. Mitternacht.
Zwölf Mal dröhnt der schwere metallene Stundenschlag. Aus Gestern wird Morgen.
Und dann ziehen wir an den alten Seilen, das Töchterchen und ich, und bringen
die Glocken zum Schwingen und Singen. Wir begrüßen das „Neue“ - noch liegt die
Zukunft, jenes „unentdeckte Land“, im Dunkel...
Kindern ist diese Situation vertraut. Sie sind
ständig auf Entdeckungsreise, möchten mehr von der Welt verstehen, sich
zurechtfinden, ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen erkunden. Warum? Wie?
Was? Ihre Welt besteht aus Fragen. Aber finden sie immer jemanden, der auch
zuhört, bereit ist, sich mit ihnen auf die Suche zu begeben? Wie oft habe ich
gerade keine Zeit für solche nervenden Kinder-Fragen. Oder ich weiß sie zu
schnell, die perfekte Antwort, die die kindliche Neugier tötet. Dabei hat
mancher unscheinbare Schatz an Lebenserfahrung, den ich als Kind selbst
entdecken durfte und mühsam ausgegraben habe, viel mehr Wert für mich als die
vielen klugen Patentrezepte, die andere mir lebenslang überstülpen wollen. Und
für solche Erfahrungen bleibt sie wichtig, die elterliche oder großelterliche
geschenkte Zeit: Für Gespräche über Gott und die Welt in der Kuschelecke auf
dem Sofa oder draußen unter dem Sternenhimmel. Für das gemeinsame Stöbern im
alten Lexikon oder im Internet, um wichtigen und halbwichtigen Dingen auf den
Grund zu gehen. Oder wenn da in den Fernseh-Nachrichten ein Begriff vorkommt,
den wir nicht zuordnen können – Alarm, Neugier-Alarm! Es macht einfach einen
großen Unterschied, ob ich etwas aus eigenem Antrieb wissen will, oder ob ich
etwas wissen muss. Lernen, die Welt und das Leben begreifen - das kann Spaß
machen. Auch in der Schule. Aber dort wie in der Familie brauchen meine Kinder
erwachsene Begleiter, die nicht verlernt haben, selbst neugierig zu sein. Die
erwartungsvoll in jeden neuen Tag hineingehen, die keine fertigen und
endgültigen Antworten haben, die bereit sind, auch an fremde Türen zu klopfen,
immer auf der Suche, in ihrem Leben noch eine neue Saite zum Schwingen zu
bringen. Wenn wir Alten aber zu satt und bequem geworden sind, Fragen uns nur
noch beunruhigen und den gewohnten Trott stören, dann geht der Kontakt zum
quirligen Leben da draußen mit seinen vielen Überraschungen verloren. Erstickte
Phantasie im Spielzeug-verstopften Kinderzimmer, erstorbene Gespräche in der
Fernseh-Familie, „Null-Bock“-Stimmung als Gruppennorm schon in der Schule – das
macht nicht fit für die Zukunft. Es braucht offene Türen und offene Sinne, wenn
wir erfahren wollen, was in uns selbst steckt und was die Welt für uns bereit
hält und von uns erwartet...
Die Glocken über uns schwingen aus, Umarmungen,
Glückwünsche. Alles Gute, Kind. Bleib neugierig. Lebenslänglich. Das ist keine
Strafe, sondern ein Geschenk.
„Geistliches Wort“ in der FREIEN PRESSE Glauchau 19./20.1.2002