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Ist die Welt ein Würfelspiel ?

Entdeckungen der Chaosforschung

(Joachim Krause)

 

 

 

1. Chaos im Kosmos?

 

CHAOS-FORSCHUNG? Dieser Begriff klingt für viele fremd, zum einen nach (unverständlicher) Wissenschaft, zum anderen nach Durcheinander ...

„Chaos“ ist ein schillernder Begriff, und wir werden bei unserem Thema auch ganz unterschiedlichen Dingen begeg­nen: Schmetterlingen und Wirbelstürmen, einem Mäusevolk auf einer Wiese und Himmelskörpern, die sich im Kosmos bewegen.

Wir wollen uns zunächst vorsichtig dem Thema nähern. CHAOS – was bedeutet das eigentlich für mich? Der eine denkt an seinen „Schreibtisch“, der mal wieder aufgeräumt werden müsste. Einem anderen fällt das Stichwort „Börse“ ein, an der die Aktienkurse Achterbahn fahren. Ein dritter sagt „Unordnung“, ein vierter „Kinderzimmer“, „Politik“ wird genannt, von „Zufall“ ist die Rede, vom „Stau auf der Autobahn“, von „Stress“, oder es wird an das „Tohuwabohu“ im ersten Kapitel der Bibel erinnert.

Schnell wird deutlich: Wir sind nicht unbelastet. Der Begriff Chaos verbindet sich für jeden von uns mit konkreten – und sehr unterschiedlichen - Vorstellungen. Gefühle schwingen mit. Da sind persönliche Bezüge. Manchmal werden Sorgen deutlich, die Angst vor zu viel Chaos. Chaos verbindet sich mit Unsicherheit, mit Durcheinander, mit Katastro­phen.

Wir werden merken: Das meiste davon hat mit unserem Thema im engeren Sinne wenig zu tun.

Das Weltbild der Antike kannte die Begriffe KOSMOS und CHAOS als ein Paar von Gegensätzen. Die alten Griechen sprachen vom Kosmos als der geordneten, schönen, sicheren Welt, in der wir Menschen uns zurechtfinden und ein­richten können. Chaos dagegen dachte man sich weniger als ein wirbelndes Durcheinander, sondern stellte sich eher einen dicken grauen Nebel vor, etwas schwer Fassbares – ohne Form, ohne Struktur, ohne Spielregeln.

Unsere bisherige Vorstellung von der Welt dürfte eher dem antiken Kosmos entsprechen. Menschen haben in den vergangenen Jahrtausenden immer mehr Ordnung in der Welt entdeckt. Sie haben begonnen, die erkannten „Spielre­geln“ anzuwenden und die Welt erfolgreich nach ihren Vorstellungen zu verändern.

Und nun taucht plötzlich Verunsicherung auf, stellt sich die Frage: Ist unsere Welt vielleicht doch vom Chaos regiert? Bewegen wir uns in trügerischer Sicherheit, auf glattem Eis? Selbst Einstein war bei solchen Gedanken unwohl, und er hat trotzig gemeint: „Gott würfelt nicht!“

Auf jeden Fall ist klar: Seit Darwin im 19. Jahrhundert seine Vorstellungen von der Evolution der Lebewesen vorstellte, hat kein Versuch der Erklärung der Natur in der öffentlichen Wahrnehmung so viel Wirbel verursacht, wie das derzeit die Entdeckungen der Chaosforschung tun. „Chaos“ wird heute in den unterschiedlichsten Lebensbereichen entdeckt. Wenn sich der Rauch einer Zigarette über dem Aschenbecher turbulent kringelt, werden Chaos-Vermutungen geäu­ßert. Wenn das menschliche Herz aus dem Takt gerät und zu „flimmern“ beginnt, beraten sich Mediziner mit Chaos­forschern. Wo Plantetenbahnen vermessen werden, Wirbelstürme ihre Bahn ziehen, wenn es zum Börsen-Crash kommt oder sich auf der Autobahn aus dem Nichts ein Stau bildet und wieder auflöst – all das wird unter dem Stich­wort Chaos diskutiert. Chemiker und Astronomen, Philosophen und Komponisten sind fasziniert, Filme nehmen sich des Themas an (in „Jurassic Park“ warnt natürlich ein Chaosforscher davor, dass das Experiment mit der Wiederbele­bung der Saurierwelt in eine Katastrophe führen wird). Für Zweieinhalbtausend Mark wurden Wirtschaftsbosse einge­laden, an einem 2-tägigen Kurs über „Chaos und Management“ teilzunehmen. Chaos in aller Munde, multimedial ver­marktet ... Handelt es sich hier um ein neues universelles Muster, das uns die Welt endlich richtig erklärt? Oder ist der ganze Rummel nur eine pseudointellektuelle Modeerscheinung, der nicht zu viel Gewicht beigemessen werden sollte?

Eine Illusion muss ich Ihnen schon jetzt nehmen. Wir werden bei der Beschäftigung mit der Chaosforschung keine Lö­sung finden für das Chaos auf unserem Schreibtisch oder für Turbulenzen im politischen Geschehen.

Es geht um etwas ziemlich Abstraktes, im Kern um ziemlich nüchterne Physik und Mathematik – im Physik-Lehrbuch steht das Ganze denn auch unter der wenig aufregenden Überschrift „Nichtlineare Dynamik“.

Aber – und das ist das Spannende – die neuen Einsichten werfen ganz erhebliche grundsätzliche Anfragen an unser Weltbild auf.

Im weiteren soll nicht von „der Chaostheorie“ berichtet werden (ein geschlossenes Theoriegebäude gibt es dazu noch gar nicht), vorsichtiger soll von überraschenden Entdeckungen berichtet werden, von Chaos-Phänomenen in unserer Welt, die auch in unserem Alltag eine Rolle spielen.

Wir wollen uns in vier Schritten dem Thema nähern:

 

Entdeckungen der Chaosforschung

A)      Das uns vertraute naturwissenschaftliche Weltbild (siehe Kapitel 2 und 3)
(Menschen auf der Suche nach Ordnung; der Lauf der Welt ist berechenbar)

B)      Überraschungen (siehe Kapitel 4)
(
Die Naturwissenschaft stößt auf „Chaos“: Die Welt entzieht sich der eindeutigen Prognose –
Beispiele: Planetensys­teme, Wetter, Bevölkerungs-Entwicklung)

C)      Auswirkungen auf unser Weltverständnis (siehe Kapitel 5)
(
Die Naturwissenschaft stößt an Grenzen. Der Mensch kann die Welt nicht umfassend verstehen und in Besitz nehmen. Die Zukunft der Welt ist offen. Hat das Auswirkungen auf mein Gottesbild?)

D)      Warnung vor Scharlatanen und Chaos-Kult (siehe Kapitel 6)

 

2. Erinnerung an das vertraute naturwissenschaftliche Weltbild

 

Wir wollen uns erinnern an das naturwissenschaftliche Weltbild, das in den letzten Jahrhunderten gewachsen ist, ein beeindruckendes Gebäude aus Beobachtungen und Theorien.

Dieses Bild von der Welt hat große Erfolge gefeiert, zum einen bei der Erklärung der Natur, und zum anderen bei ihrer Umgestaltung durch den Menschen mit Hilfe der Technik.

Das Zeitalter der exakten Naturwissenschaften begann im 16. Jahrhundert. Nikolaus Kopernikus ordnete die Bewe­gung der Himmelskörper im Sonnensystem neu: Nun stand die Sonne im Mittelpunkt, die Erde war ein Planet neben anderen. Johannes Kepler entdeckte bei seinen Messungen, dass die Planeten auf elliptischen Bahnen um die Sonne laufen, und er konnte die Bahnen berechnen. Über hundert Jahre später fasste Isaac Newton die Mechanik der Welt in allgemein gültige mathematische Gleichungen. Er ging davon aus, dass auf der Erde wie im (physikalisch zugängli­chen) Himmel die gleichen Naturgesetze gelten. Auf welcher Bahn ein Apfel vom Baum fällt, wie sich zwei Billardkugel nach der Karambolage (dem Zusammenprall) bewegen, auf welchen Bahnen Planeten um die Sonne kreisen – all das ließ sich immer exakter messen und auch immer besser in seinem Verhalten vorausberechnen. Wo noch Ungenauig­keiten auftraten, herrschte zunehmend die Überzeugung: den Rest zu erklären, war nur eine Frage der Zeit. Genauere Daten, verbesserte Formeln würden letztlich die ganze Welt eindeutig berechenbar machen. Überraschungen konnte es eigentlich nicht mehr geben!

 

Die Arbeitsweise der klassischen Naturwissenschaft stellt sich etwa so dar:

·       Menschen sind neugierig. Sie möchten die Welt, die Natur, immer besser verstehen, und sie möchten sie in den Griff bekommen.

·       Aus der ganzen großen Wirklichkeit der Welt wird ein interessierender einzelner Aspekt ausgewählt. Alle anderen Faktoren (auch der Mensch als Beobachter) werden ausgeblendet. Das Weglassen von „Nebensächlichkeiten“, das Ausblenden von „Störungen“ gehört dabei durchaus zur Methode der naturwissenschaftlichen Arbeit.

·       Wir beobachten
entweder Vorgänge in der Natur, die sich regelmäßig wiederholen (z.B. Planetenbahnen)
oder wir gestalten im Labor-Experiment einen Versuch als wiederholbaren Ablauf.

·       Unsere Erwartung ist: Wenn gleiche Ausgangsbedingungen gegeben sind, läuft der Vorgang in gleicher Weise ab und führt zum gleichen Ergebnis. Und da zu 100 Prozent gleiche Bedingungen in der Praxis nicht gegeben sind, wird sogar davon ausgegangen, dass dieses „Kausalitäts-Prinzip“ in seiner „starken“ Form gültig ist: „Ähnliche Ur­sachen rufen ähnliche Wirkungen hervor“.

·       Wir entdecken Regelmäßigkeiten, können „Regeln“ ableiten, nach denen sich die Natur verhält („Naturgesetze“).

·       Die in der Natur gemachten Beobachtungen werden in die Sprache der Mathematik gefasst, in Formeln.

·       Unsere Erwartung ist: Die Formeln beschreiben die Wirklichkeit. Wenn wir die Ausgangsbedingungen exakt genug erfassen, ergibt sich in Berechnungen das zukünftige Verhalten der untersuchten Systeme.

·       Es wächst die Überzeugung, dass es grundsätzlich möglich ist,
+ die Welt in jedem Detail naturwissenschaftlich zu beschreiben und zu erklären
+ die Dynamik von Systemen, ihre zukünftige Entwicklung exakt vorherzuberechnen
+ in den Ablauf von Naturvorgängen einzugreifen und sie zielgerichtet zu verändern.

 

3. Die Welt als berechenbares Uhrwerk

 

Im Verständnis der klassischen Physik erscheint die Welt als Uhrwerk. Der Philosoph und Physiker Pierre Simon de Laplace brachte dieses Weltverständnis 1776 in ein Bild. Er stellte sich vor, dass, wenn ein „Dämon“ (ein

 

„Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassen genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der großen Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nicht würde ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.“
(Pierre Simon de Laplace 1814)

 

superintelligenter Geist) für einen einzigen Augenblick der Weltgeschichte in der Lage wäre, den genauen Aufent­haltsort aller Körper im Universum zu bestimmen wie auch die Kräfte, die auf diese Körper einwirken – dass dieser Dämon mit seiner Kenntnis der Naturgesetze genaue Aussagen machen könnte über jeden beliebigen Zustand der Welt in der Vergan­genheit oder in der Zukunft. Alles in dieser Welt wäre danach eindeutig und für alle Zeiten festge­legt (determiniert).

Die klassische Naturwissenschaft sah es als ihre Bestimmung an, nach und nach in die Rolle des „Laplace´schen Dämons“ zu schlüpfen ...

Die Welt begegnet in dieser Sichtweise als berechenbares Uhrwerk. Der Lauf der Welt ist vorherbestimmt, festgelegt durch die geltenden Naturgesetze und durch die Anfangsbedingungen.

Wie geht es mir mit diesem Weltbild? Kommt es mir bekannt vor, ist es vielleicht auch mein Weltbild?

Gibt mir eine berechenbare Welt Sicherheit? Oder ist mir eine solche Welt unheimlich, in der Willensfreiheit nur eine Illusion sein kann?

Das mechanistische Weltverständnis von der Welt als Uhrwerk war das Weltbild der Naturwissenschaften bis ins 20. Jahrhundert hinein. Erste Fragezeichen tauchten schon vor hundert Jahren auf. Es zeigte sich, dass die klassische Physik Newtons nicht ausreichte, um die ganze Wirklichkeit zu fassen. Die Theorien erwiesen sich nicht als falsch, aber als ergänzungsbedürftig. Auch heute noch fliegen die Satelliten, die wir in den erdnahen Orbit schicken, zuver­lässig nach Newtonschen Gleichungen. Aber wenn es um das Verständnis des Universums in seinen wirklichen Di­mensionen geht oder um die Beschreibung der Welt der Elementarteilchen – dann reichen die physikalisch-klassi­schen Vorstellungen von der Welt nicht aus.

Wir wissen heute: Die Welt besteht nicht nur aus Teilchen, die einander herumstoßen (das aber war die Grundvor­stellung Newtons), es gibt auch Wellen, Felder, Teilchen ohne Masse, die so nicht zu (er-)fassen sind.

Ergänzungsbedürftig erwies sich die klassische Physik zum einen in kosmischen Dimensionen. Dort zeigte sich, dass Raum und Zeit keine absoluten Größen sind. Auch Masse und Energie sind nicht von grundsätzlich verschiedener Qualität, sondern können prinzipiell ineinander umgewandelt werden (E=mxc2). In atomaren Größenordnungen wie­derum zeigte sich, dass die erreichbare Genauigkeit unserer Beobachtungen (die Erfassung der Ausgangsbedingun­gen) an Grenzen stößt. Wenn wir sehr kleine Teilchen – z.B. Elektronen – beobachten und vermessen wollen, verän­dern die Teilchen der zur Messung benutzten Strahlung den Zustand des Beobachtungsobjekts; Photonen prallen auf das Elektron und verändern seine Lage oder seine Geschwindigkeit. Der Ort, an dem sich ein Teilchen gerade befindet (z.B. ein Elektron auf seiner Bahn um den Atomkern) und die Geschwindigkeit (der Impuls), mit der es sich im Moment bewegt, las­sen sich so nicht gleichzeitig genau bestimmen. Wenn wir die Geschwin­digkeit auf 1 km/h genau kennen, ergibt sich eine „Unschärfe“ der Ortsbe­stimmung von 3 mm!
Eine letzte Ergänzung: In der Natur gibt es den absoluten Zufall (übrigens: wenn Naturwissenschaftler von „Zufall“ sprechen, ist das für sie keine me­taphysische oder existenzielle Aussage, sondern soll lediglich aussagen: Wir haben für dieses Phänomen keine rationale Erklärung). Wenn wir ein radioaktives Atom beobachten, kann es in der nächsten Sekunde zerfallen, dieses Ereignis kann aber auch erst nach Millionen von Jahren eintreten. Für das einzelne Atom, das Individuum, kann die Physik keine eindeutige Vorhersage machen. Anders verhält es sich, wenn eine große Anzahl von Atomen der gleichen Art betrachtet wird – dann gibt die Halbwertzeit sehr exakt an, nach Ablauf welcher Zeit die Hälfte der beobachteten Atome zerfallen ist (mit dieser statistischen Aussage lässt sich wieder gut rechnen).

Damit hatte die Physik schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass der immer und überall erwarte­ten Berechenbarkeit der Welt Grenzen gesetzt sind.

Aber das betraf weithin Bereiche, die weit von der Alltagserfahrung des Menschen entfernt sind, kosmische oder ato­mare Dimensionen. Nun aber behauptet die Chaosforschung, dass sogar in unserer normalen Alltagswelt vieles nicht eindeutig berechenbar ist.

 

4. Die Naturwissenschaft erlebt Überraschungen

 

An drei Beispielen soll verdeutlicht werden, wo die Wissenschaft auf Chaos gestoßen ist. Es wurden drei sehr unter­schiedliche Bereiche ausgewählt: zum ersten der Ausgangspunkt der klassischen Physik, der Lauf von Planeten um ihre Sonne, zum zweiten die Möglichkeit der Berechnung zuverlässiger Wetterprognosen und zum dritten die Ent­wicklung eines Mäusevolkes auf einer Wiese.

 

4.1. Wie stabil ist unser Planetensystem?

 

Im Jahre 1885 setzte der schwedische König einen Preis aus für die (wissenschaftliche) Beantwortung der Frage: „Wie stabil ist eigentlich unser Planetensystem?“. Unser Heimatplanet Erde zieht zusammen mit 8 weiteren Planeten seit unendlichen Zeiten auf seiner Bahn um die Sonne. Können wir uns darauf verlassen, dass das auch in Zukunft immer so bleiben wird, oder könnte diese kosmische Harmonie (von der unser Leben abhängt) irgendwann aus dem Gleichgewicht kommen?

Der französische Mathematiker und Naturwissenschaftler Henri Poincare nahm entsprechende Berechnungen vor – und stieß bald auf unerwartete Schwierigkeiten. Er begann zunächst mit dem einfachsten Modell: zwei Himmels-Kör­per, Sonne und Erde, die aufeinander einwirken. Für diesen Fall lieferten die Gleichungen der klassischen Physik klare Aussagen und eindeutige Ergebnisse für alle Zukunft. Aber schon bei der Betrachtung von drei Körpern tauchten Schwierigkeiten auf. Wenn man beispielsweise das Zweiersystem Sonne-Erde um einen dritten Körper (z.B. Jupiter) ergänzt, gibt es Ausgangssituationen in der Konstellation der drei Himmelskörper, bei denen geringste Veränderungen (Abstände, Masse, Stellung der Himmelskörper zueinander) sich unerwartet stark auf das Ergebnis der Berechnungen auswirken. Poincare stellte schon für den noch relativ einfachen Fall solcher Drei-Körper-Systeme fest, dass die bis­her vorausgesetzte generelle Berechenbarkeit der Welt nicht immer gegeben ist. Newton hatte mit seiner Formulie­rung der Bewegungsgleichungen den Eindruck erweckt, dass damit das gesamte Universum mathematisch beschrie­ben sei. Aber das Aufschreiben der Gleichungen war das eine, aus ihnen (eindeutige) Lösungen zu erhalten, offenbar etwas ganz anderes. Auch Forscher vor Poincare waren auf diese Schwierigkeiten gestoßen. Sie hatten versucht, den Einfluss weiterer Planeten auf Zweikörpersysteme als „Störung“ pauschal zu berücksichtigen (als Faktor, der zusätz­lich in die Berechnung eingeht und sie - mehr oder weniger genau – korrigiert).

 

„Eine sehr kleine Ursache, die wir nicht bemerken, bewirkt ei­nen beachtlichen Effekt, den wir nicht übersehen können, und dann sagen wir, der Effekt sei zufällig. Wenn die Naturgesetze und der Zustand des Universums zum Anfangszeitpunkt exakt bekannt wären, könnten wir den Zustand dieses Universums zu einem späteren Moment exakt bestimmen. Aber selbst wenn es kein Geheimnis in den Naturgesetzen mehr gäbe, so könnten wir die Anfangsbedingungen doch nur annähernd bestimmen. Wenn uns dies ermöglichen würde, die spätere Situation in der gleichen Näherung vorherzusagen – dies ist alles, was wir verlangen -, so würden wir sagen, dass das Phänomen vorhergesagt worden ist und dass es Gesetzmä­ßigkeiten folgt. Aber es ist nicht immer so; es kann vorkom­men, dass kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen schließlich große Unterschiede in den Phänomenen erzeu­gen. Ein kleiner Fehler zu Anfang wird später einen großen Fehler zur Folge haben. Vorhersagen werden unmöglich, und wir haben ein zufälliges Ereignis.“
(Henri Poincare; Ende des 19. Jahrhunderts)

 

Die Ergebnisse seiner Berechnungen waren für ihn „so bizarr, dass ich es nicht aushalte, darüber nachzudenken ...“.

Poincare erhielt im Jahre 1890 das Preisgeld, obwohl er die eigentlich gestellte Frage nicht beantwortet hatte. Er konnte nicht nachweisen, dass die Erdbahn für alle Zeiten stabil sein würde, sondern seine Untersuchungen säten ge­rade den Zweifel am ewigen Gleichlauf der Planeten. 300 Jahre lang hatten die Planetenbewegungen als Inbegriff der Gleichmäßigkeit gegolten, und für die Naturwissenschaftler waren sie das Musterbeispiel für Vorhersagbarkeit in der Natur. Und nun erwies sich die Welt des Menschen als unsicherer, als man bisher gemeint hatte. Schon die Berech­nung eines den Physikern gut bekannten und relativ übersichtlichen mechanischen Systems entzog sich der exakten Prognose.

Die von Poincare aufgedeckte Unsicherheit war übrigens keine Frage unzulänglicher Daten oder mathematischer Möglichkeiten vor 100 Jahren. Auch moderne Computer helfen hier nicht weiter. Auch sie zeigen nur, dass unsere mathematischen Gleichungen für die Beschreibung der Welt manchmal sehr empfindlich reagieren.

 

Der Abstand zwischen Erde und Sonne beträgt etwa 150 Millionen Kilometer und kann derzeit mit einer Genauigkeit von + 15 Meter genau bestimmt werden. Diese minimale Unsicherheit bei der Vermessung der Erd-Bahn schaukelt sich bei der Berechnung von vielen Umläufen so auf (unter dem Einfluss der Sonne und der anderen Planeten), dass die Position der Erde nach 100 Millionen Jahren völlig ungewiss ist: Sie kreist zwar noch immer um die Sonne, aber ihr Aufenthaltsort ist völlig unsicher, er kann irgendwo auf der Umlaufbahn liegen.
Wenn diese Unsicherheit erst nach 200 Millionen Jahren auftreten soll, müssten wir den Abstand Erde-Sonne auf 10-10 cm (das entspricht dem Durchmesser eines Atoms) genau bestimmen; diese Mess-Un­genauigkeit „schaukelt“ sich in den Berechnungen über lange Zeiträume zu kosmischen Größenordnun­gen auf.

 

Moderne Berechnungen bestätigen auf der einen Seite das Grundsätzliche der neu entdeckten Unsicherheit, haben aber (in der Beantwortung der königlichen Preisfrage) auch zeigen können, dass unser Planetensystem im wesentli­chen doch recht stabil ist. Zumindest für die nächsten 10 Millionen Jahre lässt sich die Umlaufbahn der Erde berech­nen, danach ist die Position der Erde schlicht unbestimmt. Das heute beobachtbare Planetensystem erweist sich doch als recht robust. Wenn es in der Vergangenheit weitere Kandidaten gegeben haben sollte, die auf besonders anfälli­gen, instabilen Bahnen unterwegs waren, sind diese wahrscheinlich vor langer Zeit entweder von anderen Planeten eingefangen oder aus dem Sonnensystem herausgeschleudert worden.

Seit Poincares Berechnungen war eine unbequeme Einsicht in der Welt: die klassische Physik liefert nicht einmal für die recht einfachen Verhältnisse im Kosmos eindeutige Prognosen.

Aber bei der Berechnung von Planetenbahnen für die nächsten Jahrmillionen handelte es sich doch um recht abs­trakte mathematische Überlegungen, weit weg vom Alltag.

Anfang der 1960er Jahre wurde es praktischer mit der Chaosforschung, sie rückte näher an den Alltag heran.

 

„Chaos“ ist ein schillernder Begriff, der für verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlicher Bedeu­tung gefüllt ist. Zwei Mathematiker führten ihn 1975 in einer Fachzeitschrift als Fachbegriff ein („Period Three Implies Chaos“), um das „empfindliche“ Verhalten von bestimmten mathematischen Formeln zu charakterisieren, die bei geringsten Veränderungen der Ausgangsgrößen völlig unterschiedliche Ergeb­nisse für zukünftige Entwicklungen liefern können.

 

Verschiedene Formen von Kausalität

Das (normale) Kausalgesetz geht davon aus, dass „gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben“. Da in der Praxis der Naturwissenschaft bei Beobachtungen und bei Experimenten in der Regel eine 100-pro­zentige Gleichheit der Ursachen nicht festgestellt oder hergestellt werden kann, wird sogar von der Gül­tigkeit des Kausalgesetzes in seiner „starken Form“ ausgegangen („Ähnlichkeitsprinzip“): dass nämlich „ähnliche Ursachen zu ähnlichen Wirkungen führen“ (wen ich bei einem zweiten Pistolenschuss ähnlich genau ziele wie beim Schuss vorher, landet der zweite Treffer in der Nähe des ersten). Offenbar gibt es aber in der Natur eine andere Form der Kausalität, für die das Ähnlichkeitsprinzip hinsichtlich Ursache und Wirkung nicht mehr gültig ist. Unter bestimmten Umständen „können ähnliche Ursachen gänzlich unterschiedliche Wirkungen haben“. Systeme, in denen diese Form der Kausalität angetroffen wird, be­zeichnet man in der Physik als „chaotisch“.

 

Chaos kann auch im Computer entstehen
Das Ergebnis von Berechnungen über zukünftige Entwicklungen ist unter Umständen gar nicht von der Genauigkeit der verwendeten Größen abhängig, sondern wird schon von der Rechengenauigkeit des Computers beeinflusst.

Ein Beispiel: Ein Komet kommt aus der Tiefe des Raumes, gerät in das Schwerefeld der Sonne und wird auf eine Umlaufbahn gezwungen. Zusätzlich wird er noch hin und wieder vom Schwerefeld eines dritten Körpers, des Jupiters, beeinflusst. Wenn man einen Computer einsetzt, der seine Zwischenergebnisse auf 6 Stellen genau rundet, ergeben sich für den Kometen 757 Umläufe um die Sonne, ehe er wieder in Richtung Weltall abdriftet. Ein genauer rechnender Computer, der immer 7 Stellen übernimmt, berechnet nur 38 Umläufe. Ein anderer Computer, der noch exakter immer auf 8 Stellen genau rechnet, kommt auf 236 Umläufe ...

Ein zweites Beispiel: An zwei Universitäten wurde das gleiche Dreikörperproblem berechnet: ein kleiner Planet umkreist in einem Doppelsternsystem zwei Sonnen. An der Universität in Bremen ergaben sich schnell chaotische Umlaufbahnen. In Karlsruhe aber lief der Planet auf beruhigend konstanter Bahn. Die Erklärung: im zweiten Fall hatte man feinere Zeitschritte gewählt.

 

4.2. Wie sieht das Wetter in drei Wochen aus?

 

Edward Lorenz, ein Wetter-Mathematiker am MIT in Boston/USA, saß 1963 an seinem Computer. Sein Ziel war es, langfristige Wetter-Prognosen in Zukunft noch besser berechnen zu können.

Das Wettergeschehen, so meinte man damals, sollte eigentlich physikalisch eindeutig zu beschreiben sei. Bei den Vorgängen in der Atmosphäre (z.B. Temperatur- und Druckverhältnisse, Geschwindigkeit und Richtung von Luftströ­mungen) handelt es sich um die Dynamik und die Zustandsänderungen von Gasen, wie sie aus der Strömungslehre und aus der Thermodynamik schon lange bekannt sind.
Lorenz hatte ein grobes Modell der Erdatmosphäre für recht einfache Verhältnisse in seinen Rechner eingegeben: eine größere Region im Nordatlantik, also ohne störende Einflüsse durch Küsten oder Gebirge. Seine Beschreibung des „Wetters“ bestand aus drei Gleichungen, die Strömungs-Vorgänge und Wärmeleitungs-Prozesse beschrieben.

 

dx                                                       dy                                                   dz     8

---- = -10x +10y ;                                 ---- = 28x –y –xz ;                           ---- =  --- z + xy

dt                                                        dt                                                    dt     3

 

x, y und z stehen dabei für Umweltparameter, man könnte sich also grob z.B. Messgrößen für Temperatur, Luftfeuch­tigkeit oder Windgeschwindigkeit vorstellen. dt gibt die Veränderungen im Zeitablauf an. Das Ganze sieht recht über­sichtlich aus, sollte mathematisch gut lösbar sein, und so war auch Lorenz guten Mutes, als er den Computer startete. Sein Computer arbeitete 1963 noch sehr langsam (17 Rechenschritte pro Sekunde), sodass Stunden vergingen, in denen der Tintenschreiber langsam eine Kurve für das berechnete „Wetter“ aufzeichnete (siehe die ausgezogene Kurve in der folgenden Abbildung).

Der Computer hatte bereits zwei Tage gerechnet, als eine unge­plante Unterbrechung eintrat: Die Tinte in der Kapillare, mit der die Kurve gezeichnet wurde, ging zu Ende. Lorenz brach den Re­chenvorgang ab und füllte Tinte nach. Um nicht zwei Tage zu ver­lieren, ging er ein kleines Stück in seinen Rechenergebnissen zu­rück und setzte den Tintenschreiber auf die bereits gemalte Kurve aus dem ersten Rechengang auf. Er erwartete, dass der Verlauf des „Wetters“ zunächst der bekannten Linie folgen würde und die Rechnung dann problemlos weitergeführt werden könnte. Aber nach kurzer Zeit zeichnete der Computer einen ganz anderen „Wetter“-Verlauf (siehe gepunktete Kurve). Bildlich gesprochen: Wo in der ersten Runde die Sonne geschienen hatte, regnete es nun.

Lorenz fand bald den Grund für diese Abweichung. Er hatte die Ergebnisse seiner Berechnungen zwar immer auf 6 Stellen genau zur Verfügung, hatte aber für den Start zur zweiten Rechenrunde den exakten Wert (0,506127) nach den üblichen Rechenregeln auf 3 Stellen gerundet (0,506) und die neue Rechnung mit diesem Wert begonnen. Diese minimale Abweichung führte zu den beobachteten dramatischen Abweichungen beim berechneten Wetterverlauf! Lo­renz untersuchte den Effekt systematisch und stellte fest, dass dieses „Chaos“ in seiner Rechnung auch mit genaue­ren Daten nicht grundsätzlich zu beheben wäre, sondern an der Art der verwendeten mathematischen Gleichungen lag (und damit an der Komplexität des Gegenstandes „Wetter“, bei dem in Wirklichkeit ja noch weit mehr als drei Ein­flussgrößen „mitspielen“).

Lorenz wird auch das Wort-Bild vom so genannten „Schmetterlingseffekt“ zuge­schrieben. Damit soll deutlich gemacht werden, dass es sein kann, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings (also eine kleine, ganz unscheinbare Ursa­che) in Boston oder anderswo auf der Welt der Grund dafür sein kann, dass zwei Wochen später und tausend Kilometer entfernt in der Karibik ein Wirbel­sturm losrast. Das Bild sollte nicht über-deutet werden: Eine solche Wetter-Än­derung kann (ausgelöst durch kleinste Einflussgrößen wie den Flügelschlag ei­nes Schmetterlings) in Einzelfällen eintreten. Aber nicht immer sind Schmetter­linge verantwortlich für Wetterkapriolen, und Ursache wäre auch dann nicht der einzelne Schmetterling, sondern eine instabile Wetterlage – das Wetter weiß gewissermaßen selbst noch nicht, wohin es sich entwickeln wird, es gibt ver­schiedene Möglichkeiten, und ein kleiner Anstoß reicht, um die endgültige Richtung festzulegen.

Die Einsichten von Edward Lorenz waren eine schmerzliche Erfahrung für Wet­terforscher (bereits eine 7-Tages-Prognose gilt heute als sehr gewagt) und sie haben längst ihren Niederschlag in der täglichen Praxis der Wetterprognose gefunden.

 

„Schon wenn wir über das Wetter reden, verändern wir es.“

(Cecil Leith, Wetterforscher, University of California)

 

Die Wetterprognosen für Europa (die wir z.B. in der 20-Uhr-Tagesschau zu sehen bekommen) werden in Reading in England zentral erstellt. Dort werden zunächst alle verfügbaren Daten für die Entwicklung des Wettergeschehens in den letzten 24 Stunden erfasst, mit ähnlichen Wetterlagen aus der Vergangenheit verglichen und dann werden die Daten in mathematischen Gleichungen zum „Wetter von Morgen“ verarbeitet (der Computer arbeitet mit 1 Milliarde Rechenschritten pro Sekunde). Aus dieser Rechnung ergibt sich aber zunächst nur das „Standard-Wetter“. Die erste Rechnung wird nämlich anschließend auf den Prüfstand gestellt. In etwa 30 geringfügig abweichenden Varianten (die in die Rechnungen eingehenden Werte für Temperaturen, Luftdruck usw. werden gezielt verändert) wird getestet, ob das berechnete „Wetter“ robust reagiert und sich immer in etwa gleich darstellt, oder ob sich (vielleicht auch nur regio­nal) empfindliche Bereiche zeigen, die zum Chaos neigen, in denen also völlig unterschiedliche Rechenergebnisse auftreten. Wir erfahren dann auf der abendlichen Wetterkarte nur etwas zu einigermaßen „sicheren“ Regionen und Wetterereignissen. In den meisten Fällen ist heute trotz Chaosphänomenen eine mehrtägige Wetterprognose möglich, weil stabile Wetterlagen vorliegen. Man weiß aber inzwischen, dass so genannte „Chaos-Hotspots“ ständig um die Erde wandern, die etwa 20 Prozent der Erdoberfläche erfassen – und in den davon gerade betroffenen Regionen gestaltet sich die Arbeit von Meteorologen „chaotisch“.

 

Wettermodelle und Wettervorhersage

Um Berechnungen zum Wettergeschehen durchzuführen, wird die Erdatmosphäre in einzelne Zellen auf­geteilt. Ein Gitternetz zergliedert die Atmosphäre z.B. in 31 Schichten bis 35 Kilometer Höhe, der hori­zontale Abstand der Gitterpunkte beträgt 60 Kilometer (das ergibt etwa 60 Millionen Gitterpunkte). An den einzelnen Eckpunkten werden die physikalischen Größen gemessen (oder aus den Daten benachbarter Punkte abgeschätzt), in ihrer Veränderungsdynamik untersucht, und sie gehen als Ausgangsgrößen in die Modell-Berechnungen zur weiteren Entwicklung des Wetters ein. In Zeit-Intervallen von 15-Minuten-Schritten ergibt sich dann (nach 6 Stunden Rechenzeit in einem Hochleistungscomputer) z.B. eine 15-Tages-Prognose.

Über Jahrzehnte ist das Messnetz immer mehr verfeinert worden, die Rechenmodelle wurden ständig verbessert, immer schnellere Computer kamen zum Einsatz. Trotzdem bleiben Prognosen unsicher. Bei bestimmten Wetterlagen reicht eine kleine Änderung einer Größe, etwa der Temperatur, aus, um das Re­chenergebnis von 6 Stunden komplett auf den Kopf zu stellen. Wenn man die Messgenauigkeit der Wet­terparameter um den Faktor 10 verbessert, erweitert sich der Zeitraum einer verlässlichen Vorhersage um nur 1 Tag. Wenn man nochmals um den Faktor 10 genauere Ausgangsdaten zur Verfügung hat, wird wieder nur 1 Tag für genaue Vorhersage gewonnen.
Bei einer 7-Tages-Prognose geht man heute davon aus, dass in 30% der Fälle eine Situation vorliegt, die genaue Vorhersagen unmöglich macht. Und bei einer 15-Tages-Prognose ist meist bereits alles dem Zufall überlassen.

 

Die Wissenschaft entdeckt das Chaos

 

Wissenschaftler waren von den Entdeckungen der Chaosforschung doch überrascht. Sie lernten: Es gibt bei der ma­thematischen Beschreibung der Natur empfindliche Bereiche, in denen CHAOS auftreten kann. Die mathematische Definition für „Chaos“ benennt das „empfindliche“ Verhalten von Gleichungen, mit denen wir die Natur beschreiben. Bei geringfügigen Veränderungen in den Ausgangsbedingungen kann sich ein System völlig unterschiedlich entwi­ckeln. Es gibt – zunächst nur abstrakt in der Rechnung, aber wohl auch in der damit beschriebenen Wirklichkeit – manchmal „mehrere Zukünfte“ ...

Das Ende der Vorhersagbarkeit?
Ähnliche Ursachen haben zwar oft ähnlich Wirkungen – wie etwa in dem „quadratischen Billard“ (siehe linke Abbildung). Schon im „Si­nai-Billard“ aber, wo die Kugeln gegen einen inneren Kreis stoßen, haben ähnliche Ursa­chen ganz verschiedene Wirkungen. Selbst Anfangswerte, die sich nur um wenige Atom­durchmesser voneinander unterscheiden, sind nach rund einem Dutzend Stößen schon total verschieden.
(aus: Breuer: Der Flügelschlag eines Schmet­terlings, 1993 S.81)

 

 

 

 

 

 

 

Chaos gibt es heute nicht nur bei Wetterprognosen; Chaos wird inzwischen auch an an­derer Stelle im Alltag entdeckt. Wasserhähne tropfen chaotisch (wenn man einen Was­serhahn langsam aufdreht, fallen erst einzelne Tropfen in definiertem Abstand, dann je­weils zwei Tropfen paarweise, später Gruppen von vier Tropfen usw. – bis schließlich Turbulenzen eintreten und das Ganze sich chaotisch darstellt). Selbst einfache mechani­sche Pendel sind nicht exakt berechenbar in ihrem Verhalten (wenn z.B. auf einer starren Pendelstange ein Gelenk angebracht wird, das den Drehpunkt für ein zweites Pendel darstellt).

 

Zeigt sich hier vielleicht nur die Bestätigung alter Volksweisheiten, wenn Sprichworte sa­gen: Kleine Ursachen haben große Wirkungen. Oder: Der Teufel steckt im Detail.

 

 

 

 

4.3. Wie entwickelt sich ein Mäusevolk auf einer Wiese?

 

Im folgenden geht es um ein „praktisches“ Beispiel aus der Arbeit eines Ökologen. Ein Biologe möchte berechnen, wie viele Mäuse in den nächsten Jahren auf einer Wiese leben werden. Er macht dabei Vorgaben, z.B. für die anfängliche Bevölkerungszahl, für die zur Verfügung stehende Fläche (Lebensraum, Nahrungsangebot), für Feinde (Raubtiere wie Füchse und Eulen, Krankheiten). Für die gewünschte Berechnung (Entwicklung der Bevölkerungszahl) gibt es eine vielfach erprobte Formel (die so genannte „logistische Gleichung). Die logistische Gleichung verknüpft einen alten Zustand yn (zum Zeitpunkt n) mit einem neuen Zustand yn+1 (eine Rechen-Runde später).

 

Die Überraschung, die in einer Gleichung steckt ...

Ziel: Berechnung der Entwicklung einer Tier-Bevölkerung;
bewährtes Mittel zur Beschreibung der Wirklichkeit: die so genannte „logistische Gleichung“:

yn+1 = a x yn (1 - yn)  

Die Gleichung ist nicht linear – nach Auflösen der Klammer entdeckt man den quadratischen Anteil:
yn+1 = a x yn - a x yn2

yn           = Bevölkerungszahl am Anfang (0 ... y ... 1)
yn+1         = Bevölkerungszahl in der nächsten Generation
a            = Wachstumsfaktor (abh. von der Zahl der überlebenden Nachkommen pro Generation; a>1)
n            = Zahl der abgelaufenen Generationen (1; 2; ...

 

Diese Formel ist ein Beispiel für die mathematische Beschreibung von Naturvorgängen. In derartigen Gleichungen versucht die Naturwissenschaft zu erfassen, was sich ausdehnt, bewegt, fortpflanzt, aufeinander Jagd macht -
also Ameisenvölker, Galaxien, das Wachstum eines Embryos, das nukleare Feuer einer explodierenden Atombombe. Die mathematische Beschreibung solcher Systeme zeigt oft zwei Besonderheiten. Zum einen tauchen in den Glei­chungen oft Potenzfunktionen auf (also nicht nur ein Glied x, sondern x2 oder x3). Zum zweiten hat man es häufig mit Rückkopplungen zu tun; hier geht das Ergebnis eines Rechenschrittes als Ausgangsgröße in die nächste Rechnung ein usw. usw. Wenn man beispielsweise Schätzungen für die Weltbevölkerung in 50 Jahren abgeben will, wird die derzeitige bekannte Zahl von Menschen mit dem Vermehrungsfaktor multipliziert, der berücksichtigt, um wie viel Pro­zent derzeit die Bevölkerung pro Jahr zunimmt, das Rechenergebnis für das Jahr 1 wird in die gleiche Formel als Ausgangsgröße zur Berechnung des Jahres 2 eingesetzt usw.).

Die logistische Gleichung eignet sich, um die Schwankungen von Tierpopulationen (Bevölkerungszahl in einem Lebens­raum) zu beschreiben. Der Biologe benutzt also diese vielfach erprobte und bewährte Formel, um die Zahl der Mäuse auf seiner gedachten Wiese für die nächsten Generationen vor­herzusagen. Er setzt nun Zahlen ein (n = Zahl der Zyk­len/Generationen; a = Wachstumsfaktor, der die Bilanz aus Geburten und Sterbefällen berücksichtigt; y = Zahl der Mäuse in der Population). In der vorstehenden Grafik ist in der obersten Kurve ein erstes Ergebnis dargestellt (a wurde mit 1,5 eingesetzt, y mit 0,3). In den ersten Generationen nimmt die Zahl der Mäuse zu, bis Nahrungsangebot und Feinde ein weiteres Wachstum begrenzen; es stellt sich langfristig eine stabile Bevölkerungszahl ein.

Nun verändert der Forscher an seinem Computer eine Größe, den Wachstumsfaktor a. Dieser wird gesteigert (bildlich ge­sprochen bekommen die Mäuse häufiger Nachwuchs). Auch diesmal (siehe zweite Kurve von oben) nimmt die Bevölke­rung anfangs zu, dann schwankt die Zahl der Mäuse einige Generationen lang, bis sich auch hier ein Gleichgewicht ein­stellt. Auch eine solche Bevölkerungs-Entwicklung ist gut vor­stellbar.

Bei einer geringfügigen weiteren Erhöhung der Größe a (von 2,9 auf 3,0) ergibt sich ein neues Bild (siehe dritte Kurve). Nach anfänglicher Zunahme beginnt die Bevölkerungszahl rhythmisch zu schwanken, sie springt zwischen zwei konkre­ten Werten hin und her. Auch für ein solches Verhalten ließen sich in der Natur noch vergleichbare Vorgänge finden. Mai­käferpopulationen z.B. brauchen in unseren Breiten vier Jahre bis zur Entwicklung einer fortpflanzungsfähigen Generation; daher kommt es hier zu Schwankungen der Bevölkerungszahl im vierjährigen Rhythmus.

Wenn der Wachstumsfaktor weiter gesteigert wird (siehe untere Kurve), zeigt die Bevölkerungsentwicklung keine er­kennbare Regel mehr, und die Zahlen schwanken wirklich völlig chaotisch. Hier ist auf der gedachten „Spiel-Wiese“ offensichtlich ein Zustand erreicht, der keinen einfachen Regeln mehr gehorcht und aus dem Ruder laufen könnte („Bevölkerungs-Explosion“). Dass hier das Chaos regiert, zeigt sich auch am nächsten Bild. Hier ist zunächst die un­tere Kurve des vorhergehenden Bildes aufgenommen (durchgezogen gezeichnet). Dort war konkret mit a = 3,8 und y0 = 0,3 gerechnet worden (y0 = Bevölkerungszahl zum Start; vorstellen könnte man sich z.B. 300.000 Mäuse).

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Jetzt wird die Bevölkerungszahl als Eingangsgröße ganz geringfügig verändert, von 0,300000 auf 0,300002 (statt 300.000 Mäuse sind es nun zu Anfang 2 mehr). Die sich nun ergebende zweite Kurve (gepunktet dargestellt) zeigt, dass in den ersten Generationen die Entwicklung ähnlich verläuft wie in der ersten Rechnung. Dann aber ergibt sich ein völlig anderer Kurvenverlauf. Irreguläres Chaos! Selbst wenn die Abweichungen der Ausgangs­werte für y bei nur 0,0000000001 liegen, ergeben sich deutlich veränderte Abläufe.

Das Ergebnis bedeutet nun aber nicht, dass die verwen­dete Formel völlig unbrauchbar wäre. Sie ist weiterhin geeignet, um den Vorgang „Bevölkerungswachstum“ in natürlichen Systemen zu beschreiben. Aber der Bereich ihrer Gültigkeit wird eingeschränkt. Es kann also sein, dass eine mathematische Beschreibung einen Naturvorgang unter bestimmten Randbedingungen sinnvoll erfasst, und dass wir plötzlich (und nicht vorhersehbar) bei sehr kleinen Veränderungen, beim nächsten Schritt unversehens im Chaos landen.

Die Lehre für die Naturwissenschaft heißt hier. Unsere Rechenmodelle von der Welt gelten nicht immer und überall. Manchmal kann die Naturwissenschaft nur noch (durch Probieren) ausloten, für welche Bereiche der Wirklichkeit ihre Formeln sinnvolle Beschreibungen liefern – und wo die Berechnungen im Chaos enden. Exakte, eindeutige Berech­nungen und Prognosen sind nicht (mehr) immer möglich.

 

 

 

5. Versuch einer Zusammenfassung

 

Nicht überall ist CHAOS ...
1. Auch im neuen Weltbild gilt:
Die Naturgesetze bleiben in Geltung, die Welt verhält sich deterministisch.
2. ABER:
Manchmal ist die Welt, sind Systeme mathematisch nicht eindeutig in ihrem zukünftigen Verhalten zu be­rechnen.
Das gilt besonders
+ für komplexe Systeme
+ für instabile Grenzbereiche und Übergangs-Zustände
+ wenn Entwicklungen sich über lange Zeiträume erstrecken.

 

Die Chaosforschung zeigt an einem neuen Beispiel, dass es Grenzen der Naturwissenschaft gibt. Sie macht aber Naturwissenschaft und die Beschäftigung mit ihren Einsichten nicht etwa überflüssig!

Die Naturgesetze gelten weiter. Die Welt hält sich in weiten Teilen an die von Menschen enträtselten „Spielregeln“ (vielfach zuverlässig funktionierende Technik mag hier als Beweis dienen). Die Weltsicht der klassischen Naturwis­senschaft ist nicht falsch, aber sie ist ergänzungsbedürftig:
Wenn wir heute Anlass haben, über CHAOS in unserer Welt zu reden, bedeutet das nicht absolutes Unwissen, son­dern lediglich eingeschränktes Wissen. Die Welt bleibt deterministisch. In der Rückschau ist jeder Naturvorgang schlüssig zu erklären. Aber die Prognosen, die Vorhersagen für das zukünftige Verhalten, sind nicht immer eindeutig. Auch „chaotische“ Systeme sind zwar noch im Prinzip berechenbar, weil sie strikten und allgemeinen Gesetzen ge­horchen („deterministisch“). Sie sind aber faktisch nicht berechenbar, da dies eine beliebig genaue Bestimmung aller einwirkenden Ausgangsbedingungen voraussetzen würde – das ist aber nicht zu verwirklichen und führt zu „chaoti­schen“ Prognosen.

Das gilt besonders für

  • komplexe Systeme (die NW versucht im Idealfall, alle äußeren störenden Einflüsse auszublenden; wir mer­ken: manchmal funkt uns der „Rest des Universums“ doch dazwischen!)
  • instabile Grenzbereiche und Übergangssituationen (ein System steht gewissermaßen auf der Kippe, es kann sich in der einen Richtung oder auch in einer ganz anderen weiter entwickeln, hier kann ein unmerklich kleiner Anstoß den Ausschlag geben)
  • Entwicklungen, die sich über lange Zeiträume erstrecken.

Die grundsätzlichen Einsichten der Chaosforschung sind längst auch in Schullehrbüchern gelandet.

„Trotz aller Berechenbarkeit bleibt immer ein Rest Offenheit, Freiheit ... aber auch Unsicherheit und Unwissenheit“

(Physiklehrbuch Oberstufe Westermann S.133)

 

Man liest erstaunt in einem naturwissenschaftlichen Lehrbuch „unwissenschaftliche“ Begriffe. Da ist von Unsicher­heit, Freiheit, Offenheit die Rede.

 

Einsichten der CHAOS-Forschung -
Anlass zum Nachdenken über unsere Bilder von der Welt

+ Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaft
  
(Erinnerung an die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit, Mahnung zur Bescheidenheit)
+ Weltverständnis des Menschen im 21. Jahrhundert
  
(die Welt ist für uns nicht umfassend zu verstehen,
   beim Eingreifen in die Welt können wir nicht alle Wirkungen mit 100%iger Sicherheit abschätzen,
   die Zukunft der Welt ist offen: für Überraschungen und zur Gestaltung)
+ Bedeutung für mein Gottesverständnis?
  
(Finde ich Geborgenheit in der Welt eines „Uhrmacher-Gottes“, deren Lauf festgelegt ist, oder Freiheit und Unsicherheit zugleich in einer Schöpfung, die eine offene Zukunft hat?)

 

Die Einsichten der Chaosforschung haben relativ wenig direkten Bezug zu unserem Alltag.
Es geht mehr um philosophische Auswirkungen, dabei aber kommen sehr grundsätzliche Fragen in den Blick.

A) Haben die Entdeckungen der Chaosforschung Auswirkungen auf das Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaft?
Der Mensch wird an die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit erinnert, zur Bescheidenheit gemahnt.
Die Naturwissenschaft ist nicht für die gesamte Wirklichkeit dieser Welt zuständig. Sie kann nicht alles genau be­schreiben, erkennen und erklären. Naturwissenschaft ist nicht allmächtig. Und sie findet nicht zu endgültigen Wahr­heiten. Ihre Erkenntnisse sind immer vorläufig und verbesserungsbedürftig. Und genau eine solche Korrektur passiert jetzt. Die Naturwissenschaft selbst ist auf die CHAOS-Phänomene gestoßen. Und nun muss sie ihre Grenzen, ihre Zuständigkeit neu definieren.

B) Was bedeuten die Entdeckungen der Chaosforschung für das Weltverständnis des modernen Menschen?
Nicht alles in der Welt ist für uns Menschen eindeutig erkennbar. Wir können in die Welt nicht immer zielgenau ein­greifen, um sie zu beherrschen. Manches kriegen wir nicht in den Griff, oder es gibt unerwartete „Risiken und Neben­wirkungen“. Das mahnt zur Vorsicht bei der technischen Umgestaltung der Welt. Vielleicht haben uns die Erfahrungen mit dem Ozonloch oder einem möglichen Klimawandel (Treibhauseffekt) nachdenklich gemacht.
Diese Unsicherheiten haben auch einen positiven Aspekt: Die Zukunft der Welt ist grundsätzlich (noch) nicht festge­legt, sie ist offen. Das heißt aber: wir müssen und wir dürfen immer auf Überraschungen gefasst sein. Und die Welt ist auch offen zur Gestaltung durch uns Menschen. Auch kleine Schritte können den Lauf der Welt verändern („Schmet­terlinge sein“).

C) Haben die Einsichten der Chaosforschung Bedeutung auch für meinen Glauben?
Was bedeuten die Einsichten der Chaosforschung für mich als Christ? Welche Fragen werfen sie auf, für meinen Glauben, für mein Gottesbild, für mein Gottesverständnis?
Hier ist zur Vorsicht zu mahnen. Der Glaube muss nicht jeder modernen Strömung des Zeitgeistes stürmisch um den Hals fallen. Die Gefahr einer zu schnellen Anpassung deutet sich z.B. an, wenn das Deutsche Pfarrerblatt von einer „Chaos-Theologie“ berichtet, einem „nichtlinear handelnden Gott“.
Es sei daran erinnert, dass Einstein (damals angesichts der Erkenntnisse der Quantenphysik) gesagt hat: GOTT WÜRFELT NICHT! Ist das nun anders, würfelt Gott doch?
Was habe ich für ein Bild von Gott?
Erlebe ich Gott als den großen Uhrmacher, als Schöpfer eines Uhrwerks, einer Welt, in der alles vorherbestimmt ist? Empfinde ich in einer so verstandenen Schöpfung tiefe Geborgenheit, weil alles von Gott gewollt und gewirkt ist („Er hält die ganze Welt in seiner Hand“). Bin ich dankbar, von meinem ersten Atemzug bis zu meinem Tod von Gott geführt und getragen zu werden, ihn für jeden Schritt in meinem Leben verantwortlich zu wissen? Aber ist Gott dann nicht letztlich auch für mein Fehlverhalten verantwortlich? Erweist sich in einem solchen Gottesver­ständnis meine Willens-Freiheit, die Fähigkeit, Entscheidungen für mein Leben zu treffen, letztlich doch als Illusion? Bin ich eine Marionette?

Oder ist das meine Vorstellung, meine Erfahrung mit Gott: dass er seiner Welt und seinen Geschöpfen wirkliche Freiheit gibt, dass die Welt, die Schöpfung, mein Leben eine offene Zukunft haben? Das aber wäre ein Gott, der ein Stück weit auf seine Allmacht verzichtet. Geht seine Zurückhaltung so weit, dass er den Menschen zugesteht, eigene Wege zu suchen und zu gehen, auch wenn sie der Weg von Gott wegführt, wenn sie ihr Leben verfehlen? Ich denke hier an das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11ff.): Der Vater (Gott) schenkt seinem Sohn volle Freiheit, lässt in die Welt gehen, auf seinem eige­nen Weg. Und der Sohn scheitert. Dass er danach zu seinem Vater zurückkehrt - das ist ein möglicher Ausgang der Geschichte; das Scheitern hätte auch endgültig sein können. Der Vater ist nur glaubwürdig, wenn er es mit der ge­schenkten Freiheit wirklich ernst gemeint hat, den weiteren Gang der Geschichte nicht kennt, nicht eingreift, jeden Ausgang zu akzeptieren bereit ist. Begegnet uns hier ein Gott, der seinen Geschöpfen wirkliche Freiheit gibt, der sich überraschen lässt?

In einem solchen Gottesverständnis ergäbe sich auch eine Aufgabe für uns. Wir dürfen die uns von Gott geschenkten Begabungen nutzen, wir dürfen die Welt entdecken und gestalten, wir können Entscheidungen treffen, wohin wir un­sere Schritte richten wollen, aber dann haben wir auch Verantwortung zu tragen für die Konsequenzen unseres Tuns und sollten nicht zu schnell nach dem allmächtigen Gott rufen.

 

Wie geht es mir mit den Anfragen aus der Chaosforschung – als Mensch im 21. Jahrhundert, als Naturwissenschaft­ler, oder im Nachdenken über mein Gottesbild ?

 

6. Warnung vor Chaos-Kult und Scharlatanen

 

Liefert die Chaosforschung nun endlich die eine, alles umfassende Welt-Erklärung?

Ein gläubiges Publikum nötigt manche Forscher, in ihre Erkenntnisse viel mehr hineinzudeuten, als sie wirklich wissen (können).

Da wird in der Deutung von Chaosphänomenen oft grob vereinfacht oder fahrläs­sig verallgemeinert.
Scharlatane treten auf, die zwar nichts von Chaosforschung, aber viel von ihrer Vermarktung verstehen.
Darf man die Muster, die sich aus dem Verhalten von Atomen, Hefezellen, ma­thematischen Gleichungen ableiten, ungeniert übertragen auf die menschliche Gesellschaft und ihre Kultur, auf die Dynamik von Konzernen, Märkten und Mo­den?
Und wenn das geschieht, begegnen wir hier nicht neuen Alleinvertretungsansprü­chen? Da legt sich schnell der Verdacht nahe, dass wir es mit Ideologie zu tun haben könnten (Ideologie liegt immer dann vor, wenn jemand den Anspruch erhebt, allein im Besitz von nicht mehr hinterfragbaren Antworten und endgültigen Wahrheiten zu sein).
Einige merkwürdige Beispiele seien genannt:

·         Ein Firmenboss streut in der Mitarbeiterversammlung chaosstiftende Mitteilungen (die Konkurrenz hat den Durch­bruch geschafft; die Märkte kommen ins Trudeln ...), um durch die Verwirrung vielleicht schöpferische Kreativität freizusetzen.

·         Ein japanischer Druck aus dem 18. Jahrhundert wird – wegen seiner Ähnlichkeit mit modernen Computergrafi­ken aus der Chaosforschung - als visionäre Vorausahnung und Ausdruck der großen Einheit der Welt gedeu­tet (siehe Abbildung).

·         Ein Musiker lässt sich zu einer „fraktalen Seepferdchen-Etude für Klavier“ inspirieren.

·         Zeitgenössische Gedichte werden auf „Chaos-Rhythmen“ untersucht.

·         Auch Ideologen der „reinen“ Marktwirtschaft berufen sich auf Chaos-Forschung („nur ja keine ökologisch oder so­zial steuernden Eingriffe – da ist nur Chaos zu erwarten – lasst das freie Spiel der Marktkräfte zu, sie finden ihren Weg“)

 

Und da ist noch der schöne Schein der Bilder vom Chaos.

Sie werden oft in einem Atemzug mit der Chaosforschung genannt. Bei diesen Bil­dern geht es um fraktale Geometrie, um Selbst-Ähnlichkeit. Verwandte Muster wer­den entdeckt, die überall in der Mikro- und Makrowelt ähnlich zu finden sind. Die Verteilung der Sahne im Kaffee erinnert an das Bild einer Galaxie. Verzweigungen von Blitzen, Ästen, Wurzeln, Nervensystemen sehen aus wie manche Grafiken, die ein Computer generiert hat. Die Muster von Blüten erinnern an Chaos-Fraktale.

Wird hier eine neugefundene Harmonie im Kosmos immer wieder bestätigt?

Fraktale und Chaos werden oft in einem Atemzug genannt, obgleich sie völlig Un­terschiedliches bezeichnen und nicht ohne geistige Anstrengung in Verbindung zu bringen sind: CHAOTISCH ist ein PROZESS hinsichtlich seiner DYNAMIK. FRAK­TAL ist ein OBJEKT hinsichtlich seiner GEOMETRIE.

Durch die Bilder aus dem Computer wird eine verlockende Brücke wird hergestellt zwischen rationaler wissenschaftlicher Einsicht und emotionalem Empfinden. Chaos und Ordnung erscheinen ästhetisch schön und harmonisch miteinander verknüpft. Und mitten im Chaos er­scheint zuverlässig und faszinierend das so genannte "Apfelmännchen".

 

 

Das „Apfelmännchen“
Ebene der komplexen Zahlen (Wurzel aus -1 = i mit dabei),
Gleichungen nach Muster zn+1 = zn2 + c,
Lösungen werden eingefärbt:
a) endliche Lösungen = schwarz
b) unendliche Lösungen: farbig unterschiedliche Tönung je nach Zeit-Dauer bis zur „Entscheidung" des Computers
c) im Grenzbereich: Chaos

 

 

Das Sehen ist einer der wichtigsten Sinne des Menschen (Menschen sind so auch „steuerbar“, z.B. durch emotionale Färbungen). Wir Menschen versuchen immer, bei gezeigten Bildern uns bekannte Dinge aus Natur oder Technik zu assoziieren. Einer der Gründungsväter der Chaos-Forschung in den 1980er Jahren, der Bremer Mathematiker Peit­gen, erzählte, dass, als er in den 60er Jahren Mathematik studierte, Visualisierungen (bildliche Darstellungen) mathe­matischer Sachverhalte streng verpönt waren, da sie immer auch Anlass zu (Miss-)Inter­pretationen geben können. Ein „Bilder­verbot“ für Mathematiker?

Kritische Spötter meinen, dass der wissenschaftliche Erklärungswert der Computer-Grafiken etwa so groß ist, als wenn wir Tapetenmuster vor uns hätten ...

 

 

Die zuletzt gemachten Einschränkungen waren zur Abrundung des Themas nötig.

Damit soll aber nicht alles in Frage gestellt werden, was ernst­hafte Chaosfor­schung bisher entdeckt hat.
Was bleibt, ist Nachdenklichkeit: die Welt ist doch wohl anders, als wir noch vor wenigen Jahren glaubten!

 

 

 „ZUFALL ist das unberechenbare Geschehen, das sich unserer Vernunft und Absicht entzieht.“                                  (Gebrüder Grimm, Deutsches Wörterbuch)

 

 

6. Anhang

 

6.1. Klassischer Determinismus und Grenzen der Ordnungssuche
(aus: Gerhard Vollmer, UNIVERSITAS 8/1991 S.768f.)

 

Klassischer Determinismus

 

Das klassische Ideal einer erfolgreichen Ordnungssuche stellt der Laplacesche Dämon dar:

„Ein Geist, der (für einen Augenblick alle Kräfte kennte, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage aller Wesenheiten, aus denen die Welt besteht, müßte, wenn er zudem umfassend genug wäre, um alle diese Angaben der (mathematischen) Analyse zu unterwerfen, in derselben Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die der leichtesten Atome überblicken. Nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wären seinen Augen gegenwärtig.“

Laplace behauptet also, daß unter gewissen Bedingungen die ganze Welt berechenbar wäre. Es ist lehrreich, sich die Voraussetzungen und die Konsequenzen dieses epistemischen Ideals klarzumachen. Dies versuchen wir in der Ta­belle.

In dieser Darstellung wird vom Prinzip der schwachen Kausalität Gebrauch gemacht: Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen. Die klassische Physik hat stillschweigend ein weit stärkeres Prinzip zugrundegelegt, das Prinzip der „star­ken" Kausalität: Ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen. Danach wirken sich kleine Abweichungen in den An­fangsbedingungen auch auf die späteren Zustände des betrachteten Systems nur geringfügig aus; kleine Ursachen haben nicht beliebig oder unvorhersagbar große Wirkungen. Laplace hat dieses Prinzip nicht formuliert; wir dürfen aber annehmen, daß er es, wie die spätere Physik auch, uneingeschränkt bejaht hätte. Bei den Prämissen in der Ta­belle entfällt dann die Forderung der absoluten Genauigkeit, und deshalb dürfen dann auch die Rechenergebnisse entsprechende, d. h. mit den anfänglichen Abweichungen vergleichbare Ungenauigkeiten aufweisen.

 

Tabelle: Voraussetzungen und Konsequenzen des klassischen Determinismus

 

WENN die Welt
+ deterministisch wäre und

+ ausschließlich aus (untereinander wechselwirkenden) Teilchen bestünde,

wenn die Newtonsche Bewegungsgleichung m • b = K uneingeschränkt gültig wäre,

wenn wir

+ alle Naturgesetze, insbesondere alle Kraftgesetze, und

+ alle Rand- und Anfangsbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt (d. h. bei Gültigkeit der Newtonschen
   Gleichung die Orte und Geschwindigkeiten aller Teilchen)

+ mit absoluter Genauigkeit kennten und

wenn wir

+ alle diese Daten speichern,

+ mathematisch verarbeiten und

+ schnell genug

+ alle einschlägigen Gleichungen lösen könnten,

 

DANN wäre nicht nur der Lauf der Welt

+ in allen Einzelheiten

+ eindeutig bestimmt (gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen),

sondern dann könnten wir (oder wenigstens der Laplacesche Dämon oder ein gigantischer Supercomputer) sogar

+ alle Ereignisse

+ der Vergangenheit und der Zukunft rechnerisch ermitteln.

 

Grenzen der Ordnungssuche

 

Die Suche nach Ordnung und Struktur, nach Regelmäßigkeiten und Naturgesetzen, war, das lehrt die Wissenschafts­geschichte, recht erfolgreich. Aber eine Garantie, daß sie immer und überall zum Ziel führen werde oder gar müsse, gibt es nicht. Tatsächlich haben sich längst auch Grenzen dieses Ansatzes gezeigt. Sie liegen zum einen in der Ver­faßtheit der realen Welt, zum anderen in den Möglichkeiten (oder vielmehr in den Beschränkungen) des erkennenden Subjekts. Sieht man genau hin, so erweisen sich alle Prämissen des Laplaceschen Determinismus, soweit sie nicht sowieso nur epistemische Idealisierungen unbeschränkten Wissens und Könnens darstellen, als verfehlt. Dies kann hier allerdings nur noch durch eine Aufzählung belegt werden.

·         Die Welt ist nicht deterministisch. Nach der üblichen Deutung der Quantenphysik gibt es absoluten Zufall (und damit z.B. für den Zeitpunkt eines spontanen Kernzerfalls nicht nur keine Ursache, sondern auch und erst recht keine Erklärung).

·         Die Welt besteht nicht nur aus Teilchen; sie enthält auch Felder. Der klassische Determinismus läßt sich aller­dings auf (klassische) Felder übertragen, so daß die Entdeckung von Feldern im 19. Jahrhundert den Determinismus noch nicht ernsthaft gefährdete.

·         Die Newtonsche Bewegungsgleichung ist nicht universell anwendbar, insbesondere nicht auf Teilchen ohne Ru­hemasse, etwa auf Photonen.

·         (Ob wir alle Kraftgesetze kennen oder kennen könnten, darf offenbleiben; daß es so sei, hat ja auch Laplace nicht behauptet.)

·         Messungen können den Zustand eines Systems verändern (stören, in einer Weise, die weder vorhergesagt noch nachträglich bestimmt werden kann.

·         Ort und Impuls eines einzelnen Teilchens sind nicht nur nicht gleichzeitig beliebig genau meßbar; reale Sys­teme haben überhaupt nicht scharfen Ort und Impuls. Die Quantenphysik definiert den Zustand eines Teil­chens deshalb anders als die klassische Physik.

·         Absolute Genauigkeit einer  Messung würde bei einer kontinuierlichen Größe (wie Ort, Zeit, Geschwindigkeit) die empirische Bestimmung einer reellen Zahl, also von unendlich vielen Dezimalstellen bedeuten. Das ist nicht realisierbar.

·         Daß die Prämissen der umfassenden Datenspeicherung, Datenverarbeitung und Rechengeschwindigkeit für uns Menschen nicht erfüllbar sind, wußte natürlich auch Laplace; gerade deshalb hat er ja einen Geist mit übermenschlichen Fähigkeiten eingeführt. Jedoch durfte Laplace noch davon ausgehen, daß alle mathemati­schen Probleme durch angebbare Verfahren, also letztlich algorithmisch, gelöst werden können. Heute wissen wir, daß auch diese Annähme falsch ist. Für manche Probleme konnte gezeigt werden, daß es für sie keinen Lösungsalgorithmus geben kann. Außerdem ist für viele durchaus realistische Probleme ein Lösungsweg zwar bekannt; jedoch würde er selbst den ins Auge gefaßten kosmischen Supercomputer nachweislich  weit überfordern. Und einen eleganteren Lösungsweg gibt es dabei nicht; in einigen Fällen ist das bewiesen, in anderen ist es höchstwahrscheinlich.

·         Das Prinzip der starken Kausalität ist nicht erfüllt. Wie die Untersuchungen an chaotischen Systemen zeigen, können auch beliebig kleine Änderungen der Anfangsbedingungen immer noch zu unübersehbaren Abwei­chungen in späteren Zuständen führen. Bei solchen Systemen ist trotz ihrer deterministischen Struktur (also trotz schwacher Kausalität) keine zuverlässige langfristige Prognose möglich.

 

Es sind also drei Entwicklungen in der modernen Wissenschaft, die den Laplaceschen Dämon, den klassischen De­terminismus und damit die traditionelle Ordnungssuche ganz entscheidend in Frage stellen: Quantenphysik, Algorith­mentheorie (Metamathematik) und Chaos-Theorie.

 

6.2. Auswirkungen der Chaosforschung auf theologische Überlegungen?
(aus: Achtner, Wolfgang: Die Chaostheorie, EZW-Texte Nr. 135 (1997), S.42ff.)

 

A) Theologie des angelsächsischen Sprachraums
„Das theistische Gottesbild (in der Theologie des angelsächsischen Sprachraums weit verbreitet), verein­bar mit der biblischen Tradition des Handelns Gottes in der Geschichte, rechnet einerseits mit Eingriffen Gottes in die Natur, an­dererseits herrscht nach dem Siegeszug der Naturwissenschaft die Vorstellung, dass Naturgesetze den Ablauf des Geschehens in der Natur festlegen. Daraus ergibt sich das Problem, wie die Freiheit göttlichen Eingreifens mit dem Determinismus der Naturgesetze in Einklang gebracht werden kann. Im Prinzip gibt es zwei Lösungsmöglichkeiten ... Entweder Gott setzt die Naturgesetze für die Dauer seines Eingreifens außer Kraft, oder die Erklärung der Natur weist Lücken auf. Beide Optionen sind intellektuell unbefriedigend und wirken auch ein bisschen kleinlich, wenn sie Gott nur noch den Be­reich überlassen, den der Mensch noch nicht meistert („Lückenbüßergott“). Aus dem geschilderten Di­lemma scheint nun die moderne Physik einschließlich der Chaostheorie einen Ausweg zu bieten. Bereits die Un­schärferelation der Quantenmechanik besagt, dass es prinzipiell unmöglich ist, je zwei miteinander gekoppelte Grö­ßen, deren Produkt die Einheit einer Wirkung hat (Ort x Impuls; Drehimpuls x Winkel; Energie x Zeit), gleichzeitig be­liebig genau zu bestimmen. Wenn aber schon eine Größe nicht genau quantifiziert werden kann, dann kann auch ihre Wirkung nicht prognostiziert werden. Mithin scheint hier eine Lücke in der durchgehenden Determiniertheit der Natur vorzuliegen. Dieser Sachverhalt ermöglicht nun aber die Möglichkeit, eine Einwirkung Gottes in die Natur zu denken, ohne dass damit die Naturge­setz selbst außer Kraft gesetzt werden müssten. Auf eine solche, in der Schöpfung ge­wissermaßen vor­gesehene Lücke für die Interaktion Gottes mit der Welt, ist der Fragehorizont für die Rezeption der Cha­ostheorie im angelsächsischen Sprachraum ausgerichtet ...“

„... ziehen den Schluss, die theologische Bedeutung der Chaostheorie in der Wirksamkeit Gottes im Pro­zess in Über­einstimmung mit den Naturgesetzen in Anspruch zu nehmen ...“

„... Tendenz festzustellen, das starre theistische Gottesbild zugunsten einer stärkeren Betonung der Im­manenz Gottes aufzubrechen.“

„... interpretiert die Chaostheorie als holistische Theorie (whole-part), in der das Ganze den Teil beein­flusst (top-down-causality = von oben nach unten wirksame Kausalität). Gott ist dann derjenige, der den einzelnen Geschöpfen in An­lehnung an den physikalischen Begriff der Randbedingung existenzerschwe­rende Zwänge auferlegt, um sie zur Evo­lution (=Entwicklung, Veränderung) zu nötigen, ohne den Verlauf im einzelnen festzulegen. So bleibt Gottes Freiheit (und) die relative Autonomie der Geschöpfe gewahrt, ohne auf einen Einfluss Gottes verzichten zu müssen. Der holis­tische Charakter der Chaostheorie dient ... dabei als Metapher, Transzendenz und Immanenz Gottes zusammenzu­denken. ... nicht danach su­chen, Gottes Tat in der Welt zu verstehen, sondern versuchen, sich die Welt als Gottes Tat vorzustellen ...“

 

B) Rezeption im deutschen Sprachraum

(wenig Anknüpfungspunkte wegen kritischer Tradition gegenüber theistischer und natürlicher Theologie; Ansatzpunkte am Beispiel von A. Ganosczy:)

„... Das Chaotische ist keine eigenständige Gegenmacht, die von Gott erst wie in den außerbiblischen Mythen nieder­gekämpft werden muss. Vielmehr lässt Gott das Chaotische zu, verzichtet gewissermaßen auf seine instantane (= sich sofort auswirkende) linear kausale (= auf klare Ziele ausgerichtete) Allmacht des Schaffens und gestattet dem Geschaffenen einen Freiraum zur Selbstwerdung. Dieser Selbstwer­dungsprozess läuft keineswegs linear kausal ab, sondern durchläuft chaosähnliche Zwischenphasen, die eine durchaus auch konfliktträchtige cooperatio (= Zusam­menarbeit, Zusammenspiel) – gut katholisch - des Geschöpfs mit dem Schöpfer zulässt. Der Endpunkt des dieses dy­namischen Selbstwerdungspro­zesses ist dabei offen, weil Gott die Freiheit der Selbstwerdung bis hin zur Konsequenz des Scheiterns seiner Schöpfung belässt. Was früher einmal die von Gott gesteuerte Heilsgeschichte war, und sei sie in ihren Verschlingungen, Ab- und Umbrüchen,, Rückschlägen und Neueinsätzen als eine Heilsgeschichte noch so schwer erkennbar, wird nun zum offenen Prozess der Selbstwerdung der Schöpfung. Damit lau­tet Ganoczys ent­scheidendes theologisches Argument: Verzicht auf die Allmacht Gottes. ...“

(Kritik:) „... Es scheint, dass Ganoszy durch seine ... metaphorische Sprechweise den eigentlichen Witz der Chaosthe­orie, die Scheinparadoxie des deterministischen Chaos, nicht wirklich wahrnimmt. Wir sa­hen, dass man in der Cha­ostheorie streng unterscheiden muss zwischen Determinismus und Voraussag­barkeit. Alle Prozesse der Chaostheorie sind streng deterministisch, also klassisch, aber nur aufgrund der sich aufschaukelnden Rückkopplungsprozesse nicht voraussagbar. ... Wir haben mehrfach betont, dass die Chaostheorie eine klassische deterministische Theorie ist. D.h. die Vergangenheit determiniert die Zu­kunft im strengen Sinne, auch wenn die Zukunft nicht vorausgesagt werden kann und daher den An­schein erweckt, offen zu sein. Wir können diesen Sachverhalt auch so formulieren, dass wir sagen: Die Prozesse, die die Chaostheorie beschreibt, sind vergangenheitsorientiert. Diese Grundstruktur ist aber im biblischen Glaubensvollzug ... keineswegs gegeben. Im Gegenteil kann man sagen, dass der Glaubens­vollzug zu­kunftsorientiert ist. Um es noch schärfer zu sagen: Die Zukunft, die Verheißungen Gottes, bestimmen die Gegenwart, nicht die sich in Rückkopplungen akkumuliernde Vergangenheit.  ... Die Got­tesherrschaft ist keine innerweltlich evol­vierende (= sich entwickelnde) Größe, aber sie ist als eine nahe und dennoch zukünftige nichtsdestoweniger eine Wirkgröße, die die Gegenwart qualifizierend bestimmen kann für denjenigen, der sich glaubend darauf einlässt. Daher verknüpft Jesus in seiner Verkündigung die Ansage der Nähe der Gottesherrschaft mit dem Ruf zur Umkehr: >Die Zeit ist erfüllt und das Reich Got­tes ist nahe herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium (Mk 1,15)< Eine solche Zeit­struktur hat nun in der Tat nicht nur nicht den Charakter der Voraussagbarkeit, sondern auch nicht den Charakter des Determinismus. Und damit ist eine solche Zeitstruktur prinzipiell nicht im begrifflichen Rahmen der Chaostheorie aussagbar. ... Wenn die Chaostheorie im oben genannten Sinne vergangen­heitsorientiert ist, also mit der Zukunftsstruktur des Glaubens nicht kompatibel ist und umgekehrt auch für einen externen transzendenten Im­pulsgeber (= einen Schöpfer-Gott, der „außerhalb“ und „jenseits“ der natürlichen Welt steht) keinen Raum hat, fragt sich in der Tat, ob die Chaostheorie überhaupt einen theologischen Ort haben kann. ...“

(Neues aus der Chaosforschung für die Theologie?:) „... Interessant ist sicher der Gedanke, den zulas­senden, gewäh­renden Gott mit dem Gedanken der Selbstorganisation, d.h. der relativen Autonomie des geschöpflichen Seins in Ver­bindung zu bringen – etsi deus non daretur (= als ob es Gott nicht gäbe)! Schwierig wird es nur dann wieder, Gottes Interventionen (= Eingreifen) auszusagen, wenn man ihn nicht ganz im Werdeprozess aufgehen lassen will.“

(Rechtfertigungslehre:) „... da eine Erlösung im vollen Sinne in der Immanenz ... nicht möglich ist, bleibt der Mensch auf die fremde (= von außen kommende, nicht verdiente) Gerechtigkeit Gottes angewiesen. Aus dieser Perspektive erscheint auch die Rechtfertigungslehre als kritischer Faktor gegenüber einer zu vorschnellen Rezeption der Chaos­theorie in die christliche Anthropologie. ... Vom Standpunkt der Recht­fertigungslehre geht ... der Mensch religiös ge­sehen nicht in seinem Handeln auf, auch wenn sich seine Subjektivität und Individualität erst durch Handlungsvollzüge konstituiert. ...“

„Die Zukunft ist vor allem im Bereich menschlichen Planens, Gestaltens und Hoffens offen. Damit liegt in diesem menschlichen Bereich eine Zeitstruktur vor, die prinzipiell von der vergangenheitsorientierten Zeitstruktur der Chaos­theorie verschieden ist. ... im Vollzug menschlicher Zeitgestaltung determiniert die Zukunft die Gegenwart. Im religiö­sen Bereich manifestiert sich das in der Gestalt des Glaubens und der Hoffnung, im psychologischen Bereich in Ges­talt menschlicher Intentionalität, im ökonomisch-gesell­schaftlichen Bereich als Planung. Daher sollte man bei allen Anwendungen der Chaostheorie. die menschliches Planen und Handeln abzubilden vorgeben, äußerste Vorsicht walten lassen. ...“

 

7. Literatur:

 

Achtner, Wolfgang: Die Chaostheorie, EZW-Texte Nr. 135 (1997), Ev. Zentral­stelle für Weltanschauungsfragen, Auguststr. 80, 10117 Berlin

Bublath, Joachim: Chaos im Universum, Droemer München 2001

Breuer, Reinhard (Hrsg.): Der Flügelschlag des Schmetterlings, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1993

GEO Wissen, Chaos + Kreativität, Gruner und Jahr Hamburg 1990