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Charles Robert Darwin
(12.2.1809 – 19.4.1882)

sein Leben, sein wissenschaftliches Werk – und die Folgen

 

© Joachim Krause ab 3-2009

 

Beschreibung: darwin_foto_1840-2

 

1. Darwins Lebenslauf

 

Einige Daten aus dem Leben von Charles Darwin

12.2.1809

Geburt in Shrewsbury;
5. Kind von Dr. Robert Darwin und Susannah geb. Wedgwood

1817

Charles Mutter stirbt

1817 bis 1825

Schulbesuch in Shrewsbury

1825 bis 1827

Medizinstudium an der Universität Edinburgh

1828 bis 1831

Studium in Cambridge, (eigentlich) mit dem Ziel, anschließend die Laufbahn eines Geistlichen in der Anglikanischen Kirche anzutreten; Abschluss: Bachelor of Arts

1831 bis 1836

Weltreise auf der H.M.S. BEAGLE (Südamerika, Galapagos-Inseln, Südsee, Neuseeland, Australien, Südafrika, Südamerika)

1839

Heirat mit Emma geb. Wedgwood (10 Kinder, 3 sterben früh)

1842 bis 1882

Wohn- und Arbeitsort Down House

1851

Tod von Darwins Lieblingstochter Annie (10 Jahre alt, Tuberkulose)

1858

Gemeinsam mit Alfred Russel Wallace: Vorstellung der Evolutionstheorie

1859

Buch: Über die Entstehung von Arten …

1871

Buch: Die Abstammung des Menschen …

19.4.1882

Darwin stirbt, Beisetzung in der Westminster Abbey in London

 

Alles beginnt am 12. Februar 1809. Charles Darwin kommt in Shrewsbury zur Welt.
Um das Datum seiner Geburt etwas in das zeit- und kulturgeschichtliche Umfeld einzuordnen, seien hier noch einige Daten aus dem Umfeld genannt:

·         die französische Revolution liegt nicht einmal 20 Jahre zurück

·         Napoleon zieht durch (Kontinental-)Europa

·         Johann Wolfgang von Goethe lebt noch

·         Abraham Lincoln wird am gleichen Tag wie Charles Darwin geboren

·         wenige Tage zuvor kommt Felix Mendelssohn-Bartholdy zur Welt

·         Karl Marx wird erst neun Jahre später geboren

·         Großbritannien ist die Weltmacht der damaligen Zeit (British Empire)

·         England erlebt einen dramatischen Aufbruch in der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung; damit verbunden ist der Manchesterkapitalismus und die zunehmende Verelendung der arbeitenden Bevölkerung

·         in dem begonnenen 19. Jahrhundert ist Sklaverei für die Staaten aller „zivilisierten“ Länder noch selbstverständlich

·         die Vielzahl der Aufbrüche und Spannungen macht das Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Revolutionen

Die Eltern von Charles sind der Arzt Dr. Robert Darwin und Susannah geb. Wedgwood.
Eine bedeutsame Rolle spielen seine beiden Großväter, die miteinander befreundet waren.

Da ist zum einen Kunstkeramiker Josiah Wedgwood, einer der Begründer der englischen Tonwaren-Industrie. Er war ein sehr erfolgreicher Porzellan-Fabrikant. Sorgen um ihren Lebensunterhalt brauchen sich die Darwins nie zu machen, die Familie besitzt genügend Grund und Boden und andere Reichtümer. Das macht es möglich, dass Charles Darwin die längste Zeit seines Lebens Privatgelehrter sein und seinen Neigungen nachgehen kann.

Der Großvater in der väterlichen Linie ist der Naturwissenschaftler Erasmus Darwin. Er war ein erfolgreicher Arzt. König George III. wollte ihn vergeblich als Leibarzt gewinnen. Das aber passte nicht zur politischen Einstellung von Erasmus Darwin, der sich z.B. vehement gegen die Sklaverei einsetzte. Erasmus beschäftigte sich unter anderem mit Fossilien. Und er fragte schon 1788 in seinem Buch „The Botanic Garden“, ob vielleicht „… manche Tiere allmählich ihre Form … wechseln … und zu neuen Arten … werden?“, eine Idee, die er in seinem 1796 erschienenen Buch Zoonomia erneut aufnahm.
Die Vorstellung, dass sich die heute existierenden Lebewesen aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben, lag also damals schon gewissermaßen „in der Luft“. Charles Darwin weist in einer Fußnote in seinem Hauptwerk darauf hin, dass die Idee, dass das Leben auf der Erde eine Geschichte durchlaufen hat, dass Lebewesen sich ständig verändern, mehrere geistige Väter hat: Er nennt seinen Großvater Erasmus Darwin, er nennt den Deutschen Johann Wolfgang von Goethe und den Franzosen Geoffroy Saint-Hilaire.
Im Geburtsjahr von Darwin erscheint das Buch von Jean Baptist de Lamarck: „Philosophie zooligique“, in dem erstmals die Vorstellung eines Entwicklungsprozesses ausführlich dargestellt wurde (allerdings von Lamarck noch erklärt durch Vererbung erworbener Eigenschaften).
Es liegt also etwas in der Luft, weht mit dem Zeitgeist, und es liegt auch etwas in Charles Darwins Blut.
1817 kommt Charles Darwin in die Vorschule, und ab 1818 besucht er die Privatschule, eine der besten des Landes. Darwin selbst stellt in seiner Autobiographie rückblickend fest, dass er diese Jahre nicht in guter Erinnerung hat. Er erlebt dort ein angestaubtes, bürgerliches Bildungsideal, muss sich mit alten Sprachen herumquälen und leidet unter der strengen Disziplin. Aber in der Schulzeit erwacht auch seine Neugier. Schon als Junge befasst Charles sich mit der Natur. Er sammelt gerne, und er sammelt alles Mögliche, z.B. Fossilien und Mineralien, er beobachtet Käfer und Vögel, er geht zum Fischen und Jagen, und er macht im Schuppen mit seinem Bruder zusammen chemische Experimente. Der Schulleiter und auch Darwins Vater sind davon gar nicht begeistert: Das ist „unnütz und Müßiggang!“.
Der Vater möchte, dass Charles Arzt wird; und schon früh nimmt er ihn mit zu Besuchen bei seinen Patienten. Nach Abschluss der achtjährigen Schulzeit schickt er Charles 1825 zum Studium der Medizin an die Universität in Edinburgh, wo der ältere Bruder schon eingeschrieben ist. Darwin ist gerade 16 Jahre alt! Charles muss bei mehreren Operationen zusehen: Die grausamen Umstände setzen ihm sehr zu (die Narkose war noch nicht erfunden). Er empfindet auch eine starke Abneigung gegen das Sezieren, kann sich nicht vorstellen, Arzt zu werden, und so bricht er sein Studium nach zwei Jahren (1827) ab. Überhaupt hat er sich schon während des Studiums mehr für Geologie und Biologie interessiert, Vorlesungen besucht, und er hält mit 17 Jahren seinen ersten (natur-)wissenschaftlichen Vortrag.

Der Vater überlegt, was soll aus dem Sohn wohl werden soll, Pfarrer vielleicht … Und Charles kann sich durchaus vorstellen, Landpfarrer zu werden, da bleibt genügend Zeit für die Beschäftigung mit der Natur. Das Theologiestudium ist zur damaligen Zeit eine übliche Laufbahn für einen naturbegeisterten Menschen (alle späteren Lehrer, denen Darwin in den Naturwissenschaften begegnete, waren Natur-Theologen, oft im Hauptberuf Pfarrer).

Und so schreibt der Vater Charles 1827 in einem Elitecollege in Cambridge zum Studium ein. Im Christ´s College studiert Darwin gewissenhaft – alte Sprachen, Geometrie und Mathematik, Philosophie, und vor allem biblische Texte und theologische Literatur.

 

Zu Charles Darwins Pflichtlektüre (während seines Studiums in Cambridge ab 1827) gehören die theologischen Werke des 1805 verstorbenen Archidiakonus William Paley. …
Besonders beeindruckt Charles die „Natürliche Theologie“ von Paley. … eine Auffassung, die Gottes Wirken überall in der belebten Natur sehen will und durch die Zweckmäßigkeit der Organismen begründet. Paley benutzt dabei das althergebrachte Bild von der Uhr und dem Uhrmacher, um die Existenz Gottes zu beweisen. Angenommen, wir finden eine Uhr auf dem Wege liegen, argumentiert er, „wenn wir die Uhr aufheben und genau betrachten, bemerken wir …, dass ihre Teile für einen speziellen Zweck erfunden und zusammengefügt wurden … Der Mechanismus lässt unausweichlich darauf schließen, dass die Uhr einen Konstrukteur hat … der sie für diesen Zweck entworfen hat.“
Genauso, lehrt Paley, stehe es mit der belebten Natur. All ihre Teile griffen ineinander, jedes einzelne sei der Umwelt und den anderen Teilen sinnvoll angepasst. Allein durch die Weisheit und Güte ihres Schöpfers, sagt Paley, könne man die Zweckmäßigkeit der Organismen erklären.

(Steinmüller Charles Darwin S.86f.)

 

Besonders begeistern den jungen Charles aber auch hier die Biologie und die Geologie. Er sammelt weiter mit großer Leidenschaft: Seine Käfersammlung aus den Cambridger Jahren gibt es heute noch. Und er verschlingt fasziniert die Berichte von Alexander von Humboldts Weltreisen.
Darwin legt im Januar 1831 am College sein Abschlussexamen ab, als einer der Besten seines Jahrgangs. Er erwirbt den „Bachelor of Arts“, den ersten niedrigsten akademischen Grad. Das hätte ihm nun folgerichtig den Weg zur Ausübung des Berufes eines Geistlichen in der Anglikanischen Kirche eröffnet. Darwin ist jetzt 22 Jahre alt.
Aber im gleichen Jahr erfährt sein Leben eine entscheidende Wendung. Darwin erhält die Einladung, an einer Schiffsreise rund um die Welt teilzunehmen. Der Kapitän des Schiffes sucht einen gebildeten Begleiter, der aber auch während der Fahrt naturwissenschaftliche Beobachtungen und Untersuchungen vornehmen soll. Charles´ Vater ist gegen die Teilnahme – aber lässt sich überzeugen. 1831 besteigt Charles Darwin das Vermessungsschiff „Beagle“ (es handelt sich in Wirklichkeit um ein Kriegsschiff der britischen Krone, das die Küsten der Kontinente für die Weltmacht Britannia genauer kartieren soll). Das Schiff ist 31 Meter lang, und es hat 70 Mann Besatzung. Die Reisedauer ist ursprünglich mit zwei Jahren veranschlagt, erstreckt sich dann aber insgesamt über fünf Jahre. Die „Beagle“ segelt am südamerikanischen Subkontinent mehrmals an beiden Küsten hinauf und hinunter, und besucht am Ende die Galapagosinseln im Pazifik, die Südsee, Neuseeland, Australien, Südafrika, und noch einmal Südamerika, bevor sie wieder in England einläuft. Das vermutlich letzte Lebewesen, das Darwin noch persönlich „gekannt“ hat, war die Schildkröte „Harriet“, die er selbst von den Galapagosinseln mitgebracht und einem Zoo in Australien anvertraut hatte – sie starb Mitte 2006 im Alter von vermutlich 176 Jahren.
Charles Darwin sammelt, sammelt, sammelt: eine Fülle von Eindrücken und Erfahrungen, aber auch Mineralien, Fossilien, Tierkörper, Pflanzen. Die Funde werden mit anderen Schiffen nach Haus geschickt, Tagebücher halten die Eindrücke fest. Mit der Auswertung der Ergebnisse dieser Weltreise ist Darwin für den Rest seines Lebens beschäftigt.
Darwin ist jetzt 27 Jahre alt.
Nachdem er – seine Tagebücher legen davon Zeugnis ab – längere Zeit gerungen hatte, was für eine Heirat und was dagegen spreche, ehelichte Darwin im Alter von 30 Jahren 1839 seine Cousine Emma Wedgwood. Nach wenigen Jahren in London zogen sie 1842 in das „Down House“ in der kleinen Ortschaft Down (Grafschaft Kent). Dort stand im örtlichen Adressbuch ab sofort: „Charles Darwin, Farmer“. Darwin hat nie eine akademische Stellung innegehabt, etwa als Dozent oder Professor, er bleibt Zeit seines Lebens Privatgelehrter.

Emma und Charles Darwin haben zehn Kinder, von denen drei früh versterben. Darwin hat lebenslang darüber gegrübelt, ob die Verwandtenehe mit seiner Cousine richtig war.
Ein ganz entscheidender Einschnitt in Darwins Leben ist der überraschende und frühe Tod seiner Lieblingstochter: Annie stirbt 1851 im Alter von 10 Jahren.
Darwin ist so erschüttert, dass er nicht am Begräbnis teilnehmen kann. Noch Jahrzehnte später bewegt ihn das Ereignis tief:

 

„Wir haben nur ein sehr schweres Leid erfahren: Annies Tod am 24. April 1851 in Malvern, als sie gerade zehn Jahre alt war. … Immer noch kommen mir manchmal die Tränen …“

(Charles Darwin: Mein Leben (1882), Insel TB S.106)

 

Als er nach Monaten aus seiner tiefen Depression und Verzweiflung erwacht, hat er den einfachen Kinderglauben verloren, den Glauben an einen „lieben“ Gott, der immer als gütiger Vater erfahren wird, der Gebete erhört; Darwin hat keine Geborgenheit und keinen Trost gefunden.

Dieses Erlebnis verstärkt noch seine gesundheitlichen Beschwerden. Darwin war seit seinem 20. Lebensjahr krank, aber eine wirksame Therapie konnte nie gefunden werden. Bis heute ist offen, ob überhaupt ein organischer Schaden vorlag oder ob seine Beschwerden nicht immer auch psychosomatischer Art waren.
Darwin stürzt sich in seine Arbeit, er beobachtet, züchtet, liest und schreibt.
Er unterhält intensive Kontakte zu Fachkollegen aus der Welt der Naturwissenschaft, genannte seien z.B. der Botaniker John Stephens Henslow, der Botaniker Joseph Dalton Hooker, der Geologe Charles Lyell, der Zoologe Thomas Henry Huxley.

Erhebliche Aufregung verursacht im Jahre 1858 ein Brief des Naturforschers Alfred Russel Wallace, der in Südostasien lebt und forscht. Er schickt Darwin ein Manuskript zu, das er veröffentlichen möchte, das Darwin aber zuvor noch einmal kritisch gegenlesen soll. Darwin ist erschüttert: Seit über 20 Jahren beschäftigt er sich mit Gedanken zur Entwicklung der Arten auf der Erde, sammelt Belege, hat schon vor längerer Zeit begonnen, seine Erkenntnisse niederzuschreiben, aber bisher nicht öffentlich gemacht. Und nun ist Wallace zu genau den gleichen Schlussfolgerungen gelangt, droht ihm zuvorzukommen! Freunde, die Darwins Einsichten kennen, ermutigen ihn, seine Notizen noch einmal zu ordnen, und wenige Wochen später werden in einer Sitzung der Linné-Gesellschaft Auszüge aus beiden Manuskripten verlesen (in Abwesenheit der Autoren), und wenig später liegen sie gedruckt vor. Damit hat die Idee, die später „Evolutionstheorie“ heißen wird, eigentlich zwei Väter. Wallace ist mit dem Verfahren einverstanden. Und Charles Darwin schreibt nun endlich sein Buch „Über die Entstehung von Arten …“, das 1859 erscheint und das Weltbild der Biologie verändert. 12 Jahre später erscheint sein Werk „Die Abstammung des Menschen“.

Beschreibung: darwin_beisetzung1882

 

Charles Darwin stirbt 1882 im Alter von 73 Jahren.
Er wird in großen Ehren von seiner Nation zu Grabe getragen und in der Westminster-Abbey in London, einer der größten Kathedralen der Anglikanischen Kirche, beigesetzt – an der Seite des großen Physikers Isaac Newton.


2. Darwin als Naturwissenschaftler

 

Von seiner fünfjährigen Forschungsreise auf der „Beagle“ (1831 bis 1836) brachte Darwin eine Fülle von Eindrücken (Landschaften, Lebensweisen, Geologie) und umfangreiche Sammlungen (Fossilien, Tiere, Pflanzen) mit nach Hause, mit deren Auswertung er in den folgenden Jahren beschäftigt war, die er aber auch Fachkollegen zur Beurteilung überließ.

Beschreibung: darwin_arbeitszimmer-down-1882       Beschreibung: darwin_down_sein_denkweg

Darwins Arbeitszimmer in Down                    Darwins „Denkweg“ an seinem Haus in Down

 

Darwin fragte sich am Ende seines Lebens, warum er so erstaunlich erfolgreich hatte arbeiten können. In seiner Autobiographie notierte er:

 

… mein Erfolg als Wissenschaftler … ist von komplexen, verschiedenartigen Eigenschaften und Verfassungen meines Geistes bestimmt.

Die wichtigsten von ihnen sind

·         die Liebe zur Wissenschaft,

·         grenzenlose Geduld zu langem Nachdenken über jedes Thema,

·         Fleiß beim Beobachten und Sammeln von Tatsachen

·         und eine gehörige Portion Phantasie und gesunder Menschenverstand

(Charles Darwin: Mein Leben, Autobiographie, Insel Taschenbuch, 2008, S.157)

 

Auch seine Zeitgenossen haben ihn genau so erlebt.
Darwin war ein aufmerksamer und gründlicher Beobachter der Natur und der Lebensgewohnheiten von Pflanzen und Tieren. Er war faktenbesessen und ein intimer Kenner von Lebewesen. Als „Naturforscher“ hat er unbeirrbar und systematisch nach Fakten gesucht, blieb aber immer auch mitfühlend und ist dem Geschehen in der Natur ahnend und staunend begegnet.

Darwin führte selbst Züchtungsversuche durch (Pflanzen im Gewächshaus, Tauben). Er unterhielt intensive Kontakte mit anderen Züchtern und Naturforschern. Er hat zum einen viel gelesen (z.B. 1838 das Buch von Thomas Malthus: „Essay über das Bevölkerungsgesetz“, das bei ihm wichtige Überlegungen in Gang setzte). Und er hatte eine rege Korrespondenz. An seinem Wohnsitz Down bekam Darwin drei Mal täglich Post. 14.500 Briefe, die an ihn gerichtet bzw. von ihm geschrieben wurden, sind erhalten.

Darwin war ein gründlicher Arbeiter. Und er war bemüht, sich immer vorsichtig zu äußern (nur dazu etwas zu sagen, wo er meinte, genügend Belege zu haben), er war immer von Zweifeln geplagt (das Kennzeichen eines guten Wissenschaftlers), und er wollte sich eindeutig ausdrücken: Metaphern und Analogien sollten nicht missverstanden werden. Wann immer ihm zu Ohren kam, dass da etwas nicht gelungen war, versuchte er, in der nächsten Auflage seiner Bücher solche Missverständnisse aufzuklären.

Und er wusste selbst von sich, dass er „ehrgeizig“ war, „nach Anerkennung durch Wissenschaftler-Kollegen“ strebte (C.D.: Mein Leben S.153)

Darwin kam von der Schiffsreise als gestandener Naturwissenschaftler wieder.
Und er, den wir meist nur als Biologen kennen, wurde nach seiner Rückkehr zuerst in die Geological Society (die Geologische wissenschaftliche Gesellschaft Englands) aufgenommen. 1842 veröffentlichte Darwin als seine erste naturwissenschaftliche Schrift das Buch „Über den Bau und die Verbreitung der Korallen-Riffe“. Die Theorie, die er darin entwickelte (Entstehung der kreisförmigen Riffe durch das allmähliche Absinken von Vulkankratern zum Meeresgrund), begründete Darwins Ruf als Naturwissenschaftler.
Darwin schrieb im Laufe seines Lebens fast 20 Bücher und darüber hinaus viele Fachartikel.

Nur einige der Buchtitel seien hier aufgeführt, um die Vielfarbigkeit seiner Interessen zu illustrieren:

Acht lange Jahre seines Forscherlebens arbeitete Darwin an einem mehrbändigen Werk über Rankenfüßer (das sind unscheinbare kleine Krebse, die sich in die Schalen von Muscheln bohren und dort schmarotzen) – er hatte damit angefangen, diese Lebewesen interessierten ihn, und er brachte das Werk tapfer und gründlich und konsequent zu Ende!

 

Im Weiteren soll auf einige Aussagen aus zwei seiner wichtigsten Bücher eingegangen werden, um einige ganz unterschiedliche Aspekte im Leben und Werk des Forschers deutlich zu machen:

Über die Entstehung von Arten“ (1859)“
und

Die Abstammung des Menschen“ (1871).

Viele Erklärungen, die er in diesen Büchern vorstellt, haben sich in den folgenden Jahrzehnten bestätigt (z.B. hat Darwin von Molekularbiologie nichts wissen können, heute lassen sich dort Hinweise auf die Verwandtschaft aller Lebewesen und auf Abstammungslinien ableiten, die völlig unabhängig von Fossil-Befunden sind, aber zu praktisch den gleichen Ergebnissen führen). Manche Idee war zu seiner Zeit noch visionär, manche Vorstellung hat sich als richtig erwiesen, manche Vermutungen erwiesen sich als falsch oder zu eng.

 

 

2.1 „Über die Entstehung von Arten“

Uns ist Darwin vor allem bekannt als Begründer der Evolutionstheorie.
Nicht lange nach Abschluss der Reise mit der „Beagle“ ging Darwin daran, seine Erkenntnisse und Ideen zu Papier zu bringen – zu dem, was wir heute „Evolutionstheorie“ nennen.

 

Darwin selbst spricht nicht von Evolution, weil dieser Begriff zu seiner Zeit noch anderweitig vergeben war, sondern von transmutation oder von descent with modification

(Gerhard Vollmer: Biophilosophie, Reclam Stuttgart, 1995, S. 96)

 

In Darwins „Notizbuch B“ aus dem Jahre 1837 findet sich eine Skizze: „Ich denke…“ schreibt er darüber, und skizziert dann (vielleicht ist das so zu deuten) einen „Stammbaum“.
Beschreibung: darwin_1837_NotebookB_IThinkEr schreibt rückblickend: „1839 hatte ich ein klares Konzept von meiner Theorie, aber erst 1859 veröffentlichte ich das Buch“ (C.D.: Mein Leben S.134). Die ersten ausführlichen Notizen zur Theorie sind aus dem Jahre 1842 erhalten, 1844 waren es schon 230 Seiten, die er aber unter Verschluss hielt.

 

Darwin schreibt am 11.1.1844 an J.D.Hooker:

 

„Ich habe Haufen von Bücher über Agrikultur und Hortikultur (Gartenbau JK) gelesen und habe nie aufgehört, Tatsachen zu sammeln. Endlich kamen Lichtstrahlen, und ich bin beinahe überzeugt (der Meinung, mit welcher ich an die Frage herantrat, völlig entgegengesetzt), dass die Spezies nicht (mir ist, als gestände ich einen Mord ein) unveränderlich sind. Der Himmel bewahre mich vor LAMARCKschem Unsinn einer „Neigung zum Fortschritt“ oder „Anpassung infolge des langsam wirkenden Willens der Tiere“ usw.! Aber die Schlussfolgerungen, auf welche ich geführt worden bin, sind von den seinigen nicht sehr verschieden, obschon die Abänderungsmittel es gänzlich sind. Ich glaube, ich habe (hier ist Anmaßung!) die einfachen Mittel gefunden, durch welche Spezies verschiedenen Zwecken ausgezeichnet angepasst werden.“

(aus Fr. Darwin: Leben und Briefe von Ch. Darwin übers..: Carus, Band II, S.23;
zit. nach: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen; Fernstudium Naturwissenschaften; Evolution der Pflanzen- und Tierwelt; Band 3: Theoretische Grundlagen der Evolutionsbiologie, 1986, S.68)

 

Er zögerte … Ende der 1850er Jahre drängten ihn Freunde und Fachkollegen zur Veröffentlichung. Ein anderer Naturforscher, Alfred Russel Wallace, schickte Darwin 1858 eine Abhandlung – und die enthielt genau die gleiche Theorie wie Darwins Vorstellungen. Die Texte beider Autoren wurden in der gleichen Sitzung der wissenschaftlichen Linné-Gesellschaft verlesen (durch Lyell und Hooker) und später gedruckt.

Nun stellte Darwin sein Buch in wenigen Monaten fertig. Die erste Auflage des Buches „Über die Entstehung von Arten …“ erschien 1859, und sie war am ersten Tag ausverkauft.

Das Buch, meist nur mit einem „Kurztitel” zitiert, hat den Titel:

„On the origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life (Über die Entstehung von Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung begünstigter Rassen im Kampf ums Dasein).

 

Darwin stellt seinem Buch “Über die Entstehung von Arten” als Motto folgende Zitate voran:

„Bei der Betrachtung der materiellen Welt können wir so weit gehen, dass wir erkennen, dass die Erscheinungen nicht durch unabhängige Eingriffe der Göttlichen Macht herbeigeführt wurden, ausgeübt in jedem einzelnen Fall, als vielmehr durch das Aufstellen von allgemeinen Gesetzen.“ (WHEWELL: Bridgewater Treatise)

„Schlussfolgernd also lasse man niemanden aus einer schwachen, eingebildeten Ernsthaftigkeit heraus oder in einer falsch verstandenen Zurückhaltung denken oder daran festhalten, dass man das Buch von Gottes Wort oder das Buch von Gottes Werken jemals zu weit oder zu genau ergründen könne, in der Theologie oder in der Philosophie (Welt-Anschauung, Naturkunde), sondern es möge sich jedermann bemühen, unendlichen Fortschritt und Fertigkeiten auf beiden Gebieten zu erreichen.“ (BACON: Advancement of Learning)

(in den deutschen Übersetzungen sind diese Sätze in der Regel nicht mit abgedruckt, zu finden im engl. Original, z.B. 1.Auflage: http://darwin-online.org.uk/content/frameset?itemID=F373&viewtype=text&pageseq=1. dort S.II)

 

Man beachte, dass (ausgerechnet!) Darwin damit in den ersten Sätzen seines wichtigsten Buches von Gott schreibt – und er nimmt diesen Gedanken im letzten Satz wieder auf!
Darwin wollte in diesem Buch nicht erklären, wie manchmal hineingedeutet wird, wie das Leben auf der Erde entstanden ist (aus unbelebter Materie). Das war für ihn eine spannende, aber jetzt nicht zu lösende und vielleicht überhaupt nicht lösbare Frage:

„In welcher Weise die geistigen Kräfte bei den niedrigsten Organismen zuerst entwickelt wurden,
ist ebenso hoffnungslos zu untersuchen, wie in welcher Weise das Leben entstanden sei.
Das sind Probleme für eine ferne Zukunft, sofern sie überhaupt von Menschen gelöst werden können.“
(C.D.: Die Abstammung des Menschen, Bd. I, S.98)

Darwin wollte lediglich zu erklären versuchen, wie neue Arten aus bereits vorhandenen Arten hervorgehen …

 

Darwin weist als fairer Wissenschaftler darauf hin, dass Wallace der Mitentdecker der Theorie ist, und er ahnt auch (mit Stolz und Angst zugleich), dass die hier vorgestellten Gedanken große Wellen schlagen werden:

„Wenn die Ansichten, die ich in dem Werke entwickelte und die von Wallace bestätigt wurden, oder wenn ähnliche Ansichten über die Entstehung der Arten allgemein zugegeben würden, so muss, wie wir dunkel voraussehen können, eine große Umwälzung der Naturwissenschaften die Folge sein.“

(C.D.: Entstehung der Arten, S. 534)

 

Er schildert den Meinungswandel, den er erlebt hat, und der den Ansichten der meisten Naturwissenschaftler seiner Zeit entgegensteht (nicht nur dem Wortlaut der Bibel!), dass nämlich die (heutigen) Arten nicht von Anfang an existiert haben und dass sie nicht unveränderlich sind. Und er weiß, dass er mit der „natürlichen Zuchtwahl“ (selection) einen wichtigen Mechanismus entdeckt haben könnte, lässt aber offen, dass durchaus auch weitere Faktoren eine Rolle bei der Erklärung der Entwicklungsprozesse spielen könnten.

„Auf Grund meiner sorgsamen Studien und des unbefangensten Urteils, dessen ich fähig bin, halte ich trotzdem die Meinung für irrig, der bis vor kurzem die meisten Naturforscher zuneigten (wie auch ich selber in früheren Jahren), dass nämlich jede Art selbständig erschaffen worden sei. Ich bin fest überzeugt, dass die Arten nicht unveränderlich, sondern dass die zu einer Gattung gehörenden die Nachkommen anderer, meist schon erloschner Arten und dass die anerkannten Varietäten einer bestimmten Art Nachkommen dieser sind. Ebenso fest bin ich überzeugt, dass die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch nicht das einzige Mittel der Abänderung war.“
(C.D.: Entstehung der Arten, S.18)

 

Einer der Vorläufer Darwins in der Biologie, Carl von Linné, hatte schon mehr als hundert Jahre früher mit diesen Fragen gerungen. Zum einen war er, wie praktisch alle Naturforscher bis zu Darwin, von der Unveränderlichkeit der Arten überzeugt, zum anderen stellte er in seinem System der Natur den Menschen als biologisches Lebewesen in die Nähe der Primaten:

Carl von Linné (1735) (benutzte den biblischen Artbegriff):
„Es gibt so viele verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen, als im Anfang von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind."

(Ernst Haeckel: Die Welträthsel, Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1903, S.96)


(zu Carl von Linné:)
In der 12. Auflage seines Werkes „systema naturae“ (zuerst erschienen 1735) rechnet der Forscher den Menschen, für den er den Begriff Homo Sapiens prägt, gemeinsam mit Schimpansen und Orang-Utans wegen anatomischer Ähnlichkeiten der Ordnung der Primaten zu.

(GEO kompakt 14: Die 100 größten Forscher aller Zeiten, 2008, S. 56)

 

Darwin brachte eigentlich zwei Theorien in die Welt der Biologie:
a) Er begründete die Abstammungslehre
    (durch Beobachtungen, z.B. an Fossilien, kommt er zu dem Befund:
    Lebewesen haben sich im Laufe einer langen Erdgeschichte verändert,
    viele Arten sind ausgestorben, neue sind später aufgetaucht)

b) Er stellte eine (Evolutions-)Theorie zur Diskussion, die Mechanismen vorstellt,
    wie das Entstehen neuer Arten aus vorhandenen Arten erklärt werden könnte.

 

Grundlegende Aussagen der Theorie Darwins, die noch heute gültig sind:

           Lebewesen aller Arten erzeugen mehr Nachkommen, als zur Erhaltung der Art notwendig sind (Überproduktion). Die Individuenzahl einer Art bleibt trotzdem langfristig konstant.

           Die Nachkommen eines Elternpaares sind untereinander verschieden (weisen Variationen auf).

           Lebewesen stehen untereinander in einem ständigen Wettbewerb um Nahrung, Lebensraum, Geschlechtspartner usw.

Diesen Wettbewerb nannte DARWIN „struggle for life“. Lebewesen, die gut an ihre Umwelt angepasst sind, haben bessere Überlebenschancen als weniger gut angepasste („survival of the fittest“). Damit ist auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass gut angepasste Inividuen sich fortpflanzen und ihre Erbanlagen an die nächste Generation weitergeben können. Andere mit weniger guten Anpassungen sterben, bevor sie Nachkommen haben. Durch diese natürliche Auslese („natural selction“) kommt es zu einer immer besseren Angepasstheit der Lebewesen an ihre Umwelt und zu einer allmählichen Umbildung der Arten.
(Vorteilhaft ist die gute Anpassung natürlich nur, solange sich die UMWELT nicht merklich verändert und neue Anforderungen stellt.)

(nach: Klett, Natura 2, Biologie für Gymnasien, 1991, S.355)

 

Darwin weiß, dass es viele Einwände gegen seine Theorie gibt. Er verdrängt und verschweigt solche Fragen in seinem Buch nicht, sondern stellt sich ihnen offensiv. Er schreibt ein eigenständiges Kapitel, in dem er auf die „Schwierigkeiten der Theorie“ ausführlich eingeht (C.D.: Die Entstehung der Arten, S.179ff.): Fragen wie die nach fehlenden Übergangsformen (missing links), nach dem Entstehen neuer Körperbautypen, nach Mechanismen, welche die Bildung von komplexen Organen erklären könnten; nach der Herausbildung der Instinkte, nach der Bedeutung von Doppelfunktionen bzw. Funktionswechsel von Organen werden behandelt.

Da stellt Darwin z.B. – scheinbar resignierend - fest:

„Die Annahme, dass das Auge mit all seinen unnachahmlichen Einrichtungen – die Linse den verschiedenen Entfernungen anzupassen, wechselnde Lichtmengen zuzulassen und sphärische wie chromatische Abweichungen zu verbessern – durch die natürliche Zuchtwahl entstanden sei, erscheint, wie ich offen bekenne, im höchsten Grade als absurd.“
(C.D.: Die Entstehung der Arten, S.192ff.)

Im Anschluss daran versucht er dennoch, eine ausführliche und nachvollziehbare Erklärung für die Evolution des Auges in der Geschichte der Lebewesen zu geben.

 

Darwin versucht, Begriffe, die missverstanden oder falsch gedeutet werden könnten, möglichst klar zu definieren und zu erläutern. So schreibt er z.B. zu dem schillernden Begriff „Zufall“:

„Ich habe bis jetzt das Wort „Zufall“ (engl. hier: chance!) gebraucht, wenn von Veränderungen die Rede war. die bei organischen Wesen ... auftreten.

Das Wort „Zufall“ ist natürlich keine richtige Bezeichnung, aber sie lässt wenigstens unsere Unkenntnis der Ursachen besonderer Veränderungen durchblicken.“
C.D.: Entstehung der Arten, S.146

 

Zum einen schwingt bei dem Sinngehalt „Chance, Gelegenheit“ eine ganz andere, positive Bedeutungsebene mit als im Deutschen bei „bloßer sinnloser Zufall“. Und zum zweiten macht Darwin deutlich, dass ein Wissenschaftler, der das Wort Zufall wählt, damit aussagt, dass er für einen bestimmten Vorgang in der Natur (noch) keine logisch überzeugende Erklärung geben kann.

 

Ein ganzes Kapitel in seinem Buch widmet Darwin dem „Kampf ums Dasein“ (Struggle for Life, Struggle for Existence).
Diesen Begriff hat Darwin nicht „erfunden“, er nutzte ihn, wie ihn schon früher z.B. Malthus, Lyell und Wallace gebraucht hatten. Und „struggle“ wurde in der ersten Übersetzung seines Buches als „Kampf“ ins Deutsche übertragen, und dort führt der Begriff seitdem ein missverständliches Eigenleben …
Darwin ahnte das wohl, als er versuchte, gleich einleitend in seinem Buch deutlich zu machen, was er unter „struggle“ verstanden wissen wollte:

... dass ich die Bezeichnung „Kampf ums Dasein“ in einem weiten metaphorischen Sinne gebrauche, der die Abhängigkeit der Wesen voneinander, und was noch wichtiger ist: nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch seine Fähigkeit, Nachkommen zu hinterlassen, mit einschließt. Mit Recht kann man sagen, dass zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Dasein miteinander kämpfen; man kann aber auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste mit der Dürre ums Dasein, obwohl man das ebenso gut so ausdrücken könnte: sie hängt von der Feuchtigkeit ab.
... eine Pflanze, die jährlich Tausende von Samenkörnern erzeugt, von denen aber im Durchschnitt nur eines zur Entwicklung kommt, ... kämpfe ums Dasein mit jenen Pflanzen ihrer oder anderer Art, die bereits den Boden bedecken ... die Misteln kämpften mit anderen fruchttragenden Pflanzen, um die Vögel zu verleiten, lieber ihre Samen zu fressen und zu verstreuen (S. 76f)
… Einfluss des Klimas im Kampf ums Dasein; Arktis, Berggipfel, Wüsten: hier wird der Kampf ums Dasein fast nur gegen die Elemente geführt (S. 81f)
… Kampf ums Dasein zwischen Heuschrecken und grasfressenden Säugetieren, aber noch erbitterter zwischen Individuen derselben Art (S. 87f)

(C.D.: Die Entstehung der Arten)

 

Zum Verständnis des Wortes „struggle“ im zeitgenössischen Kontext führt das Nachwort der in der DDR erschienenen Übersetzung des Buches aus:

„Aus diesen Bedeutungen geht hervor, dass struggle nicht nur und nicht einmal in der Hauptsache, einen Gewaltkampf bedeutet, einen Kampf mit Hörnern und Klauen oder Säbeln und Pistolen, sondern ebenso und noch mehr irgendein Verhalten oder eine Tätigkeit, sich irgendwelcher Widerwärtigkeiten zu entziehen oder zu erwehren.“ – „sich abmühen, sich anstrengen, ringen, gegen Widerwärtigkeiten ankämpfen“
(C.D.: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Reclam Leipzig 1980, S.547ff.)

In diesem Wettbewerb kann auch der der „Gewinner“ sein, der ängstlicher und vorsichtiger ist als andere Artgenossen (rechtzeitig vor Feinden flieht), der sich intensiv um seine Nachkommen kümmert (Brutpflege, die einen besseren Start ins Leben ermöglicht), der neugierig ist und z.B. in Notzeiten neuartige Nahrungsquellen ausprobiert …

„... dass ich wiederholt ein Erstaunen darüber hörte, dass Ungeheuer vom Schlage der Mastodonten oder der noch älteren Dinosaurier aussterben konnten;
als ob bloße Körperkraft schon den Sieg im Kampf ums Dasein verbürgte!“

(C.D.: Die Entstehung der Arten, S.376)

 

In Darwins Hauptwerk wird übrigens auch deutlich, dass Darwin selbst gar kein konsequenter „Darwinist“ ist. Er hält durchaus eine Vererbung erworbener Eigenschaften – wie Lamarck! – für möglich:

„Änderungen der Gewohnheiten bringen eine erbliche Wirkung hervor, z.B. bei Pflanzen, wenn sie in der Blütezeit aus einem Klima in ein anderes versetzt werden. Bei Tieren hat der Gebrauch oder Nichtgebrauch der Teile viel stärkeren Einfluss.“
„… dass der Gebrauch gewisse Teile kräftigt und vergrößert, während der Nichtgebrauch sie schwächt;
und es geht ferner daraus hervor, dass solche Modifikationen erblich sind.“
(C.D.: Entstehung der Arten, S.25;148)

 

Recht interessant können die letzten Sätze in Büchern sein.
Man sollte hier wohl davon ausgehen können, dass der Autor nicht mit irgendeinem belanglosen Gedanken schließt, sondern sein Werk abrunden möchte.

 

Der letzte Satz in Darwins Buch „Über die Entstehung von Arten“ lautet:

„Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, dass das Leben mit seinen verschiedenen Fähigkeiten vom Schöpfer ursprünglich nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht wurde,
und dass, während dieser Planet nach dem ehernen Gravitationsgesetz seine Kreise zieht,
aus einem so schlichten Anfang unzählige der schönsten und wunderbarsten Formen entwickelt wurden und immer weiter entwickelt werden.“

 

(engl. Original):
„There is grandeur in this view of life, with its several powers, having been originally breathed by the Creator into a few forms or into one; and that, whilst this planet has gone cycling on according to the fixed law of gravity, from so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being, evolved.“

 

In der ersten Auflage – die auch heute noch Grundlage mancher Übersetzungen ist – fehlt das Reden „vom Schöpfer“ („by the Creator“). Diese Worte hat Darwin erst von der zweiten Auflage an in den Text eingefügt, offenbar, weil es ihm wichtig war, und sie sind bis zur letzten zu seinen Lebzeiten erschienenen Auflage des Buches erhalten geblieben.

Der „Schöpfer“ taucht auch nicht zufällig und singulär in diesem Buch auf – nur eine Seite vorher schreibt Darwin z.B. von den „vom Schöpfer der Materie eingeprägten Gesetzen“ (S.537).

In diesem letzten Satz begegnet dem Leser ein Naturwissenschaftler, der das Staunen nicht verlernt hat („schönste und wunderbarste Formen“, denen er in der Natur begegnet). Darwin interessiert sich auch für Erkenntnisse der Naturwissenschaften, zu denen er nichts beigetragen hat (er steht fasziniert vor den ehernen Gesetzen der kosmischen Physik). Und mit dem „Schöpfer“, der nach Darwins Verständnis der tragende Urgrund und Anfang all dieses Geschehens ist, hat der Satz gewissermaßen – und nicht nur grammatisch – ein handelndes Subjekt bekommen. Das macht dann auch die oben wiedergegebene Übersetzung möglich (in anderen Übersetzungen steht hier: „entstand und weiter entsteht“ oder „sich entwickelt hat und noch immer entwickelt“).

Darwin kann also auch und gerade an dieser Stelle von einem „Schöpfer“ sprechen. Dabei hat er natürlich ein Bibel- und Gottesverständnis, das mit dem vieler seiner Zeitgenossen nicht übereinstimmte.
Darwin hat sich an einem Weltverständnis und an Schöpfungsvorstellungen „gerieben“, die zu seiner Zeit weit verbreitet waren, praktisch Allgemeingut darstellten sowohl in der Naturwissenschaft wie auch in der Theologie und in der Volksfrömmigkeit. Danach war die Welt exakt so entstanden, wie das im wörtlichen Verständnis aus (den ersten Sätzen) der Bibel herausgelesen werden kann. Kosmos, Erde und Lebewesen sind danach vor etwa 6000 Jahren entstanden. Gott hat in sechs (Kalender-)Tagen am Anfang alle Arten von Leben so geschaffen, wie sie uns heute noch begegnen, sie haben sich nicht verändert.
Darwin meinte erkannt zu haben und belegen zu können, dass die Erde viel viel älter sein musste (versteinerte Muscheln in Gebirgsgestein) und dass Arten sich im Laufe der Erdgeschichte verändert hatten, frühere ausgestorben und neue aufgetaucht waren. Praktisch nur an diesem Punkt polemisierte und argumentierte er gegen die verengte Sicht, gegen das „Dogma von den besonderen Schöpfungsakten“, und wandte sich damit gegen ein bestimmtes Bibelverständnis.
Die großen christlichen Kirchen vertreten schon lange kein wörtliches Bibelverständnis mehr, wohl aber halten viele Christen auch heute noch daran fest, und es wird vor allem von den so genannten „Kreationisten“ gegen Evolutionsvorstellungen vorgebracht. Den Begriff „creationists“ verwendete schon Darwin in seinen Briefen, um damit Anhänger einer Schöpfungsvorstellung zu kennzeichnen, die sich am Wortlaut der Darstellungen im 1. Kapitel der Bibel orientieren.
Hier sei ein Beispiel aus einer Selbstdarstellung gemäßigter deutscher Kreationisten aus dem Jahre 2008 angefügt:

(Bibel- und Weltverständnis bei WORT UND WISSEN)

„Die Studiengemeinschaft Wort und Wissen … lehnt die Evolutionslehre, auch in der theistischen Version, ab, weil durch sie grundlegende biblische Inhalte in Frage gestellt werden …“ (S.7)

„Wir glauben … dass das biblische Zeugnis Wahrheit vermittelt hinsichtlich … historischer Zusammenhänge. Dazu gehört auch die Realität der Schöpfung als historische Tatsache.“ (S.11)

„… vom Leitgedanken einer kurzen, biblisch bezeugten Erdgeschichte und von der Historizität einer weltumspannen­den Sintflut bestimmt … Wir gehen davon aus, dass Grundtypen aller Lebewesen als klar voneinander getrennte For­men in der Schöpfungswoche erschaffen wurden.“ (S.14)

„Biblische Schöpfungsaussagen enthalten naturwissenschaftlich relevante Elemente
Alter des Lebens in der Größenordnung von ca. 10.000 Jahren …“ (S.46ff.)

(Henrik Ullrich, Reinhard Junker (Hrsg.): Schöpfung und Wissenschaft – Die Studiengemeinschaft WORT UND WISSEN stellt sich vor; Hänssler Verlag Holzgerlingen 2008)

 

Mit der Ablehnung eines wörtlichen Bibelverständnisses „verabschiedet“ sich Darwin nicht vom „Schöpfer“.
In der 2. englischen Auflage des Buches „Über die Entstehung von Arten …“ von 1860 charakterisiert Darwin seine Evolutionstheorie in folgender Weise:

So gewichtig diese Schwierigkeiten sind, in meiner Beurteilung stürzen sie nicht die Theorie der Abstammung von einigen wenigen geschaffenen Formen mit anschließender Veränderung.
(Grave as these several difficulties are, in my judgment they do not overthrow the theory of descent from a few created forms with subsequent modification.)

(http://darwin-online.org.uk/content/frameset?itemID=F376&viewtype=text&pageseq=1 dort S.466)

 

Darwin geht also hier davon aus, dass am Anfang wenige geschaffene Formen (Arten?) stehen, die dann im Laufe der weiteren Erdgeschichte Veränderungen erfahren (die nach seiner Abstammungstheorie beschrieben werden können)!

 

 

 

2.2 „Die Abstammung des Menschen“

 

In dem eben vorgestellten Buch „Über die Entstehung von Arten“ steht nur ganz am Ende ein Satz, der auf die Abstammung des Menschen hinweist:

„Licht wird fallen auf die Herkunft des Menschen und seine Geschichte“

(C.D.: Entstehung der Arten, S.537)

Mehr konnte und wollte Darwin dazu an dieser Stelle nicht sagen (siehe C.D.: Mein Leben, S.141).

Erst in der sechsten und letzten Auflage des Werkes „Über die Entstehung von Arten“ bekannte er sich dazu, dass natürlich aus seiner Entstehungsgeschichte der Pflanzen und Tiere auch der Mensch nicht ausgeklammert werden konnte, und ergänzte den Satz nun mutig und selbstbewusst um ein „MUCH (light) …“ (ein grelles Licht wird fallen …).
In der ersten deutschen Übersetzung des Buches wurde der brisante Satz übrigens vorsichtshalber gleich ganz weggelassen!
Darwin hatte sich lange Zeit gescheut, etwas zu diesem polarisierenden Thema zu veröffentlichen:

„Viele Jahre hindurch habe ich Notizen gesammelt über den Ursprung oder die Abstammung des Menschen, ohne Absicht, über diesen Gegenstand etwas zu veröffentlichen;
ich wollte dies entschieden vermeiden, denn ich glaubte, es könnte nur die Vorurteile vermehren, welche meinen Ansichten entgegengestellt wurden.“
(C.D.: Die Abstammung des Menschen, Bd.1, S.3)

 

Sein Buch trägt den ausführlichen Titel „Die Abstammung des Menschen und die Zuchtwahl in geschlechtlicher Beziehung.
Darin äußert sich Darwin an verschiedenen Stellen zu seinem Verständnis von wissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt: Es handelt sich um einen mühsamen Weg, vieles verstehen wir (heute) überhaupt (noch) nicht, und Spekulationen (irrige Hypothesen) können und werden widerlegt werden.

„Es wurde oft und zuversichtlich behauptet, der Ursprung des Menschen könne nicht ergründet werden, und Unwissenheit findet häufiger Vertrauen als Wissen. Es sind diejenigen, die wenig wissen und nicht diejenigen, die viel wissen, welche mit einer Bestimmtheit zu behaupten pflegen, dieses oder jenes Problem werde durch die Wissenschaft niemals gelöst werden.“ (Bd.1, S.5)

„Hinsichtlich der Ursachen der Variabilität sind wir in allen Fällen ohne Kenntnis dessen ...“ (Bd.1, S.42)

„Manche der vorgebrachten Ansichten sind höchst spekulativer Art und einige werden sich sicherlich als irrig erweisen; aber ich habe in allen Fällen die Gründe angeführt, welche mich mehr zu der einen oder der anderen Ansicht veranlassten. ... unrichtige Ansichten, die einigermaßen von Beweisen unterstützt werden, können nur wenig schaden, denn jedermann findet ein heilsames Vergnügen darin, ihre Unrichtigkeit zu erproben. Und ist dies geschehen, so wird dadurch der Weg zum Irrtume verlegt und oft auch gleichzeitig ein Weg zur Wahrheit geöffnet.“ (Bd.2, S.409)
(C.D.: Die Abstammung des Menschen)

 

Ein Beispiel dafür, dass Darwin manches zu seiner Zeit noch nicht sehen konnte oder in seiner Wirkung unterschätzt hat, sei hier angeführt:

Darwins blinder Fleck … Er verkennt die Macht der kulturellen Evolution, die sich spätestens mit der Sesshaftwerdung des Menschen über die biologische Evolution zu erheben begann. Anders als seine nächsten Verwandten kann Homo sapiens die verfügbare Nahrungsmenge über ihre natürlichen Grenzen steigern. Ohne Ackerbau und Viehzucht, ohne Züchtung und Lebensmitteltechnologie hätte unsere Art schon die Mitgliederzahl von einer Milliarde zu Darwins Zeiten nie erreicht.
Seither hat die Menschheit mit kulturellen Errungenschaften, mit medizinischem und technischem Fortschritt, ihre Zahl auf bald sieben Milliarden gesteigert und die biologische Evolution mehr und mehr überwunden. Die wichtigste Voraussetzung für die natürliche Auslese – eine Überzahl an Nachkommen, von denen sich im Schnitt nur ein Teil weitervermehrt – ist in modernen Gesellschaften immer weniger gegeben. Mit zwei Kindern pro Paar und einer Überlebensrate bei Neugeborenen nahe hundert Prozent ist die Selektion im Darwinschen Sinne praktisch zum Erliegen gekommen. …
(Die Zeit 31.12.08 S.29f.)

 

Darwin verwendet in seiner Darstellung Begriffe, die uns durchaus anstößig erscheinen:

(Darwin schreibt von)

(I 67, I 137) „barbarischen Rassen“;
(I 97) „niedrigsten Barbaren“;
(I 196) „rohesten Wilden“

(I 67) (im Unterschied zu) „zivilisierten Rassen“

 

(Die Abstammung des Menschen …)

 

Aber an anderer Stelle wird deutlich, dass es für ihn keinen grundlegenden Unterschied zwischen Menschen gibt, „Rasse“ ist für ihn ein fließender Begriff:

(Auch wir (die Briten, die Europäer) waren einst „Wilde)

 

(II 428) „Es kann aber kaum in Zweifel gezogen werden, dass wir von Wilden abstammen.“

(Wir alle sind MENSCHEN!)

(I 71) „Der Mensch hat sich weit über die Erdoberfläche verbreitet ...“
(und dann nennt Darwin (innerhalb der Gattung Mensch):
„die Bewohner des Feuerlandes, des Kaps der guten Hoffnung, Tasmaniens auf der einen Hemisphäre und des arktischen Gebietes auf der anderen Seite ...“
(I 217) (Darwin bescheinigt den) „eingeborenen Peruanern und Mexikanern ... eine hohe (eigenständige) Kultur“
(I 250) „Selbst die unterschiedlichsten Menschenrassen sind einander ähnlicher in der Form, als man auf den ersten Blick hin annehmen möchte.“
(I 267) Urbewohner Amerikas, die Neger, die Europäer ... wie ähnlich ihre geistige Beschaffenheit der unsrigen ist;
(I 296) „Diese große Variabilität aller äußerlichen Unterschiede zwischen den Menschenrassen zeigt ..., dass diese nicht von großer Wichtigkeit sein können ...“
(I 175) „Die Sklaverei ... ist ein großes Verbrechen; dennoch wurde sie bis vor kurzem selbst von den zivilisierten Völkern nicht dafür gehalten.“

 

(C.D.: Die Abstammung des Menschen)

 

In der „Abstammung der Arten wird an verschiedenen Stellen die Wertschätzung deutlich, die Darwin der (christlichen) Religion entgegenbringt:

(Darwins Wertschätzung von Religion)

 

          (I 139) (die höhere Frage) „ob ein Schöpfer oder Weltenlenker existiere; diese ist von vielen der größten Geister, die je auf Erden waren, zustimmend beantwortet worden.“

          (I 168 Fußnote) „Böses mit Gutem zu vergelten, den Feind zu lieben, ist ein so hoher sittlicher Standpunkt, dass zu bezweifeln ist, ob die geselligen Instinkte an und für sich uns je dahin hätten bringen können. Vereint mit der Sympathie, mussten diese Instinkte mit Hilfe der Vernunft, der Belehrung und der Liebe oder Furcht vor Gott hoch kultiviert und erweitert werden, ehe eine so goldene Regel je erdacht oder befolgt werden konnte.“

          (I 216) „Die höchste Form der Religion – der große Gedanke von einem Gott, der die Sünde hasst und die Rechtschaffenheit liebt – war in den Urzeiten unbekannt.“

          (II 418) „Bei den zivilisierten Rassen hat die Überzeugung vom Dasein eines allwissenden Gottes einen mächtigen Einfluss auf den Fortschritt der Sittlichkeit gehabt ...
Der Glaube an Gott wurde oft nicht nur als der größte, sondern auch als der vollkommenste aller Unterschiede zwischen Mensch und niedrigerem Tiere vorgebracht. ...“

 

(C.D.: Die Abstammung des Menschen)

 

Dass Darwin für brutale Selektion auch beim Menschen, Ausmerzen lebensunwerten Lebens usw. NICHT in Anspruch genommen werden kann, zeigt folgendes Beispiel. Darwin schreibt zunächst:

„Bei Wilden werden die an Körper oder Geist Schwachen bald entfernt sein, und die Überlebenden weisen gewöhnlich einen kräftigen Gesundheitszustand auf. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun das Möglichste, um diesen Entfernungsprozess zu hemmen; wir bauen Asyle für Blödsinnige, Krüppel und Kranke; wir erlassen Armengesetze und unsere Ärzte wenden ihre ganze Geschicklichkeit an, um das Leben jedes Menschen so lang wie nur möglich zu erhalten. Es lässt sich mit Grund annehmen, dass die Impfung Tausenden das Leben erhalten habe, die infolge ihrer schwachen Konstitution früher den Pocken erlegen wären. Dermaßen können die schwachen Mitglieder der zivilisierten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, der die Züchtung von Haustieren beobachtet hat, wird zweifeln, dass das erwähnte Vorgehen für die menschliche Rasse höchst schädlich sein muss. ...

(C.D.: Die Abstammung des Menschen, Bd.1, S.200)

Für das Überleben eines Lebewesens in der Natur wie auch im Handeln eines Züchters, der nur die „gelungenen“ Exemplare auswählt und die anderen nicht zur Fortpflanzung kommen lässt, wäre die Fürsorge, die in der menschlichen Gesellschaft Schwachen, Kranken und Behinderten zuteil wird, „höchst schädlich“.
Also weg mit ihnen! … So würde ein vermeintlich konsequenter „Darwinismus“ votieren, der vom Sein (so macht es uns die Natur vor) auf das Sollen (so müssen auch wir Menschen und verhalten) schließt.

Darwin aber fährt überraschend anders fort:

 

Der Beistand, den wir uns genötigt fühlen, den Hilflosen zu leisten, ist hauptsächlich ein incendentales Ergebnis des Instinkts der Sympathie, der ursprünglich als ein Teil der geselligen Instinkte erworben worden war, in der Folge jedoch, ... zarter und verbreiteter wurde. Auch können wir unsre Sympathie nicht hemmen, selbst dann nicht, wenn starke Vernunftgründe dawider sind, ohne den edelsten Teil unserer Naturheit zu verletzen ... wollten wir die Schwachen und Hilflosen vernachlässigen, so würden wir nur einen ungewissen Vorteil mit einem überwältigenden gegenwärtigen Übel erwerben.“
(C.D.:: Die Abstammung des Menschen Bd.1, S.200)

Damit wir Menschen menschlich bleiben, dürfen wir nicht Naturmechanismen wirken, sich ereignen lassen, sondern wir müssen uns ihnen entgegenstellen, uns anders verhalten, als es uns die Natur vormacht! Selektion mag in der Züchtung von Pflanzen und Tieren ihren Sinn haben, beim Menschen darf sie nicht angewendet werden.

Darwin meint sogar, dass die wahrhaft menschlichen Eigenschaften nicht allein durch Selektionsmechanismen zu erklären sind:

„So wichtig auch der Kampf ums Dasein war und noch ist – soweit der höchste Teil menschlicher Beschaffenheit in Betracht kommt, gibt es noch andere, viel wichtigere Agentien.
Denn die moralischen Qualitäten sind entweder direkt oder indirekt viel mehr durch die Wirkungen der Gewohnheit, durch Verstandeskräfte, Unterweisung, Religion usw. vorgeschritten, als durch die natürliche Zuchtwahl ...“

(C.D.: Die Abstammung des Menschen, S.428)

Und nicht immer muss der Stärkste gewinnen – soziale Kompetenz und Zuwendung zu Artgenossen, die für menschliches Dasein prägend ist, entsteht laut Darwin bei einem relativ schwachen Geschöpf:

„... dass ein im Besitz von Größe, Kraft und Wildheit befindliches Tier, das sich, wie der Gorilla, gegen jeden Feind verteidigen kann, vielleicht nicht sozial geworden wäre; und dies hätte am meisten das Erwerben höherer geistiger Qualitäten gehemmt, wie Sympathie und Liebe für seinen Genossen.

Daher könnte es für den Menschen von gewaltigem Vorteil gewesen sein, von irgend einem verhältnismäßig schwachen Geschöpf abzustammen ...
seine sozialen Eigenschaften, die ihn dahin führten, seinen Genossen zu helfen und Hilfe von ihnen zu erhalten.“

(C.D.: Die Abstammung des Menschen, S.95)

 

Auch hier seien noch die letzten Sätze im Buch wiedergegeben:

Der geringste Organismus ist etwas viel Höheres als der unorganische Staub unter unseren Füßen; und niemand, der vorurteilsfreien Geistes ist, kann irgend ein lebendes Wesen studieren, ohne durch dessen wundervolle Struktur und Eigenschaften von staunender Begeisterung erfüllt zu werden. ...

 

Wir müssen ... anerkennen, dass der Mensch mit all seinen edlen Eigenschaften, mit seiner Sympathie, die er für das Niedrigste fühlt, mit seinem Wohlwollen, das sich nicht nur auf andere Menschen erstreckt, sondern auch auf das geringste lebende Geschöpf, mit seinem göttlichen Intellekt, der die Bewegungen und die Beschaffenheit des Sonnensystems ergründet hat – dass der Mensch mit all diesen erhabenen Kräften doch noch in seinem Körperbau den unauslöschlichen Stempel seines niedrigen Ursprungs trägt.“

(C.D.: Die Abstammung des Menschen, Bd.2 S.429)

 

3. Die Wirkungsgeschichte von Darwins Ideen
oder genauer:
Was andere aus und mit Darwins Ideen gemacht haben

 

Darwin wird rückhaltloser Materialismus, demoralisierter Verstand und sogar Atheismus vorgeworfen. Darwin wird in Anspruch genommen für „Sozialdarwinismus“, „Entwicklung der Gesellschaft vom Niederen zum Höheren“, „Überleben des Stärksten“, für Rassismus, für den Gedanken des „lebensunwerten Lebens“ …

Die meisten dieser Gedanken wären Darwin absurd erschienen.

Darwins Schatten überragt seinen Namen um genau fünf Buchstaben: ismus. Sie trennen Wissenschaft von Weltanschauung, Idee von Ideologie, Biologie von Biologismus. Keinem Naturforscher seines Ranges, keinem Newton, Einstein oder Heisenberg, wurde je die Ehre zuteil, als Begründer eines Ismus in die Geschichte einzugehen. Doch dafür zahlt Darwin posthum einen hohen Preis … Im gängigen Sprachgebrauch steht Darwinismus für Sozialdarwinismus, für Ellbogen und das Recht des Stärkeren im allgegenwärtigen Verdrängungswettbewerb. Wer jemand anderen einen Darwinisten nennt, meint das in der Regel nicht freundlich. …
(Die Zeit 31.12.08 S.140ff.)

 

 

3.1. Evolutionistischer Fortschrittsglaube

Im 19. Jahrhundert in England war der Fortschrittsglaube eine Religion

Evolution erschien vielen als Mechanismus des ewigen Fortschritts. Der Gedanke der Auslese des „Guten“, die Übertragung der Befunde aus dem Pflanzen- und Tierreich in die menschliche Gesellschaft, auf die politische und soziale Umwelt war allgegenwärtig.

Das zeigte sich in der Wirtschaft (Kapitalismus), in der Gesellschaftstheorie von Marx/Engels (hier galt Darwins Naturtheorie als praktischer wissenschaftlicher Nachweis!) und im Sozialdarwinismus (Recht des Stärkeren, lebensunwertes Leben). Überall erwartete und beförderte man einen ökonomischen und biologischen Determinismus.

Über Jahrzehnte hinaus wurde der so (miss.)verstandene Darwinismus zu einer scheinbar unfehlbaren Philosophie; zur Ideologie !

Von einer Tendenz zur Höherentwicklung will Darwin nichts wissen, das klingt ihm zu sehr nach Lamarck
(Steinmüller: Darwin S.368)

3.2. „survival of the fittest“, Sozialdarwinismus
(Überleben des Tüchtigsten, dessen, der am besten in die gerade aktuelle Um-Welt „hineinpasst“)

Die fünf Buchstaben seines Schattens haben ihren Ursprung in einer Tautologie, dem survival of the fittest. Die Formel gehört zu den folgenreichsten, die je ein Forscher zu Papier gebracht hat. Sie geht allerdings nicht auf Darwin zurück, sondern auf den Soziologen Herbert Spencer – und damit wiederum auf ein Gesellschaftsmodell …
Spencer gilt als der Begründer des Sozialdarwinismus … er glaubt an die kulturelle Evolution … vom All bis in die Seele, vom Molekül bis zur Moral. Krankes, Schwaches und Entartetes merzt sich im Daseinskampf selbst aus, das Bessere ist der Feind des Guten. In Darwins Entstehung der Arten von 1859 findet er das gesuchte Stück Biologie für seine Weltanschauung.
Darwin übernimmt die Sprechweise vom survival of the fittest erst ein paar Jahre später.. In seinem Hauptwerk taucht sie erstmals in der fünften Auflage 1869 auf. …

(Die Zeit 31.12.08 S.140ff.)

 

3.3. Rassismus, „lebensunwertes Leben“

Der Biologe Ernst Haeckel verbreitet Darwins Lehre noch zu dessen Lebzeiten wie kaum ein anderer, vor allem in Deutschland. Haeckel macht die natürliche Auslese zum Teil einer »universellen Entwicklungstheorie, die in ihrer enormen Spannweite das ganze Gebiet des menschlichen Wissens umfasst«. Er stellt biologischen Darwinismus in den Dienst politischer Ideologie, erklärt Selektion und Konkurrenz zur Grundlage gesellschaftlichen Fortschritts und versteht den deutschen Nationalstaat als darwinistisches Projekt. Und wie kein anderer verschafft er dem Rassismus ein wissenschaftliches Fundament.
“Diese Naturmenschen“, schreibt er in seinen
Lebenswundern, „stehen in psychologischer Hinsicht näher den Säugethieren (Affen, Hunden), als dem hochcivilisirten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswerth ganz verschieden zu beurteilen.“ Wenn es heißt, der Nationalsozialismus und andere Tyrannenregime beriefen sich auf Darwin, dann ist damit eigentlich Haeckel gemeint.

(Die Zeit 31.12.08 S.140ff.)

 

3.4. „Kampf ums Dasein“
(struggle for existence, struggle for life)

Den Begriff hatten vor Darwin schon andere gebraucht, z.B. Malthus und Lyell, auch A.R.Wallace (Steinmüller: Darwin S.332). Er bedeutet vor allem die Mühsal, das Überwinden von Schwierigkeiten, die tägliche Abrackerei, das Ankämpfen gegen Widerwärtigkeiten aller Art, das „Ringen ums Dasein“.
Aber schon der erste deutsche Übersetzer sagte (miss-)deutbar: „Kampf“!
Es geht aber um das mühsame „Durchwursteln“, das Zurechtkommen im All-Tag, wie in der Bibel dem Menschen gesagt wird (als Beschreibung des harten Alltags außerhalb des „Paradieses“): „im Schweiße Deines Angesichts sollst du dein Brot essen … Dornen und Disteln soll der Acker tragen …“ (Die Bibel, 1. Buch Mose 3,17ff.)

Das aber gelingt nicht immer dem Stärksten und Schnellsten am Besten.

Wer morgen noch lebt und Nachkommen hat, die seine Gaben weiter tragen, ist oft

          der Ängstliche und Vorsichtige (der Gefahren, Feinde/Räuber rechtzeitig entdeckt und ihnen ausweicht)

          der Kooperative (in der Gemeinschaft für andere da sein)

          der Fürsorgliche (intensive Brutpflege erhöht die Chancen für den Start ins Leben)

          der Neugierige und Experimentierfreudige (z.B. das Entdecken und Ausprobieren neuer Nahrungsquellen,
das Ausweichen in neue Lebensräume).


3.5. „Übermensch“ und „Herrenrasse“
Friedrich Nietzsche zog den (scheinbar) logischen Schluss aus Darwins Theorie von der Auswahl des Fähigsten, nämlich den, dass die existierenden moralischen Kategorien und Werte einer solchen Auswahl im Wege standen. Als Alternative propagierte er den Übermenschen, produziert und ausgewählt durch das Recht des Stärkeren. Auf Nietzsche bezogen sich die Nationalsozialisten.

 

3.6. Eugenik (Menschenzüchtung)
Francis Galton (geb. 1822) war ein Halbcousin von Charles Darwin. Seine Erkenntnisse über die Vererbung von Merkmalen übertrug er auch auf das menschliche Denkvermögen und führte den Begriff der Eugenik ein, worunter er eine Lehre verstand, die sich das Ziel setzt, durch "gute Zucht" den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern.

 

Fazit:
Darwin sind solche Gedanken fremd gewesen.
Seine Ideen sind von anderen übernommen, benutzt, missverstanden, missbraucht und in sachfremde Anwendungsbereiche übertragen worden.
Ein Vorwurf ist Darwin zu machen: Er war konfliktscheu, und selbst dort, wo ihm deutlich war, dass seine Ansichten falsch verstanden, gedeutet und vertreten wurden, ist er nicht entschieden genug dagegen aufgetreten.
Zwar hat Darwin bei neueren Auflagen seiner gedruckten Werke stets versucht, klarer zu schreiben, Missdeutungen zu begegnen, aber das Publikum nahm die Zweifel seines Idols kaum zur Kenntnis.

 

3.7. Anmerkungen zu einigen „Legenden“ um Charles Darwin:

 

A. „Darwin hat Karl Marx einen Korb gegeben“
(Zum Verhältnis von Darwin zu Marx und Engels)

·         „Friedrich Engels las Darwins Buch von der „Entstehung der Arten“ drei Wochen nach Erscheinen, Karl Marx erst ein Jahr später. Marx schrieb an Engels: „... dies ist das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Absicht enthält“, und äußerte Lasalle gegenüber: „Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und passt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes.“
(nach: Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Reclam Leipzig 1980, Anhang Seite 539f.)
(Diese Äußerungen von Marx und Engels sind vielfach auch anderswo belegt JK).

·         Die folgende Geschichte wird gern erzählt (mit der Pointe, dass Darwin den Umarmungsversuch seitens Karl Marx tapfer abgewehrt hat):

„Karl Marx selbst übersandte Darwin im Juni 1873 die zweite Auflage der deutschen Ausgabe des „Kapitals“ mit einer Widmung, in der er sich als „sincere admirer“ [aufrichtiger Bewunderer JK] Darwins bezeichnete. Doch Darwin las weder dieses Buch – die Seiten des Widmungsexemplars wurden nicht aufgeschnitten – noch gab er seine Zustimmung, als Marx 1880 um die Erlaubnis anfragte, ihm die englische Ausgabe des ‚Kapitals‘ widmen zu dürfen. Dennoch und auch nicht zufällig wählte Friedrich Engels am Grabe von Marx folgenden Vergleich: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der Geschichte.“
(Mozetic, G.: Die Gesellschaftstheorie des Austromarxismus. Geistesgeschichtliche Voraussetzungen, Methodologie und soziologisches Programm. Darmstadt 1987, S. 117 f.;
zitiert nach http://www.tu-braunschweig.de/Medien-DB/hispaed/erziehung.pdf  Seite 27)

In der Ausstellung in Darwins Wohnhaus in Down ist das gewidmete Buch zusammen mit folgender Erläuterung ausgestellt:
10. Das Kapital
Der erste Band von Karl Marx´ berühmtem Werk “Das Kapital” wurde von Karl Marx persönlich an Darwin übersandt mit einer im Inneren befindlichen Widmung „von seinem aufrichtigen Bewunderer Karl Marx, 16. Juni 1873“. Darwin schrieb am 1. Oktober 1873 an Karl Marx, um ihm zu danken. Er beschloss seinen Brief mit den Worten: „Obwohl unsere Untersuchungen so verschiedener Art sind, glaube ich doch, dass wir beide ernsthaft die Ausweitung der Erkenntnis wünschen und dass diese auf lange Sicht sicher zum Glück der Menschheit beitragen wird.“
(Hier findet sich keine Bitte um Zustimmung, deshalb gibt es auch keine Ablehnung durch C. Darwin, Ende der Episode)

·         Es gibt einen weiteren Brief aus dem Jahre 1880. Den hat aber nicht Karl Marx, sondern dessen Schwiegersohn E.B. Aveling an Darwin geschrieben. Darin bittet er Darwin, dass dieser explizit seine Zustimmung erteilen möge, dass A. ihm ein neues Werk widmen darf. Darwin schreibt am nächsten Tag ablehnend zurück:
Letter 12757 — Charles Darwin an E.B. Aveling, 13.10.1880
… Jede Art der Veröffentlichung Ihrer Bemerkungen zu meinen Schriften bedarf wirklich keiner Zustimmung von meiner Seite, und es käme mir lächerlich vor, meine Zustimmung zu etwas zu erteilen, wo das nicht erforderlich ist. Ich würde es vorziehen, wenn der Band Ihres Buches mir nicht gewidmet werden würde (dennoch danke ich Ihnen für die angezeigte Ehre), weil das zu einem gewissen Grade bedeuten würde, dass ich meine Zustimmung für die gesamte Veröffentlichung gebe, obwohl ich darüber nichts weiß. Außerdem bin ich immer ein strenger Verfechter des freien Denkens über jeden Gegenstand gewesen, aber jetzt erscheint es mir so (ob zu recht oder zu unrecht), dass direkt gegen das Christentum und den Theismus gerichtete Argumente kaum eine Wirkung beim Publikum erzielen, und dass die Gedankenfreiheit am besten vorangebracht wird, indem der menschliche Geist allmählich erhellt wird, was sich aus dem Fortschreiten der Wissenschaft ergibt.
Es ist immer mein Anliegen gewesen zu vermeiden, über Religion zu schreiben, und ich habe mich auf die Wissenschaft beschränkt. Ich könnte jedoch übermäßig von dem Schmerz beeinflusst gewesen sein, den es einigen Mitgliedern meiner Familie bereitet hätte, wenn ich in irgendeiner Weise gezielt Angriffe auf die Religion unterstützt hätte.
(http://www.darwinproject.ac.uk/entry-12757)
(da sind offensichtlich in der Legendenbildung zwei Geschichten ineinander geraten!)

 

B. „Darwin hat sich auf dem Sterbebett von seiner Evolutionstheorie losgesagt“

·         „Darwin starb in seinem Haus in Downe, Kent, am 26. April 1882. Es gab kein Gespräch am Sterbebett oder ein Abrücken (eine Zurücknahme) von seiner Theorie, wie oft behauptet wird“.
(John van Wyhe: Darwin in Cambridge, Christ´s College Cambridge, 2009, S.56)

 

C. „Darwin hat in Cambridge das gleiche Zimmer bewohnt wie vor ihm William Paley

·         „Es gibt die Überlieferung, dass diese Räume einst von dem berühmten Naturtheologen William Paley bewohnt wurden. Im Christ´s College konnten keine Beweise dafür gefunden werden, dass diese Geschichte stimmt.“
(Paley hatte gemeint, jeder perfekt funktionierende Teil der Schöpfung lasse zwingend auf einen intelligenten Konstrukteur = Gott schließen)
(John van Wyhe: Darwin in Cambridge, Christ´s College Cambridge, 2009, S.30)

 

 


4. Darwin und der christliche Glaube:
Darwin ist nicht Christ und auch nicht Atheist – sondern Theist und Agnostiker
Einiges zu Darwin und seinem Verhältnis zu Religion wurde schon im Zusammenhang mit seinen Büchern klargestellt.

Seine persönlichen biographischen Erfahrungen (vor allem der frühe Tod von dreien seiner Kinder) haben ihn am Kinderglauben seiner ersten Lebensjahrzehnte (ver-)zweifeln lassen. Auch seine naturwissenschaftlichen Einsichten führten zu Widersprüchen mit einer bestimmten Art des Schöpfungsglaubens (Konstanz der Arten) und des Bibelverständnisses vieler seiner Zeitgenossen. Gottes Wirken fand für ihn meist in weiter Ferne und durch die Vermittlung von Naturgesetzen statt.

Darwin hat aber zeitlebens der Religion Hochachtung entgegengebracht, und er hat auch in seinen wissenschaftlichen Werken vom „Schöpfer“ reden können.
Der öffentliche Streit um die Evolutionstheorie zwischen Kirche und Naturwissenschaft passte Darwin gar nicht. Solche Fragen gehörten für ihn in den Privatbereich.
Um (s)einen Glauben hat er lebenslang gerungen. Fast ein Zehntel der Seiten in seiner Autobiografie sind diesem Thema gewidmet.

Dort schreibt er:

„Ein anderer Grund für den Glauben an die Existenz Gottes, der mit der Vernunft, nicht mit Gefühlen zusammenhängt, scheint mir mehr ins Gewicht zu fallen. Dieser Grund ergibt sich aus der extremen Schwierigkeit oder eigentlich Unmöglichkeit, sich vorzustellen, dieses gewaltige, wunderbare Universum einschließlich des Menschen mitsamt seiner Fähigkeit, weit zurück in die Vergangenheit und weit voraus in die Zukunft zu blicken, sei nur das Ergebnis blinden Zufalls oder blinder Notwendigkeit. Wenn ich darüber nachdenke, sehe ich mich gezwungen, auf eine Erste Ursache zu zählen, die einen denkenden Geist hat, gewissermaßen dem menschlichen Verstand analog; und ich sollte mich wohl einen Theisten nennen.
Wenn ich mich recht erinnere, beherrschte diese Schlussfolgerung mein Denken in der Zeit, als ich Über die Entstehung von Arten schrieb;
seither schien sie mir ganz allmählich immer weniger überzeugend;
ich schwankte jedoch sehr …
Das Mysterium vom Anfang aller Dinge können wir nicht aufklären; und ich jedenfalls muss mich damit zufrieden geben, Agnostiker zu bleiben.“
(Charles Darwin: Mein Leben, Insel TB S.102f.)

 

Darwin hat auch an anderer Stelle klargestellt, dass er Agnostiker sei, nicht Atheist. Was ist der Unterschied?

Der Agnostizismus ist eine Weltanschauung, die insbesondere die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens betont. Die Möglichkeit der Existenz transzendenter Wesen oder Prinzipien wird vom Agnostizismus nicht bestritten. Agnostizismus ist sowohl mit Theismus als auch mit Atheismus vereinbar, da der Glaube an Gott möglich ist, selbst wenn man die Möglichkeit der rationalen Erkenntnis Gottes verneint.
Die Frage „Gibt es einen Gott?“ wird vom Agnostizismus dementsprechend nicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet, sondern mit „Es ist nicht geklärt“, „Es ist nicht beantwortbar“.
Unabhängig davon ist die Frage „Glauben Sie an einen Gott?“.

Diese ist auch von einem Agnostiker mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortbar.
(Und erst ein NEIN auf diese Frage würde den Atheisten kennzeichnen)

(Wikipedia 23.2.2009)

 

Brief von Charles Darwin an Asa Gray, 22.5.1860
Was nun die theologische Ansicht der Frage betrifft. Das ist immer peinlich für mich. Ich bin ganz bestürzt. Ich habe durchaus nicht die Absicht gehabt, atheistisch zu schreiben. Ich gesteh aber zu, dass ich nicht so deutlich, wie es andere sehen und wie ich selbst tun zu können wünschte, Beweise von Absicht und von Wohltätigkeit auf allen Seiten um uns herum erkennen kann. Ich kann mich nicht dazu überreden, dass ein wohlwollender und allmächtiger Gott mit vorbedachter Absicht die Ichneumiden oder Schlupfwespen erschaffen haben würde mit der ausdrücklichen Bestimmung, sich innerhalb des Körpers lebender Raupen zu ernähren, oder auch, dass eine Katze mit den Mäusen erst spielen solle. Da ich hieran nicht glauben kann, sehe ich auch keine Notwendigkeit zu dem Glauben ein, dass das Auge ausdrücklich beabsichtigt wurde. Auf der anderen Seite kann ich mich doch in keinerlei Weise damit befriedigt fühlen, dieses wunderbare Universum, und besonders die menschliche Natur, zu betrachten und zu folgern, dass alles nur das Resultat der rohen Kraft ist. Ich bin geneigt, alles als das Resultat vorausbestimmter Gesetze anzusehen, wobei die Einzelheiten, mögen sie gut oder schlimm sein, der Wirkung dessen überlassen wird, was man Zufall nennen kann. Nicht, als wenn dieser Begriff mich durchaus befriedigte. Ich fühle aufs Allertiefste, dass der ganze Gegenstand zu tief ist für den menschlichen Intellekt.

(Leben und Briefe von Charles Darwin, Herausgegeben von Francis Darwin, übersetzt von Julius Victor Carus, Stuttgart, E. Schweizerbart´sche Verlagshandlung, 2. Auflage, 1899, II.Band, S.303)

 

Charles Darwin an John Fordyce 7.5.1879
Es scheint mir absurd zu sein zu bezweifeln, dass jemand sowohl ein leidenschaftlicher Theist wie auch ein Evolutionist sein kann. - Sie haben recht, wenn Sie an Kingsley denken, Asa Gray, der bedeutende Botaniker, ist ein anderes Beispiel dafür. – Was meine eigenen Ansichten betrifft, so ist das eine Frage, die keinerlei Konsequenzen für andere hat, sondern allein mich betrifft. – Aber wenn Sie mich fragen, muss ich feststellen, dass mein Urteil häufig schwankt. Umsomehr deswegen, weil es davon abhängt, wie man den Begriff definiert, ob man jemanden einen Theisten nennen sollte: das ist ein zu gewaltiger Gegenstand, als dass man ihn in einer kurzen Bemerkung abhandeln könnte. In den äußersten Zuständen meines Schwankens bin ich niemals ein Atheist in dem Sinne gewesen, dass ich die Existenz eines Gottes geleugnet hätte. Ich glaube, im Allgemeinen (und desto mehr und mehr, je älter ich werde), aber nicht immer, dass Agnostiker die genaueste Bezeichnung für meinen Seelenzustand sein würde.
(Letter 12041 - http://www.darwinproject.ac.uk/entry-12041)

 

Und wenn sich Darwin auch an einer Stelle sehr knapp und scheinbar total ablehnend zum Glauben äußert,

F. A. McDermott an Charles Darwin 23.11.1880
… ich bin ein beschäftigter Mann und überhaupt kein kluger Mann und wenn ich das Vergnügen haben würde, Ihre Bücher zu lesen, fühle ich, dass ich letzten Endes meinen Glauben an das Neue Testament doch nicht verloren haben werde. Der Grund, aus dem ich Ihnen schreibe, ist die Frage, auf die ich Sie bitte mit JA oder NEIN zu antworten. Glauben Sie an das Neue Testament? … wenn ich sagen könnte, dass der Verfasser dieser Lehre wie ich daran glaubt, dass Christus der Sohn Gottes war …
(
http://www.darwinproject.ac.uk/entry-12845)

(Die Antwort Darwins auf die im vorstehenden Brief gestellte Frage:)
Charles Darwin an F. A. McDermott 24.11.1880
Es tut mir leid, dass ich Ihnen mitteilen muss, dass ich die Bibel nicht für eine göttliche Offenbarung halte, und dass ich daher nicht an Jesus als den Sohn Gottes glaube.
(http://www.darwinproject.ac.uk/entry-12851 )

so ist das vielleicht ein Stück weit auf dem Hintergrund zu verstehen, dass Charles Darwin und seine Frau in ihrem Glauben den Ansichten des Unitarismus nahe standen:

 

Unitarianismus (Unitarismus): wichtige Grundüberzeugungen

     Ablehnung der Lehre von der Trinität

     der Glaube an Einen Gott; Einheit (unity) Gottes

     Leben und Lehre von Jesus bilden ein mustergültiges Beispiel, um das eigene Leben zu leben

     Vernunft, Verstand, rationales Denken, Wissenschaft und Philosophie sind verträglich mit dem Glauben an Gott

     Menschen haben die Fähigkeit, ihren freien Willen auszuüben, verantwortlich, aufbauend und ethisch; mithilfe der Religion

     die Natur des Menschen heute ist nicht notwendig verdorben oder schlecht, es gibt keine Erbsünde, der Mensch ist zu beidem fähig und kann sich für Gut oder Böse entscheiden, wie Gott das beabsichtigt hat

     keine Religion kann beanspruchen, allein im Besitz des Heiligen Geistes oder der (theologischen) Wahrheit zu sein

     die Autoren der Bibel waren von Gott inspiriert, sind aber fehlbare Menschen

     keine Vorherbestimmung und ewige Verdammnis, keine Sühne-Theologie

     kein Glaube an Jungfrauengeburt Jesu oder an die Wunder der Evangelien

(http://en.wikipedia.org/wiki/Unitarianism 10.3.2010)

 

 

5. verwendete und weiterführende Quellen und Literatur:

·         Darwin, Ch.: Die Abstammung des Menschen und die Zuchtwahl in geschlechtlicher Beziehung, Reclam, Leipzig o.J., Bd. II

·         Darwin, Ch.: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Reclam Leipzig 1980

·         Darwin, Ch.: Mein Leben, Insel Taschenbuch, Frankfurt/Main, 2008

·         Neffe, J.: Darwin – das Abenteuer des Lebens, Goldmann München, 2010

·         Steinmüller, A., Steinmüller, K.: Charles Darwin – vom Käfersammler zum Naturforscher Verlag Neues Leben Berlin, 1985; überarbeitete Neuauflage unter dem Titel „Darwins Welt“, Oekom Verlag München, 2008

·         Internetseite mit Zugang zu fast allen Dokumenten von und über Charles Darwin: http://darwin-online.org.uk/

·         weitere ausgewählte Zitate aus Darwins Büchern und Briefen finden Sie unter: http://www.krause-schoenberg.de/SB22_zitate_darwin.htm

·         Das „Darwin Correspondence Project“ – Sammlung aller erhaltenen Briefe, die Charles Darwin geschrieben und erhalten hat: http://www.darwinproject.ac.uk/home

·         Buch: Joachim Krause: „Was Charles Darwin geglaubt hat“, Wartburg-Verlag Weimar 2012, 72 Seiten (Auszüge: http://www.krause-schoenberg.de/darwin_buch_info.htm )